Milena Moser im Land ihrer Söhne

Nachdem Milena Moser am Freitagmittag im SRF Tagesgespräch bereits über ihre neue Heimat und den Vergleich zur Schweiz gesprochen hatte, durften Michelle Holz und Laura Barberio am Nachmittag ein sehr persönliches Gespräch mit der Autorin führen. Sie besucht die Schweiz mittlerweile nur noch zwei Mal pro Jahr und arbeitet den Rest ihrer Zeit in Santa Fe an ihrem neuen Buch. Ein Zwiegespräch zweier Kulturen soll es werden und wird bei ihrem neuen Verlag Kein & Aber erscheinen. Mit uns sprach sie aber auch über die Entstehung von Land der Söhne.

Sie sind ja momentan hier zu Besuch in der Schweiz, wo Ihre Familie und ihre Kinder nach wie vor leben. Sind sie hier im Land Ihrer Söhne?

Lacht Der ist gut, den hab ich noch nie gehört. Es ist noch lustig: Meine Kinder lesen eigentlich meine Bücher nicht unbedingt, aber als ich Land der Söhne angekündigt hatte, hat mein jüngerer Sohn seinen Bruder angerufen und gesagt: „Lino, hast du gesehen, wie das Buch heisst? Land der Söhne?“ Aber sie haben dann schnell gemerkt, dass es nicht autobiografisch ist.

Sie sprechen immer wieder vom Gefühl der Freiheit, das Sie in der Schweiz immer vermisst haben und nun in Santa Fe gefunden haben. Die Freiheit spielte für Sie beim Schreiben von „Land der Söhne“ eine wichtige Rolle und hat als Thema auch Eingang in den Text selber gefunden. Was bedeutet Freiheit für Sie persönlich?

Für mich privat heisst Freiheit einfach, dass ich mich selber sein kann. Wie auch immer das aussehen mag. In meinem Fall ist das nichts Spektakuläres, aber ich empfinde das in der Schweiz nicht so. In der Schweiz empfinde ich mich als jemand, der ständig irgendwo anstösst und aneckt. Vielleicht auch zu unrecht, aber das ist einfach mein Lebensgefühl. Im politischen Sinne ist die Freiheit in Amerika natürlich auch nicht unproblematisch, aber da hab ich eine Sondersituation als Schweizerin. Mir kann nicht so viel passieren: Wenn ich ausgeschafft werde, komme ich zurück in dieses wunderschöne, sichere Land. Deshalb stehe ich nicht so unter Druck wie andere meiner Freunde.

Die Geschichte von Luigi beginnt in den 1940er Jahren, als er als kleiner Junge aus dem Tessin in die USA kam. Aus welchem Grund haben Sie sich genau für diesen Ausgangspunkt entschieden?

Es gibt ein Vorbild für die Schule im Buch, die Los Alamos Ranch School for Boys. Diese war von 1917 bis 1943 geöffnet und wurde dann verdrängt vom Manhattan Project, das dann die Räumlichkeiten übernommen hat. Viele ehemalige Schüler dieser Schule haben über die Missbräuche des Schulleiters gesprochen, aber ich wollte das ganz klar fiktionalisieren. Wenn man diesen Hintergrund kennt, kann man die Verbindung zu dieser Schule vielleicht erahnen, aber er ist bestimmt nicht offensichtlich. Aus diesem Grund habe ich die Geschichte auch geografisch von Los Alamos nach Española versetzt. Ich habe auch zeitlich eine Verschiebung unternommen. Indem ich den Beginn der Geschichte in die 40er Jahre legte, konnte ich außerdem auch noch die Jetztzeit integrieren, ohne eine zusätzliche Generation berücksichtigen zu müssen.

Im Tagesgespräch haben Sie bereits erwähnt, dass Luigi, die erste Figur war, die für Sie feststand. Wie hatten Sie die Idee für Luigi und die anderen Charaktere?

