Fakt ist, nicht Fake

In den letzten Jahren hat der Kampfbegriff Fake News das öffentliche Bild der Medien geprägt. Feuilletons resümieren die Gegenwart als «Die Zeiten von Fake News» und mehrere grosse Zeitungshäuser beschäftigen mittlerweile Fact-Checker. 2017 hat sogar der Duden das politische Reizwort aufgenommen. Dass Fakes als Falschmeldungen entlarvt werden müssen, um das Vertrauen einer Gesellschaft in ihre Nachrichtenquellen zu sichern, steht natürlich nicht zur Debatte. Der Literaturwissenschafter Thomas Strässle vermisst aber eine Untersuchung, wie Fakes ihre Faktualität überhaupt erst behaupten und unter dem Deckmantel der Wahrheit «in der Welt bleiben» können. Dazu greift er in die Werkzeugkiste der Literaturwissenschaften, denn Fakes seien ja nichts anderes als Fiktionen, die wahr sein wollen. 

In seinem kürzlich erschienen Essay Fake und Fiktion arbeitet Strässle nun solche Plausibilisierungs- und Suggestionsmechanismen heraus. Dazu präsentiert er eine Reihe aberwitziger literarischer Beispiele, in denen stimmt, was unglaubwürdig erscheint und falsch ist, was sich doch eindeutig als Tatsache präsentiert. Eine Auswahl solcher ernsthaften Spielereien hat er am Sonntagabend in der Buchhandlung Barth (eine inmitten der Bahnhofhetzerei unerwartet gut ausgestattete Buchhandlung) vorgestellt. Da war eine Biografie Hildesheimers, zu der es keinen Menschen gab und wir hörten von erfundenen Dialektuntersuchungen, die sogar die Linguistik an der Nase herumführten, um nur zwei zu nennen. Aber was bringt einem jetzt die Auseinandersetzung mit Fakes? Georg Ossegg hat wissenschaftlich behauptet, das Märchen von Hänsel und Gretel bewiesen zu haben und das so überzeugend, dass ihm alle glaubten. Sein Buch erzählt damit vielleicht keine wahre Geschichte, hat aber trotzdem so einiges über uns zu sagen. Die Texte übertreiben und entlarven auf gewitzte Art die Mechanismen und Strategien ihrer ‹journalistischen› Pendants, die meist aus mieseren Absichten heraus produziert wurden und die wir dankend glauben.

Im Buch selbst betreibt Strässle noch mehr literaturwissenschaftliche Arbeit, ohne aber seine Erkenntnisse unnötig zu theoretisieren. Und wenn er auch zeitweise etwas viel Freude an etymologischer Spurensuche zeigt, begründet er seine Analysen doch überzeugend. Die Welt macht Texte wahr oder falsch, nicht textinhärente Muster. Die Analyse solcher Muster kann uns also nichts über Wahrheit und Fakten an sich erzählen, aber darüber, wie sie sich uns normalerweise präsentieren. Strässle ist sich diesem grundlegenden Unterschied durchaus bewusst, lässt ihn aber ab und an verschwimmen und scheint sich dann selbst einen relativistischen Wahrheitsbegriff unterzujubeln, für den er keine Belege aufbringen kann. So suggeriert bereits der Untertitel des Buches «Über die Erfindung von Wahrheit», was es nicht einlösen kann. Diese raren Misstritte verspielen den Wert der eigentlichen Analyse aber keineswegs und man muss den Essay dafür schätzen, was er kann. Strässle vermag aus einem reichen Fundus literarischer Raritäten eben jene zu picken, die Erzählmuster klar hervortreten lassen, die uns «in den Zeiten von Fake News» als Warnflaggen dienen können – und sollten.

Klunker, Knast und Knarren – im Krimitram mit Isabel Morf

Etwas Nebel wäre gut gewesen, denke ich, als ich am Bellevue ins Tram steige, oder wenn die Lesung bei Einbruch der Dunkelheit stattgefunden hätte. Oder in einem der älteren Trams, das in jeder noch so flachen Kurve gequält in den Gleisen kreischt. Das wäre eine angemessene Kulisse gewesen für eine Krimi-Lesung. Doch Zürich zeigt sich an diesem Sonntag in schönstem Herbstwetter, Familien flanieren an der Limmat und gönnen sich eine Packung dampfender Marroni.

Im vorderen Teil des Trams ist ein Pult aufgebaut, an dem die Autorin aus ihrem neuen Roman «Ein perfekter Mord» liest. Wir verlassen also das Bellevue und lassen uns im Tram nach Altstetten und von Isabel Morf in die Welt ihrer Protagonistin Kassandra Buchstab tragen, die Krimiautorin und Detektivin in einem ist und plötzlich von ihrer Vergangenheit als Mörderin eingeholt wird.

