Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen

Ein Murmeln ist noch im Publikum hörbar, als Tabea Steiner gemeinsam mit Moderatorin Gabrielle Alioth die grell violett beleuchtete Bühne betritt. Das Stadttheater ist an diesem sonnigen Samstagmorgen gut gefüllt. Die Lesung beginnt pünktlich, das überwiegend weisshaarige Publikum verstummt schlagartig. Gabrielle Alioth stellt Tabea Steiner vor, die aus ihrem Erstlingswerk Balg lesen wird. Sie beschreibt den Roman als gut komponiert, feinfühlig und als „Geschichte einer an sich selbst leidenden Gesellschaft“.

Dann beginnt Steiner zu lesen. Mit ihrer angenehmen Stimmfarbe und ihrer subtilen Erzählweise nimmt sie das Publikum mit in das Dorf, in dem der schwer erziehbare „Balg“ Timon aufwächst und erzogen werden soll. Sie liest in einem Zug, schaut ab und zu kurz ins Publikum, das keinen Ton von sich gibt. Nach einer ersten Leserunde kommt Gabrielle Alioth wieder an den Tisch, um Tabea Steiner einige Fragen zu ihrem Debüt zu stellen. Was für ein Verhältnis Steiner zu ihren Figuren habe und wie sich dieses entwickelt habe? Steiner beschreibt, dass sie ihre Figuren im Schreibprozess besser kennengelernt habe und diese eine Art Eigendynamik entwickelt hätten. Sie erzählt gerne von ihrem Protagonisten, Timon, der im Roman noch im Kindesalter ist und dessen Entwicklung man als Leserin über mehrere Jahre hinweg verfolgen kann. Wie es denn um das Dorf stehe, das im Roman beschrieben wird? Das Dorf kenne sie nicht, meint Steiner, es sei ihrer Fantasie entsprungen. Es habe ihr aber erlaubt, eine Art Kammerspiel zu erschaffen. Geschehnisse werden im Dorf konzentriert, Beziehungen müssen nicht erläutert werden, jede Figur hat irgendwie ihre Finger im Spiel. Im Dorf kennt man sich eben, viel mehr noch: Man beobachtet sich. Überall. Ständig. Ein brodelnder Kessel ohne Ventil, aus dem der Ausbruch unmöglich scheint. So schafft es auch Antonia, Timons Mutter, nicht, das Dorf zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen.

Dann liest Steiner erneut einige Passagen. Diesmal, als Timon im Kindesalter ist, Mädchen schlägt und sich wundert, warum diese ihn nicht zurückhauen. Das Publikum taut langsam auf, und als Timon meint, Mädchen seien „einfach immer nur blöd“, geht leises Gelächter durch die Reihen. Zuletzt geht es um Tiere und das Domestizieren. Tiere sind allgegenwärtig im Roman: Schweine, Hunde, Hasen, Füchse, Katzenwelpen. Domestiziert werden sollen aber nicht nur diese, sondern vor allem Timon, der Balg. Dies erweist sich als weitaus schwieriger als bei den Tieren.  Braucht es schlussendlich, wie Steiner ihr Buch ursprünglich gerne genannt hätte „ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“?

Text: Xenia Bojarski
Foto: Anouschka Mamie

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