Ich war in Santa Fe und wartete darauf, dass sich mir meine Geschichte aufdrängt. In dieser Zeit wurde ich von unterschiedlichen Seiten immer auf Los Alamos angesprochen. Das Thema verfolgte mich fast schon. Dann stiess ich auch noch auf eine Fernsehserie über das Manhattan Project. Da ich auch ein bisschen an solche Zeichen glaube, habe ich mich schliesslich dazu entschieden, diesen Ort einmal zu besuchen. Im Ortsmuseum hatte es dann eine kleine Nische mit Fotos von dem Gebäude und den Kindern und den Pferden, die davor standen. In der Bildbeschreibung hiess es, dass die Schule gegründet wurde, um den verweichlichten amerikanischen Mann von dem übermächtigen Einfluss seiner Mutter zu befreien und ihn in einer frauenlosen Gesellschaft aufwachsen zu lassen. Als ich das gelesen habe, hatte ich so etwas wie einen elektrischen Schlag und ich sah sofort das Bild dieses Jungen mit seiner Mutter im Zug, die ihn in die Schule bringt. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich allerdings noch nicht, dass dieser Junge Luigi ist. Es war wie ein Film und plötzlich hörte ich, dass die Italienisch miteinander reden. Sind die aus dem Tessin? Ich habe null Bezug zum Tessin und trotzdem sprachen die Italienisch. Trotz mehreren Versuchen, diese Figuren zu Deutschschweizern zu machen, gelang es mir nicht. Nachdem ich mich lange bei Luigi aufgehalten hatte, kam sein Sohn dazu und anschliessend irgendwann Sofia. Entlang der Generationen.

Sie sagen, dass im Verlaufe der Zeit immer mehr Figuren hinzugekommen sind. Wie wird aus diesen einzelnen Charakteren eine zusammenhängende Geschichte? 

Ich widme mein Schreiben immer dem, der gerade am lautesten ist in meinem Kopf und so entsteht eine total chaotische erste Fassung. In einer Version war die Geschichte auch einmal zeitlich linear strukturiert, indem ein Jahrzehnt nach dem anderen beschrieben wurde. Natürlich wäre das leserfreundlicher gewesen, aber ich dachte, ich muss die Geschichte auf gut Schweizerisch «zöpfeln».

Sie sagen, diese neugewonnene Freiheit sei für Ihren Schreibprozess sehr wichtig gewesen. Was hat sie in der Schweiz denn an diesem grenzenlosen Schreiben gehindert?

Meine Kreativität hat sich einfach den Platz genommen, der noch frei war. Aber ich spürte, dass da noch mehr war, was einfach keinen Platz hatte, weil ich mich ständig verzettelt habe. Neben Kolumne, Radio und Theater blieb das Schreiben an sich «sehr dünn ausgewallt». Nachdem ich das alles aufgegeben hatte, kam das Schreiben mit einer Wucht zurück. Für mich ein sehr schönes Erlebnis, das ich nicht missen möchte. Vorher hatte ich noch nie ein Buch geschrieben, das von mehreren Generationen handelte oder das nicht in der Jetztzeit spielt. Nicht das ich das nicht wollte, aber das wäre mir gar nie in den Sinn gekommen, weil ich die innere Freiheit dazu nicht hatte. Wer weiss, vielleicht schreibe ich als nächstes einen Fantasyroman. Ich habe irgendwie so das Gefühl, es ist alles möglich, wohingegen ich mich vorher in einem festgesteckten Rahmen bewegte. Auch dass es praktisch keine Frauenfiguren gibt, ist völlig neu für mich und ist mir zuerst aber gar nicht aufgefallen.

Lesen Sie überhaupt noch Schweizer Literatur?

Ich lese natürlich vor allem auf Englisch und habe deshalb auch nicht so viel Ahnung davon, was momentan im Literaturbetrieb in der Schweiz so los ist, aber so richtig drin war ich eigentlich sowieso nie. Schon meine ersten Bücher habe ich in Eigenverlag veröffentlicht und so war ich nie wirklich in der „Literaturszene“. Ich hatte immer das Gefühl, meinen eigenen Spielplatz zu haben. Meine ersten Bücher hatten dann auch fürchterlich schlechte Kritiken, aber irgendwie ging es dann trotzdem. Ich seh mich dennoch immer irgendwie als aussen.