Das herbstliche Familien-Ausflug-Wetter stellt sich als gar nicht so unpassend heraus für die Passagen, die Isabel Morf vorträgt. Viel Doppelbödigkeit ist in dem Plauderton, den Morf ihrer Protagonistin verleiht, nicht zu finden. Diese berichtet uns frisch von der Leber weg, wie sie einen ihrer Fans umgebracht habe, damit dieser ihre geheime Identität als Putzkraft nicht auffliegen lasse. Die Sprache ist eigentlich ganz kurzweilig, aber echte Spannung kommt durch den ironisch-geschwätzigen Ton der Hauptfigur nicht auf, auch als diese gefesselt in ihrer Wohnung liegt.

Oder hat diese Figur doch etwas zu verbergen? Kann man einer Figur trauen, die es scheinbar nicht allzu verwerflich findet, dass ihre Mordtat ihr zu Ruhm als Krimiautorin verholfen hat? Spielt sie am Ende doch ein Spiel mit den Leser*innen und versucht, sie auf ihre Seite zu ziehen? An diesem Tag kann ich Kassandra Buchstab nicht mehr durchschauen, denn das Tram ist wieder am Bellevue angelangt und entlässt uns in den Herbstabend.

Null – die Klimakrise

Null steht für 0, CO2 oder auch  «Null Öl. Null Gas. Null Kohle», wie das Buch von Marcel Hänggi. Er und Christoph Keller mit «Benzing aus Luft» unterhielten sich in der Buchhandlung am Hottingerplatz über den Klimawandel oder, wie sie präzisieren, die Klimakrise, und lasen ausgewählte Stellen aus ihren Büchern vor.

Ich ging zu der Veranstaltung mit vielen offenen Fragen und war gespannt auf die möglichen Antworten. Die Autoren sprachen über das IPCC – Intergovernmental Panel on Climate Change – und darüber, dass die Krise zwar schon seit den 60er-Jahren thematisiert werde, aber noch nicht in den Köpfen der Menschen angekommen sei. Möglicherweise sei es sogar angekommen, aber es bleibe schwierig, den Normalzustand zu ändern. Jede*r von uns müsse etwas dazu beitragen, damit sich an der Krise etwas ändere. Dazu müssen wir unseren Alltag anpassen und gewisse Dinge austauschen und ersetzen, um eine Verringerung des CO2-Ausstoss erreichen zu können.

Wie jede*r seinen Teil dazu beitragen kann? 

Ob man auf die Strasse gehe, sich politisch für das Thema engagiere oder sich für eine Initiative wie die Gletscher-Initiative einsetze – jede Form von Engagement zähle. Marcel Hänggi treibt die Gletscher-Initiative aktiv voran und ist somit vom journalistischen ins aktivistische Engagement übergegangen. Gemäss Hänggi sei nur wichtig, dass man der Gesellschaft verdeutliche, dass es fünf vor zwölf geschlagen habe.

Man könne klagen, sagt Christoph Keller. Wie der peruanische Bauer, der RWE verklagt hat. Hintergrund dieser Klage war, dass der Bauer RWE-Emissionen für das Schmelzen eines Gletschers verantwortlich machte. Das Gericht sah die Klage als zulässig an. Auch die sogenannten «Klimasenior*innen» klagen vor Gericht, denn der Klimawandel führe zu Hitzewellen, welche lebensbedrohlich für alte Menschen sind. Jedes Jahr sterben hunderte Menschen an den Folgen der Erderwärmung. Davon auch einige in der Schweiz.

Eine Frage aus dem Publikum war, ob die Autoren glaubten, dass sich die Politiker irgendwann dem Thema annehmen und auf lange Sicht auch Verbote aussprechen würden, wie zum Beispiel ein Verbot für das Verkaufen von Erdbeeren im Januar oder eine Eingrenzung des Flugkontingent. Da Politiker*innen Stimmen benötigten, um wiedergewählt zu werden, mache man sich nicht gerade beliebt, wenn man Verbote ausspreche, meinten die Autoren. Doch die Politik müsse handeln, damit wir das Problem in den Griff bekommen oder sogar stoppen könnten. 

Und die allerletzte Lösung?

Das CO2 wieder aus der Luft herausholen. Was nun – dank einer Erfindung an der ETH – momentan erforscht und weiterentwickelt wird. Doch Christoph Keller ist der Meinung, selbst wenn uns solche Technologien noch retten könnten, ändere das nichts an dem Problem. Man versuche nur, etwas schon Verlorenes aufzuhalten. Der Wert von 450 ppm dürfe keinesfalls überschritten werden, doch an dem sei die Bevölkerung schon gefährlich nahe dran. Deshalb müsse sich die Einstellung eines jeden und einer jeden ändern.

Es müsse noch mehr auf die Krise aufmerksam gemacht werden. Das Problem dürfe nicht mehr runtergespielt oder gar beschönigt werden. In der Medienlandschaft gebe es Journalist*innen, welche die Krise abstreiten und gegen Greta Thunberg wetterten. Es gebe aber auch welche, die sich dem Problem aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive annäherten und von innovativen Lösungen berichteten. Beide Autoren sind sich einig, dass den Medien die bedeutende Rolle zukomme, der Gesellschaft Lösungen aufzuzeigen.

Nach diesem Abend wurde mir klar: Die Klimakrise ist näher als gedacht. Aber wenn wir uns alle mit dem Problem auseinandersetzen und handeln, dann könnten wir es schaffen, ein CO2-neutrales Klima zu erreichen. 

Sowjet Milk

Die lettische Sprache klingt weich und fliessend. Vor ein paar Minuten hat Nora Ikstena uns selbst einen kurzen Teil aus ihrem Roman «Muttermilch» in der Originalsprache vorgelesen. Die Schauspielerin und Sprecherin Vera Bommer schafft es auf bemerkenswerte Weise, diese Leichtigkeit auch mit den Worten der deutschen Übersetzung zu reproduzieren. Die Autorin lächelt immer wieder, während Bommer ihren Text liest, der 2019 erstmals auf Deutsch erschienen ist. Alles andere als leicht ist jedoch, wovon diese Worte berichten. Es ist die Geschichte von Mutter und Tochter im von der Sowjetunion besetzten Lettland des kalten Kriegs. Ein Einzelschicksal wie es damals viele gab, verborgen hinter dem Eisernen Vorhang. Eine Geschichte von Liebe, obwohl die Mutter ihrem Kind die eigene Muttermilch verweigert. Das geschieht aus Schutz, wie Ikstena betont, denn die Milch der Mutter ist ‹vergiftet› und sauer von einem Leben, das die Tochter nicht haben soll. ‹Sowjet milk› – in Grossbritannien lautet so der Titel von Ikstenas Roman. Ungern habe sie den Titel ihres Textes für die Verleger geändert, doch irgendwie ist er dennoch passend. Die Autorin erinnert sich: Als sie noch ein Kind war zu Zeiten der sowjetischen Besetzung Lettlands, seien sie in der Schule immer gezwungen worden, warme Milch zu trinken. Sie habe deswegen heute immer noch Probleme mit dem Getränk. Die Metapher der Milch scheint für Lettland sehr wichtig aber auch zwiespältig. So ist die Milchstrasse in Lettland auch ein Symbol für das Paradies. Wie Bommer einwirft, verwendete schon Shakespeare in Macbeth die Milchmetapher. Von der ‹milk of human kindness› ist bei ihm die Rede. Auch diese Bedeutung von «Milch» ist für Nora Ikstena wesentlich. Sie hegt keinen Hass gegen Russland und die russische Sprache sei für sie immer eine Sprache der Kultur und der Bildung gewesen. Ihren Roman «Muttermilch» hat sie aber dennoch auf Lettisch verfasst. Und so liest sie auch für uns auf Lettisch und die Worte zerfliessen ihr auf der Zunge, fast wie Milch.

Eine literarische Tavolata

Unser Kaviar sind Balsamicokügelchen. Balsamicokügelchen, die bestimmt auch Sylvia Plaths Esther Greenwood überzeugt hätten, meint Nicole Giger. In Ferrante, Frisch und Fenchelkraut kocht sich Nicole Giger durch die Weltliteratur. In ihrem Buch finden sich aus literarischen Werken inspirierte Rezepte, kulinarische Zitate und Geschichten aus Büchern und Briefen von Jane Austen bis Virginia Woolf sowie persönliche Anekdoten. Heute stellt sie uns in einem literarischen Lunch ihr Buch vor. Als Erstes wird uns ein Apéro serviert, Socca mit Spinathummus, Radieschen und Balsamicokügelchen. Dazu liest uns Nicole Giger einen Auszug aus Sylvia Plaths The Bell Jarvor, in dem Esther Greenwood bei einem Empfang so viel Kaviar wie möglich zu essen versucht und erzählt uns vor diesem literarisch-kulinarischen Hintergrund auch von ihren persönlichen Apéro-Helden und der Schweizer Apéro-Kultur.