Sie sagen ja, dass es zu Ihnen gehört, dass Sie schon immer Geschichten im Kopf hatten, die Sie dann aufschreiben. Wann haben Sie eigentlich damit angefangen, Geschichten zu schreiben?

Ich wuchs in einem Schriftstellerhaushalt auf, daher war es für mich nicht so besonders. Meine Mutter erzählt gerne, dass ich als Dreijährige vor mich hin gekritzelt hätte und sie mich gefragt hätte, was ich da mache. Ich antwortete: Ich schreibe ein Buch. Ein Buch über eine Preiselbeere. Ich hatte noch alte Kinderbücher meiner Mutter, zum Beispiel Die braven und die schlimmen Beeren von Ida Bohatta. Das sind so kitschige Zeichnungen von so kleinen Mädchen, die dann so riesige Röckchen haben und das hat mir gefallen. Schon ganz früh war dann für mich absolut klar, dass das Schreiben vom Lesen kommt. Ich bin eine süchtige Leserin und habe schon früh gemerkt, dass ich auch selber eine Geschichte erzählen kann und nicht darauf angewiesen bin, dass zum Beispiel noch ein zweiter Band auf das Lieblingsbuch folgt. Man kann ihn einfach selber schreiben. Als Kind habe ich dann alle meine Lieblingsbücher um- und nachgeschrieben. Mit 20 habe ich dann angefangen, längere Geschichten zu schreiben. Nach sechs Jahren erfolgloser Suche nach einem Verleger war dann mein erstes veröffentlichtes Buch Gebrochene Herzen auch bereits das vierte Manuskript. Unterdessen kann ich die ersten drei auch nicht mehr auffinden, da ich auch so oft umgezogen bin.

Was ist momentan ihr Lieblingsbuch?

Ich habe zwei absolute Lieblingsbücher. Nein, drei, die ich immer wieder lese, aber nicht aus dem neuen Programm. Das eine ist Arbeit und Struktur von Wolfgang Herrndorf, das eine ist Fremde Signale von Katharina Faber. Und dann lese ich immer wieder gern Mein Name ist Eugen von Klaus Schädelin. Das ist eigentlich ein Kinderbuch aus den 50er Jahren und widerlegt alles, was man der Schweizer Literatur so vorwirft. Es ist so schwer, so behäbig, es hat keinen Humor. Es ist eines der anarchischsten Kinderbücher, die es überhaupt gibt. Das ist super. Und das sind die drei Bücher, die ich immer wieder lese und die mehr sind als „nur Literatur“. Es ist fast so ein moralisches, spirituelles – das ist ein grosses Wort – aber ein tröstliches Gerüst, an dem ich mich festhalte.

Können sie auch Bücher mehrmals hintereinander lesen?

Ja, wenn ich sie wirklich liebe. Manchmal hat man doch sowas wie ein Gefühl, dass das Buch für einen selbst geschrieben wurde. Was ich auch wahnsinnig gerne lese, sind die Tagebücher von Max Frisch. Ich kann von Max Frisch nicht weiter entfernt sein, aber ich fühle mich ihm in seinen Reflexionen über das Schreiben total verbunden. Und denke oft: ja, genau. Ich habe das auch oft in meinen Kursen verwendet, um den Lernenden beizubringen: Hört mal, jeder hat seins, sogar Max Frisch hatte ein Tagebuch auf dem Höhepunkt seiner Karriere.

Aber Sie hatten nie Zweifel, dass die Kreativität mal nicht mehr da ist?

Doch, aber die Geschichten versiegen nicht. Natürlich habe ich immer Zweifel, ob ich die Geschichte so erzählen kann, wie sie erzählt werden will oder muss oder ob ich der Geschichte gerecht werde. Das sind immer wieder Zweifel, vor allem während ich im Prozess noch drin bin. Irgendwann kommt der Punkt, an dem ich merke, „okay, das ist es“. Take it or leave it, aber während der Arbeit – klar, da zweifelt man dauernd. Das gehört dazu.