Socca mit Spinathummus und Balsamicokügelchen

Als Nächstes teilen wir einen Linsensalat mit ofengerösteten Baharat-Karotten, einen Randen Pie und eine Kürbis-Amaretti-Lasagne. Bei ihrem mit Nüssen und Kernen angereicherten Linsensalat bezieht sich Nicole Giger auf Günter Grass, der Linsen und Glück beinahe gleichstellt. Beim Randen Pie kommt George Orwell zu Wort und mit ihm die englische Küche. Die Kürbis-Amaretti-Lasagne wiederum lässt Erinnerungen an italienische Stadtfeste und ein bisschen auch an Grossmütter wach werden. 

Linsensalat mit ofengerösteten Baharat-Karotten

Nicole Giger erklärt, dass Kochen für sie nicht nur eine Mengenangabe und Essen nicht nur Nahrungsaufnahme ist. Sie interessiert sich für die Geschichten hinter den Gerichten und versteht Essen auch als Einblick in fremde Kulturen, als Auseinandersetzung mit fremden und eigenen Traditionen oder als Eisbrecher und Verständigung über alle Sprachbarrieren hinweg.  

Die Einblicke in die Weltliteratur und die Anekdoten von Nicole Gigers kulinarischen Reisen inspirieren uns wiederum zu eigenem Erzählen. Wildfremde Menschen sitzen sich bei dieser Tavolata gegenüber und unterhalten sich über ihre Familien, über Lebenswege und über selbstgemachten Quittenschnaps. Auch ich bin einmal mehr fasziniert von den besonderen Qualitäten von geteiltem Essen und Literatur. 

Beim Dessert kommt Gigers Freude am Kreieren noch einmal zum Zug. Ausgehend von mittelalterlichen Quittenrezepten und ermuntert von Goethes und Schillers Vorliebe für Quittengelee und Quittenbrot interpretiert sie eines der Kuchenrezepte neu und kreiert ein eigenes Quitten-Pekan-Crumble. In dieser Form zeigt sich das Kochen als Kunst und individueller Ausdruck von Kreativität. 

Nicole Gigers literarischer Lunch ist eine liebevoll gestaltete Veranstaltung und Ferrante, Frisch und Fenchelkraut weit mehr als nur eine Sammlung von Rezepten. 

Kürbis-Amaretti-Lasagne

Der eigenwillige Klang der Sprache

Die Lesung der Nominierten für den diesjährigen Schweizer Buchpreis zieht so viele Besucher*innen an, dass der Saal des Literaturhauses bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Zum Glück finden sich für uns noch zwei Klappstühle, auf denen wir Simone Lappert, Ivna Žic und Tabea Steiner aus nächster Nähe sehen können – und vor allem hören. Denn was die drei Werke verbindet, sei der eigenwillige Klang ihrer Sprache, so Isabelle Vonlanthen, die die Lesung zusammen mit Martin Zingg moderiert.

Nach den Lesungen ausgewählter Passagen stellt Isabelle Vonlanthen die Frage nach den klanglichen Elementen und dem Rhythmus, welche die Werke der drei Nominierten auszeichnen. „Ich schreibe mit den Ohren“, erläutert Simone Lappert. „Die Bedeutung des Wortes ist ja immer im Klang schon enthalten, wenn wir etwa an «krachen» denken, oder «Schnee».“ Sie lese sich ihre Texte darum immer wieder vor, um sie vom Blatt in den Raum zu holen und auf ihren Rhythmus zu prüfen. Bisweilen lasse sie sich den Text auch von jemand anderem vorlesen, damit sie sich den Text nicht „schönlesen“ könne, fügt sie lachend hinzu.

Auch für Ivna Žic, die viel für das Theater schreibt und darum dem gesprochenen Wort eine grosse Bedeutung zuschreibt, leben Texte von ihrem Klang: „Man muss die Texte gerne in den Mund nehmen.“ Sie hört beim Schreiben jeweils Musik. Der Rhythmus der Musik helfe ihr, einen Rhythmus der Sprache zu finden.

Tabea Steiner versammelt in ihrem Roman Balg ein ganzes Kabinett verschiedener Figuren im dörflichen Raum. Sie nähert sich ihnen über das Vorlesen deren individuellen Stimmen: „Ich frage mich dann, kann es sein, dass diese Figur so spricht?“ Sie müsse bei jeder Figur das Gefühl haben, dass die jeweilige Stimme passe.

Manchmal können sich die Figuren geradezu gegen eine Sprechstimme sträuben und insbesondere auch gegen einen Namen, den man ihnen aufdrängen will, ergänzt Simone Lappert. Es gebe aber durchaus Figuren, deren Namen von Anfang an feststeht, sagt Tabea Steiner. So etwa sei es ihr mit „Timon“ ergangen.