Aber das hatten sie auch gesagt, dass Sie am Ende einen anderen Luigi hatten, als sie vorher im Kopf hatten.

Ich habe einfach Luigi als Kind kennen gelernt und ihn begleitet. Ich habe mitgefühlt, als er von einem Schulleiter missbraucht wurde und dann habe ich auch gesehen, wie er alle Hilfsangebote ausschlägt. Als mir dann klar wurde, dass er selbst seinen Sohn missbraucht, hat mir das wirklich mein Herz gebrochen. Das war völlig klar, die Geschichte muss so sein – die Geschichte kann nicht irgendwo anders durch -, aber das war wirklich schlimm für mich.

Aber Sie können das dann nicht für sich abändern?

Nein, eben das geht dann nicht. Ich muss ja die Geschichte erzählen, welche da ist. Mir ist das schon klar, dass die aus meinem Kopf kommt. Dass das meine Geschichte ist. Aber es fühlt sich wirklich so an, als wäre die Geschichte eigentlich fertig. Sie zeigt sich mir Satz für Satz für Satz für Satz, und ich bin vielleicht 2 bis 3 Sätze hintendrein, aber ich sehe nicht das Ganze. Ich kann das nicht nach meinem Geschmack verändern.

Es ist so faszinierend, wie Sie von den Figuren sprechen, als wären sie Menschen, die mit uns am Tisch sitzen könnten. Wie kommen diese Geschichten zu Ihnen?

Mit dem Schreiben sind sie da und dann ist irgendwo auch so ein Luigi dabei. Dann kommt ein Gio und dann bin ich plötzlich in den 70er Jahren. Dann muss ich denken: Okay, dann breche ich hier ab und folge den Bildern in meinem Kopf. Ich habe eine Freundin, sie ist auch Schriftstellerin. Wir reden manchmal dann über die Figuren und dann sagt sie: „Die Verenice macht mir Sorgen“, und ich sage irgendwie, „ja, der Luigi mir auch“. Wenn uns jemand zuhören würde, würde er denken: Ihr habt ja einen traurigen Freundeskreis. Verkehrt ihr nur mit Neurotikern und Kriminellen? Aber nein, das sind unsere Figuren. Das ist eben so und es lässt sich schwer erklären.

Haben Sie jetzt keine Probleme auf deutsch zu schreiben, wenn sie die ganze Zeit im englischsprachigen Raum leben?

Nein, das ist für Deutschschweizer Autoren anders. Wir schreiben sowieso schon in einer fremden Sprache. Und ich glaube: Die Autoren, die wirklich so schreiben wie sie denken und reden – für die ist das sicher schwieriger.

Wäre es für Sie demnach keine Option, ein Buch auf Schweizerdeutsch zu schreiben?

Nein, das hat mich nie interessiert.

Gibt es Informationen zum nächsten Buch? Wir haben gehört, dass es das Cover schon geben soll.

Ja, nicht mehr. Ich hab in einer Nacht und Nebelaktion den Verlag gewechselt und das Buch erscheint jetzt nicht mehr bei Nagel & Kimche, sondern bei Kein und Aber. Der neue Verlag macht einen eigenen neuen Umschlag, aber es wird in dem Stil sein.

Verraten Sie uns, worum es in dem neuen Buch gehen wird?

Es wird um den Tod gehen. Es heisst „Die Toten haben das schönste Leben“. Das Buch handelt vom mexikanischen Totenbrauch „día de los muertos“. Die meisten kennen den Brauch von James Bond, einer der Filme hat in Mexiko City mit einem Umzug mit riesigen Skeletten begonnen. Die Kultur beruht auf der Vorstellung, dass – nicht wie im Christentum, wo man erst ein guter Mensch sein muss, um in den Himmel zu kommen – nach dem Tod alles möglich sei. Das ist ein sehr weltliches Paradies. Da wird auch gegessen und Tequila getrunken und man hat Sex mit diesen Skeletten. Also mir ist es sehr fremd, aber ich finde es einfach extrem tröstlich. Das Buch ist in gewisser Weise auch eine Kulturgeschichte, weniger ein Roman.

Unterstützt ihr Freund Victor Sie dabei und erklärt Ihnen den Brauch und was dahintersteckt?

Ja, er ist auch Mitautor. Wir geben das Buch zusammen raus.

Ist es das erste Mal, dass Sie ein Buch zusammen rausgeben?

Ja, ich schreibe es und ich interviewe ihn auf englisch. Dann schreib ich das auf und lese es ihm wieder vor. Das geht hin und her und ist natürlich auch eine Vertrauensfrage.

Es ist aber schön, dass ihr Partner auch Interesse dran hat. Denn es gibt ja bestimmt auch oft Partner, die mit all den Figuren und Geschichten nicht so viel anfangen können.

Ich hatte endlich mal Glück… Späte Liebe ist sehr schön. Ich hatte auch schon andere Beziehungen, in denen das ein Problem war. Ich habe eigentlich immer aus meiner Erfahrung heraus gesagt: Es kann nur einen Künstler in einer Beziehung geben. Victor ist Künstler und es geht prima. Ich glaube, es geht mehr um die Konstellation.

Schreibt er selber auch Bücher?

Nein, er ist bildender Künstler.

Sie haben ja den Verlag gewechselt und sie haben oft darüber gesprochen, dass sie die Freiheit als Inspiration sehen, als Schaffensquelle. Verlage haben immer einen gewissen Einfluss – können die Verlage einen vielleicht zurückhalten?  

Ich darf einfach nichts über die Umstände des Verlagswechsel sagen. Aber Nagel & Kimche hat vor zwei oder drei Wochen eine Pressemitteilung herausgegeben. Den Rest kann man sich zusammen reimen, ohne das ich jetzt zu viel sage.

Wie viel wird auf Verlagsseite noch an einem Buch geändert, bis das fertige Manuskript vorliegt?

Das Lektorat ist sehr wichtig. Wie der Verlag heisst oder wo das Büro ist, das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, wer ist mein Lektor, meine Lektorin? Das ist etwas ganz Persönliches. Bei „Land der Söhne“ etwa hatte ich den Schluss noch nicht fix und habe ihn nach dem Gespräch mit dem Lektor nochmal umgeschrieben. Zunächst habe ich mich dagegen gewehrt, aber dann habe ich gemerkt, dass er vielleicht schon recht hat. Das kann manchmal weiter gehen und manchmal weniger weit. Aber letzten Endes habe ich natürlich da auch das letzte Wort. Bei „Land der Söhne“ gab es etwa den Einwand, es sei einfacher, wenn chronologisch erzählt würde. Aber ich wollte die Geschichte so erzählen. Beim Umschlag oder beim Titel ist die Vorstellung des Verlags freilich bestimmend.

Das Interview mit Milena Moser wurde von Michelle Holz und Laura Barberio geführt.

 

Ein Gespräch über Bücher

Das zweite Branchengespräch der Literaturtage drehte sich um die Frage, wie aus einem Text ein Buch wird. Als Podiumsgäste waren Annette Beger, die Leiterin des Zürcher Kommode Verlags, und Gabriel de Montmollin, bis 2015 Leiter der Éditions Labor et Fides und mittlerweile Leiter des Musée international de la Réforme in Genf. Geleitet wurde das Gespräch von Dani Landolf, seines Zeichens Geschäftsführer des Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verbands SBVV. Landolf verwies auf die Sonderstellung, die dem Schweizer Buchmarkt aus seiner Viersprachigkeit erwächst: Die Verlage in der Westschweiz orientieren sich nach Frankreich, die im Tessin nach Italien und die Deutschschweizer schauen nach Deutschland und Österreich. Dass diese Länder Euroländer sind, hat einen grossen Einfluss auf die Schweizer Verlage, nicht zuletzt seit die Buchpreisbindung 2008 in der Schweiz aufgehoben wurde.