Das wiederholte Vorlesen ausgewählter Passagen – auch bei Lesungen wie dieser – habe ihren Blick auf den eigenen Text durchaus verändert, sind sich alle drei Nominierten einig. „Inzwischen wähle ich für die Lesungen oft andere Passagen aus als zu Beginn“, sagt Steiner. Simone Lappert schliesst sich dem an und fügt hinzu, dass sie ihre Vorlesetexte sogar teilweise verändert habe. „Beim Vorlesen habe ich manchmal gemerkt, dass es mündlich irgendwo holpert – und habe die Passage dann angepasst“ Ivna Žic fügt hinzu: „Der Text wird einem nach den vielen Lesungen fremder und kommt zugleich auch näher.“

Die gemeinsamen Lesungen der Nominierten sind schon bald Geschichte. Bereits am 10. November werden wir im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel erfahren, an wen der Schweizer Buchpreis dieses Mal geht. Ob Balg, Der Sprung, Die Nachkommende oder aber Sibylle Bergs GRM – Brainfuck oder Alain Claude Sulzers Unhaltbare Zustände – bald schon erfahren wir, wessen „Klang der Sprache“ am meisten zu überzeugen vermochte.

Livia Sutter und Andrina Zumbühl

Annäherung an das Unsagbare

Viel ist gesagt worden von der Unmöglichkeit, Gedichte gänzlich sprachlich zu fassen. Und gleichermassen ist ihre Art, das Unsagbare in Worte zu fassen, die Qualität, die vielleicht am häufigsten mit ihnen in Verbindung gebracht wird. Die Germanistin und Theologin Franzisca Pilgram-Frühauf hat ein Buch geschrieben, das sich genau diesem Thema nähert und in das Licht der Spiritualität stellt: «verdichtet – Poetische Annäherungen an Spiritualität» ist im Verlag rüffer & rub erschienen. Darin stellt sie einer Auswahl an Gedichten quer durch die Jahrhunderte Interpretationsansätze an die Seite und klopft sie auf ihren spirituellen Gehalt hin ab.

Am Montag gab es die Buchvernissage, heute wirft die Lektorin Vivian Tresch mit der Autorin ein Blick ins Buch und spricht mit ihr über die Ungenügsamkeit begrifflicher Definitionen. Mit dabei ist die junge Lyrikerin Sophie Thomas aus Bern, deren Gedicht das Buch abschließt. Franzisca Pilgram-Frühauf ist Fachverantwortliche für Spiritualität und Lebenssinn am Institut Neumünster und hat einen besonderen Schwerpunkt auf dem Umgang mit älteren Menschen. Was Spiritualität genau sei, könne sie nur schwer erklären. Fest steht, es geht um die großen existenziellen Fragen des Lebens, um Schlüsselmomente. Gerade Gedichte haben ihrer Meinung nach das Potenzial, mit diesen Themen offen, spielerisch, vorsichtig und ohne Scheu umzugehen – und dennoch niemals fertig mit ihnen zu werden. Verletzlichkeit wird hier in Hoffnung gewendet und auch der Humor ist niemals fehl am Platz, wo er sonst, im Umgang mit Lebens- und Krisenfragen oft unangebracht scheint. Ebenso offen möchte die Autorin mit den ausgewählten Gedichten umgehen und ihre Interpretationen als Denkanstöße zum Weiterlesen verstehen.

Sophie Thomas liest passend zu dieser Gelegenheit Gedichte, die sich Themen wie Identität und Brüchen widmen. Sie schätze an der Lyrik vor allem die Möglichkeit des sprachspielerischen Umgangs und die Konzentriertheit der Gattung. Ihr Buch «Umbau» ist im Selbstverlag erschienen, in den Denkbildern kann man einige ihrer Gedichte nachlesen.

Welchen Stellenwert hat das gedichtete Wort? Im Umgang mit dementen Menschen entfaltet es seine Kraft auf besonders eindrucksvolle Weise, berichtet Franzisca Pilgram-Frühauf. Die rythmische-klangliche Struktur, die bildreiche Sprache überlebe Brüche und setze sich tief hinein in den menschlichen Körper. Nicht selten komme es vor, dass gerade alte Menschen noch und wieder Verse aus ihrer Schulzeit rezitieren könnten, aber im Alltag völlig hilflos seien. Die kommentierte Auswahl zeigt das Potenzial auf und macht die Grenzen des Unsagbaren sichtbar als Möglichkeit, über sie hinweg zu gehen.