Im deutschsprachigen Bereich der Schweiz gibt es zur Zeit circa 200 Verlage, von denen rund die Hälfte „professionell“ betrieben würden. Thematisch sei die Schweizer Verlagslandschaft breit aufgestellt, fügt Landolf an, dies gälte insbesondere für den Kunst- und Architekturbereich als auch für das Feld der Sach- und Kinderbücher. Auch Wissenschaftsverlage machten ein durchaus herzeigbares Sement aus, wenn sie auch in der Öffentlichkeit nicht sehr präsent seien.

Annette Beger vertiefte sodann das Gebiet der Verlagskalkulation, referierte die prozentualen Anteile, welche sich auf die Buchhandlungen, dem Verlag und den Autor aufteilen, nicht zu vergessen die Kosten für Druck und Distribution. Auf die Frage, wo Verlage denn tatsächlich drucken lassen würden, antwortete Beger, dass der Kommode Verlag in Italien drucken lasse. Dies sei kostengünstiger und trotzdem stimme die Qualität trotzdem. Bücher aus englischen Verlagen fände sie schrecklich, meint Beger, denn diese seien meistens beschichtet, die Beschichtung löse sich nach und nach ab und werde klebrig.

Sodann wurde die Frage diskutiert, wieso es immer noch so wichtig sei, dass die Buchhändler das Recht haben, nicht verkauften Bücher wieder zurück geben zu können. Beger warf ein, dass man bedenken müsse, dass die Buchhandlungen auch Bücher von unbekannten Autoren bestellen und somit immer das Risiko haben, dass die Bücher nicht verkauft werden – was Rolf Lappert, den ersten Gewinner des Schweizer Buchpreises, anmerken liess, dass man ein Buch auch verkaufe, wenn man von ihm überzeugt sei.

Was aber leisten Verlage überhaupt?
Das Podium war sich einig: Sie sind Dienstleister, verwalten die Rechte der Autoren, vertreiben, lektorieren und führen die Promotion für das jeweilige Buch durch. Nicht jeder Autor kann gut lesen, dafür muss man kreative Alternativen entwickeln. Die meiste Zeit nehme das Lektorat ein. Man kann Autoren nur aufbauen, wenn man am Text arbeitet.

Die Frage, ob Autoren Verlage denn auch wirklich als Dienstleister in Anspruch nehmen müssten, bejahte Rolf Lappert. Das Lektorat sei für ihn unglaublich wichtig. Wenn ein Verlag seine Texte zu gut fände und er ein fertiges Manuskript einreiche, welches dann nicht mehr bearbeitet würde, werde er skeptisch. Für ihn sei wichtig, dass das Manuskript richtig überarbeitet werde. Es dürften sich nach einem qualitativen guten Lektorat keine Fehler mehr im fertigen Buch finden. Lappert adressierte dann auch junge AutorInnen der Bieler Schreibschule, deren Manuskripte meist bereits bei Einreichung eine sehr gute Qualität aufwiesen, nicht zuletzt weil sie bereits bei Agenturen überarbeitet worden seien.

Der Austausch gestaltete sich äusserst interessant und eröffnete die Möglichkeit, mehr über die Schweizer Verlagslandschaft zu erfahren. Dani Landolf fragte geschickt nach, blieb hartnäckig, wenn Fragen nicht präzise genug beantwortet wurden und achtete darauf, dass auch die Zuhörer miteingebunden wurden, um deren Französischkenntnisse es nicht so gut bestellt war – wie um die meinen.

 

 

Von Einhörnern und Verzeichnissen

Obwohl es die erste Lesung des Tages ist, ist der Saal gut gefüllt. Nachdem Lucas Marco Gisi Judith Schalansky und ihr Werk vorgestellt hat, beginnt die Autorin mit der Lesung eines Kapitels aus ihrem Verzeichnis einiger Verluste – es spielt in den Walliser Alpen und besitzt durchaus autobiografische, autopoietische Züge. Beim Lesen spielt sie deutlich vernehmbar mit dem Rhythmus der Worte und der Geschwindigkeit des Vortrags.