360° Eindrücke

Wir haben die neue Mediensymbiose von «Exklusive Vorpremiere: «LOS 360°VR (RC)» – eine Lesung durch scheinbare Räume im Rahmen» besucht und uns nach einer Flut von Sinneseindrücken zu untenstehenden Fragen Gedanken gemacht. Wie diese Veranstaltung technisch abläuft, wird bereits in diesem Beitrag erläutert.

Was hat dir am besten gefallen?

A: Die Szenerie der verschiedenen Räume war mit vielen spannenden Details gefüllt. Diese zu erkunden, war ein faszinierendes Abenteuer. Besonders imposant fand ich den Raum des Meeres. Der Zuschauer befindet sich dicht genug unter der Oberfläche, um das Rauschen der Wellen zu vernehmen, kann aber gleichzeitig einen Blick in die Tiefe werfen.

X: Das war für mich eindeutig die erste Szene, die einen Theatersaal in abgedunkeltem Licht am Abend zeigte. Diese war sehr realitätsnah und es hat Spass gemacht, die Leute um sich herum zu beobachten. Die Stimmung war hier sehr angenehm und auch das Tête-à-Tête mit Klaus Merz war als Einführung ein raffiniertes Detail.

Was hat dir nicht so gefallen?

A: Sich in einer VR zurechtzufinden, bedeutet immer auch sich sehr vielen Sinneseinflüssen gleichzeitig auszusetzen. Im Gegensatz zu einem klassischen Kinobesuch ist es aber nicht möglich sich vom Bild abzuwenden. Selbstverständlich macht das einen Grossteil der imposanten Wirkung des VR aus; über eine Zeitspanne von einer halben Stunde ist es jedoch auch sehr ermüdend.

X: Die Übergänge zwischen den Sequenzen empfand ich oft als verwirrend. Ich denke, dass mir klarere Übergänge einen besseren Überblick vermittelt hätten. Die Szene mit den beiden Reitern konnte ich nicht in einen Zusammenhang setzen, das hat mich mehr verwirrt als begeistert.

Wie hat in deinen Augen die Symbiose von Literatur und VR funktioniert?

A: Teilweise gut, teilweise weniger gut. Die erlebten Szenerien waren für mich mit der Stimme von Klaus Merz stimmig. Die Hintergrundgeräusche der Räume – brechende Wellen, tuschelnde Theaterbesucher, heulende Schneegestöber – waren mir persönlich zu laut. Entsprechend rückte die Stimme und somit die Erzählung in den Hintergrund.

X: Grundsätzlich denke ich, dass die Symbiose eine grossartige Idee ist und bei sich passend gewählter Literatur sehr gut funktionieren kann. Ich empfand jedoch bei diesem Projekt den Inhalt der Erzählung als zu schwerwiegend für eine Visualisierung mit der VR-Technik.

Wem würdest du den Besuch empfehlen?

A: Ziel des Projektes war es, eine grössere Masse an Zuschauenden anzuziehen, was – wenn man die Vorführungen im Rahmen von Zürich liest zählt – durchaus gelungen ist. Dennoch scheint mir das Projekt immer noch auf ein sehr spezifisches Segment zugeschnitten, da mit Klaus Merz’ LOS eher schwerere Lektüre gewählt wurde, die wohl nicht allen zusagt. Trotzdem empfehle ich den Besuch denjenigen, die bis jetzt noch nicht in den Kontakt mit VR gekommen sind. Die Bilder sind ein Erlebnis für sich.

X: Klaus Merz-Fans wären sicherlich angetan, genauso wie Personen, die vorwiegend an Literatur und etwas weniger an Technik interessiert sind. Für Kinder empfinde ich die Technik als geeignet, den Inhalt der Erzählung jedoch als unpassend. Personen, die nur an der VR-Technik interessiert sind, würde ich vermutlich ein anderes Projekt empfehlen, da hier berechtigterweise die Literatur und ihr Inhalt klar im Vordergrund stehen.

Wie siehst du die Zukunft dieser Mediensymbiose?

A: Gerade jetzt, wo VR oder auch AR (Augmented Reality) vermehrt auf den privaten Markt kommt, glaube ich, dass einige neue Medienformen wie das Projekt 360° entstehen. Es ist aber auch klar, dass solche die bestehenden Formen weder ersetzen können noch sollen.

X: Ich denke, dass die VR-Technik für Kurzfilme sehr gut geeignet ist und auch ein Literaturprojekt sinnvoll damit realisiert werden kann. Andere kürzere Filme oder Aufnahmen könnten so realitätsnah ausfallen, was ich mir besonders für sehr bildhafte Literatur gut vorstellen könnte. Ich bin jedoch nicht der Meinung, dass daraus lange Kinofilme entstehen werden.