Sie erzählt, dass sie zuerst einen Naturführer über Monster habe schreiben wollen, doch das Vorhaben sei gescheitert. Glücklicherweise habe sie das Projekt dann doch noch in einen Text einfliessen lassen können. Dieser handle nicht nur von der wunderbaren Landschaft in der Schweiz, sondern auch von Ängsten. Das Vakuum sei das Schlimmste überhaupt, da sei es besser, man stelle sich Monster vor. Das sei schliesslich besser als nichts, so Schalansky. Doch auch der Erzählerin will es nicht gelingen, über Monster zu schreiben.

Judith Schalansky fragt das Publikum und Lucas Marco Gisi, ob sie zu rätselhaft schreibe? Mit einem Lachen fügt sie hinzu: «Das ist der zweitschwierigste Text im Buch.» Daraufhin fragt sie: «Haben Sie gelesen, dass die Frau in der Erzählung schwanger werden wollte?» Lucas Marco Gisi verneint, worauf die Autorin schmunzelt. Er habe die Menstruationsblutungs-Stelle eher als ein Naturerlebnis gelesen, fügt Gisi hinzu. Schalansky erzählt, dass die Übersetzerinnen – abgesehen von der schwedischen und norwegischen – dies auch nicht herausgelesen hätten. Das liege vielleicht an der Nähe zu ihrer Heimat; sie sei nämlich in Greifswald aufgewachsen, im Norden von Deutschland. Das Publikum lacht mit ihr und sie fügt hinzu, dass jede Lesart ihrer Texte die richtige sei.

Und was habe es mit den Einhörnern auf sich? Sie finde Einhörner dämlich, aber musste sie trotzdem irgendwie in ihren Text einbauen. Wie sie das gemacht habe? Das Einhorn sei als eine Tätowierung auf der Hand einer Supermarktkassierer wiederzufinden. Sie betont, das sei das Schöne an der Literatur. Auch als sie nicht wusste, wie sie in einem Verzeichnis eine Mondlandung einbauen sollte. Es musste schliesslich eine besondere Mondlandung her. Wie sie das gelöst habe? Sie erzählt lachelnd, sie habe einfach einen Absatz gemacht und weiter geschrieben. Das sei eben Literatur – sie lasse spielerischen Freiraum.

Was sie vermisse, seien Verzeichnisse über Verluste von Dingen. Die Literatur sei wie eine Wunderkammer und ihre Recherchen seien immer wie eine Art Privatforschung. Sie stöbere gerne in Kartenabteilungen, um sich Anregungen für ihre Werke zu holen.

Was sie noch über ihr Buch zu sagen habe? Sie zeigt die schwarzen Seiten, welche die Verzeichnisse einteilen. Auf den Seiten sind schiefergraue Skizzen abgebildet, welche jeweils für das folgende Verzeichnis stehen. Und sie erzählt schmunzelnd, dass man normalerweise erst sterben müsse, um eine Fadenbindung zu erhalten. Doch sie habe dies für ihr Buch beim Suhrkamp-Verlag durchgesetzt.

Nachdem sie zum Schluss eine kompliziertere Stelle vorgelesen hat, nennt sie den Text eine Zumutung. Eine schöne Zumutung aber, fügt sie mit einem Lächeln an. Es gäbe auch niederschwellige Texte in ihrem Buch. Sie würde ja weiter lesen, aber sie habe nur 45 Minuten Zeit bekommen.

Für mich vergingen die Minuten wie im Flug und es steht ausser Frage: Wer so ernst und geschickt schreibt und dabei trotzdem so lustig über seine Texte redet, den muss man einfach mögen!

 

Mein rechter Platz…

ist frei und ich wünsche mir heute …

… Judith Schalansky, Nell Zink, Angelika Overath und Joel Goebel herbei. Wir freuen uns auf den Dialog zwischen Matto Kämpf und Milena Moser und sind besonders gespannt auf die Lesungen von Anna Stern und Andreas Niedermann. Vor der brennenden Mittagssonne flüchten wir zu Michelle Steinbeck in den Poesiesalon. Auf der Aussenbühne kann man in den späten Abendstunden dann den spoken words lauschen oder an der Literaturtag-Disco tanzen.

Auf geht’s in den zweiten Tag der Solothurner Literaturtage!

Vorpremiere

Im Format „Skriptor Dramatik“ geht es darum, erste literarische Skizzen zu präsentieren und gemeinsam kritisch weiterzuentwickeln. Ein Ausschnitt aus der Materialsammlung von Joël László birgt an diesem Freitag viel Gesprächsstoff. Zum Einstieg wird die Skizze von den Schauspielern Urs-Peter Halter, Vivanne Mösli und Lukas Waldvogel vorgetragen. Der Humor des Textes wird von den dreien besonders gut umgesetzt und sorgt für manche Lacher. Ob das gewollt oder ungewollt war, bleibt erstmal offen.

Alle sind sich einig, die Sprache ist gut und flüssig. Vivianne Mösli würde es gerne spielen. Man merkt, dass der Autor seine Aussparungen richtig gesetzt hat, denn er hat ein gutes Gefühl dafür, was benannt werden muss und was nicht.

Die Autoren Andri Beyerle, Gerhard Meister und Ivna Žic sollen ihre Meinung und Ratschläge zur Skizze abgeben. Jedoch springt Katharina Prömmel für Ivna Žic ein, da diese kurzfristig verhindert ist.

Im Text kommen Experten vor, von denen man nicht genau weiss, wie gross ihre Expertise überhaupt ist oder ob es die Eltern sind. Vielleicht sind es auch nur Personen, welche im Suff über Religionen philosophieren. Denn die Experten besprechen den Islam und führen sich vor Augen, was die westliche Gesellschaft alles aus dem Islam übernommen hat. Der Islam sei nicht so weit entfernt vom Christentum wie beispielsweise der Hinduismus, erklärt László. Das könnte man noch näher bearbeiten, finden die anderen Autoren. Eine Forderung (mit einem Augenzwinkern) von Katharina Prömmel ist, dass man den männlichen Stimmen im Text etwas entgegensetzen müsse.

Eine weitere zentrale Frage lautet: Kann der Familienkonflikt noch gelöst werden oder spitzt er sich zu? Der Vater würde doch gerne die Tochter verstehen wollen. Aber ist es in Familienkonflikten nicht oft so, dass man sich schon eine Meinung  gebildet hat?

Ist der Humor die Waffe gegen die Angst? Später wird klar, der Humor ist extra so angelegt. Denn László überpräzisiert beispielsweise die Experten, welche dann in der Verschachtelung unpräzise wirken. Aber ob das in der weiteren Bearbeitung so bleibt, ist noch offen.

Wir sind gespannt, welche Bedeutung die Experten, der Humor und vor allem der Islam und die anderen Religionen im fertigen (wenn es fertig geschrieben wird) Drama einnehmen werden.

 

Unser Team in Solothurn: Michelle Holz

Die Schweizer Literatur-Welt erkunden:

Michelle lebt seit einem Jahr in Zürich. Sie studiert Deutsche Literatur- und Sprachwissenschaft, sowie Populäre Kulturen.  Von der Schweizer Literatur ist sie begeistert. Nach dem sie beim „Schweizer Buchjahr“ mitgewirkt hat, möchte sie sich nun in das Abenteuer der Solothurner Literaturtage stürzen. Durch ein Seminar über die Gegenwartsliteratur 2018/19 hat sie viele aktuelle Bücher kennen gelernt. Dadurch entstanden viele Fragen, welche noch unbeantwortet sind: wie sind die Autoren persönlich, welche Themen werden diskutiert und wie läuft der Literaturbetrieb eigentlich ab?

Ob all ihre Fragen beantwortet werden können? Das wird sich nach dem nächsten Wochenende wohl zeigen.