Xenia Bojarski und Anouschka Mamie

Ein Gespräch in drei Sprachen

Es beginnt langsam zu dämmern, als die gespannten Zuhörerinnen und Zuhörer im Erkerzimmer des Karls eintrudeln. Die Stimmung ist ruhig und friedlich, als der Moderator zu sprechen beginnt. Auf Deutsch – das muss explizit dazugesagt werden, denn die Sprachvielfalt ist bei dieser Lesung beachtlich. Der Moderator erläutert die Frage jeweils auf Deutsch für das Publikum und richtet schliesslich die lettische Variante der Frage an Nora Ikstena. In der Mitte sitzt Vera Bommer, Schweizer Schauspielerin, die an diesem Abend die deutsche Stimme des Romans «Muttermilch» gibt. Im linken Ohrensessel sitzt die Autorin des Werkes, Nora Ikstena, die wider mein Erwarten komplett auf Englisch sprechen wird. Ihr Deutsch sei nicht so gut, erklärt sie, aber sie habe einige Zeit in den USA verbracht.

Diese Konstellation der verschiedenen Sprachen und damit auch Personen, die den Roman an diesem Herbstabend für die Zuhörenden zum Leben erwecken, ist der Aspekt, welcher mich an der Lesung am meisten faszinieren wird.

Nora Ikstena beginnt die Lesung mit einer kurzen Einleitung. «Muttermilch» ist ein Roman, in der Ikstena ihre Kindheit und Jugend in Lettland sowie das schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter illustriert. Sie nennt den Text jedoch an keiner Stelle autobiografisch. Ikstena beendet die Einleitung mit einer wunderschönen Antwort auf die Frage des Moderators, weshalb ihr Text in den verschiedensten Ländern der Welt so gut rezipiert werde: «The love between a mother and a daughter can happen anywhere in the world.»

Dann beginnt die lettische Autorin, eine Passage auf Lettisch vorzulesen. Der Klang dieser baltischen Sprache war mir bisher absolut unbekannt, und so klingt auch das Vorgelesene im ersten Moment etwas befremdlich. Trotz der hohen Zahl an plosiven Lauten wirkt es dennoch ruhig und regelmässig.

Nun findet ein Sprecherinnen- und Sprachwechsel statt. Sarah Bommer beginnt auf Deutsch vorzulesen. Die Schauspielerin artikuliert hervorragend. Das Vorgelesene tritt in den Vordergrund, jedes Wort wiegt schwer und lässt die Zuhörenden nachdenklich werden. Ikstenas Wortwahl ist gezielt, gnadenlos, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, wie sie es in ihrer Kindheit tun musste. Vielleicht tat sie es beim Schreiben des Romans gerade deshalb nicht.

Im Anschluss übernimmt der Moderator mit einer Fragerunde, bevor Bommer erneut liest. Der Inhalt des Romans überfällt einen, hinterlässt bei mir ein beklemmendes Gefühl.

Zum Abschluss beantwortet Ikstena geduldig die zahlreichen Publikumsfragen, die sich nicht nur um den Roman und den Schreibprozess drehen, sondern vor allem auf die politische Situaiton Lettlands abzielen. Zum Schreibprozess sagt sie: «It was a hard process. The power oft he book sometimes takes you back and you have to keep going.» Ich bin begeistert von Ikstenas überlegten und sensiblen Antworten.

Die Sprachvielfalt entwickelt eine enorme Eigendynamik, welche das Gespräch in keiner Weise hemmt oder aufhält. Im Gegenteil: Durch den ständigen Wechsel werden die Zuhörenden alle mit einbezogen und haben die Möglichkeit, am Diskurs teilzunehmen.

Was für ein tolles Gespräch! / What a great reading! / Kāda jauka saruna!

Erzählt eure Traumata!

Was laut Programmheft als Abend voller Poesie, Musik, Engagement und Liebe im Nahen Osten angekündigt wird, entwickelt sich zu einem aufwühlenden Abend über Grundsatzfragen der politischen Entfremdung und Annäherung, die lange anhalten.

Im Zentrum der heutigen Lesung im Salon in Zürich Wiedikon stehen Joana Osmans Debütroman «Am Boden des Himmels» (2019) und das von ihr unterstützte Friedensprojekt im Nahen Osten, «The peace factory». Die Lesung begleiten ein orientalisches Dinner und ein Musiker, welcher auf der von zwei Bernern erfundenen Handtrommel Hang (Berndeutsch für Hand) den Abend mit sphärischen Klängen einrahmt. Osmans Roman handelt von der jungen palästinensischen Journalistin Leyla (arab. Nacht), ihrer Beziehung zum israelischen Doktoranden Lior (hebr. Licht) und der Sichtung eines Engels in Galilea, welche die nahöstliche Welt in Aufruhr versetzt. Der Engel heisst Malek Sabateen, ist 19 Jahre alt und lässt die Menschen für einen Moment aus den Augen des Anderen – des vermeintlichen Feindes – sehen. Während die Einen in ihm den hoffnungsvollen Vorboten ihres Messias oder eine Widerstandsikone erkennen, schürt er bei den anderen Panik und wird als vermeintlicher Terrorist sogar verhaftet.

Bereits in den Namen der beiden Protagonisten verdeutlicht Joana Osman, dass Konträres nicht grundsätzlich voneinander geschieden werden muss, sondern dass es durch das Herstellen einer Beziehung verbunden werden kann. Die 1982 geborene Deutsch-Palästinenserin besitzt eine grosse Familie im Libanon und ist selbst eine Art Bindeglied zwischen den Kulturen. Sie liest an diesem Abend nicht nur ausgewählte Textpassagen aus ihrem Roman, sondern kontextualisiert das Erzählte mit persönlichen Erlebnissen. Vor einigen Jahren hat sie im Nahen Osten Vortragsreisen über den Frieden unternommen, die sowohl in Israel als auch in Palästina sehr positiv aufgenommen wurden. Doch obwohl die beiden Parteien anscheinend für dieselbe Sache einstehen und den Frieden wollen, stehen sie gleichzeitig vor einer unüberwindbaren Grundsatzfrage: „Was muss denn passieren, damit die anderen endlich wahrnehmen, was uns bedrückt und unser Trauma verstehen?“, fragen sie sich gegenseitig. In ihrem Roman schickt Osman als Antwort nun den Engel Malek auf die Erde und versucht im Stil des magischen Realismus nachzuzeichnen, was passieren könnte, wenn das Wunder geschehen würde, dass man in den Anderen hineinschauen könnte.

Joana Osman: „Am Boden des Himmels“, Hoffmann und Campe 2019

Der neuralgische Punkt im Konflikt im Nahen Osten liegt laut Osman im Schweigen über die erlebten Traumata und in den verhärteten Denkmustern, weil wieder einfach niemand miteinander spricht. Also verfestigen sich Dehumanisierung und Viktimisierung und ergeben eine Abwärtsspirale, die früher oder später in Gewalt ausarten muss. An diesem Punkt entfernt sich der Abend immer stärker von einer Lesung und nähert sich einer engagierten Diskussionsrunde an, welche die Zuhörenden auf den gegenwärtigen Zustand im Nahen Osten sensibilisiert. Die Grundstimmung des Abends bleibt trotz der happigen Thematik hoffnungsvoll. Eine junge Generation wächst heran, die immer weniger an Ortsgrenzen gebunden ist und die mit Medien wie Instagram, Musik, Fotografie und Literatur Schwellen überschreitet. Es entstehen Bewegungen wie beispielsweise die „Peace Factory“, die einem Facebookpost des Grafikers Ronny Edry und seiner Frau Michal Tamir von 2012 zu verdanken ist. Der Post entstand im Moment, als Israel und Iran sich erneut den Krieg erklärt hatten und trägt den Text: “Iranians, we will never bomb your country. We love you.” Den Post begleitete ein offener Brief an die iranische Bevölkerung mit dem Wunsch, die Waffen niederzulegen und stattdessen miteinander zu reden und so die jeweils andere Seite kennenzulernen. Über Nacht ging die Botschaft viral und löste Reaktionen aus die von „Iran loves Israel“, zu „Israel loves Palestine“ und umgekehrt reichten.

Osman plädiert für die kleinen Schritte – die Babysteps – die sich an eine mögliche Lösung annähern können. Es gehe darum, dass die Leute endlich lernen würden, miteinander zu sprechen und das Schweigen aufbrechen. Natürlich ist sie zu realistisch, um der Illusion nachzugehen, dass dies allein den Konflikt lösen könnte, der seit Jahrzehnten schwelt. Doch Sprache und Dialog geben dem fratzenhaften Feindbild ein menschliches Gesicht und machen den Hass umso schwieriger, desto länger man hinhört. Sie schliesst mit der Bemerkung, dass die Lösung des Konflikts von solchen Dialogen vorangetrieben wird und es ihr hilft, die Hoffnung nicht zu verlieren. Ein langer Applaus folgt ihren Worten.