Das groovt und kracht

Was passiert, wenn ein Pianist und Komponist sich mit drei Jazzern, einem Schauspieler und einer Graphic Novel spätabends in einem Club treffen? Viel Geplauder, ein paar Gläschen und vielleicht einige Tropfen verschütteten Wein auf der Graphic Novel, möchte man meinen. Womöglich wird die Graphic Novel auch mal als Kissen benutzt. Und vielleicht kracht’s dann irgendwann so gegen zwei in der Früh auch mal ein bisschen. Na?

Und wie das kracht! Während schwarzweisse Bilder eines San Francisco der späten Zwanziger über den Bildschirm flimmern, verwandelt sich Raphael Clamer in den witzig derben Grossstadt-Detektiv und mimt gleich auch seinen Gegenspieler, den Gangster-Rowdy. Saxophon, Kontrabass, Schlagzeug und Klavier bäumen sich neben ihm auf, schnurren in der einen Sekunde vergnügt und schlagen in der nächsten bildlich Türen ein. Itay Dvoris kompositorisches Gesamtkunstwerk funktioniert nicht nur deshalb so gut, weil die fünf Künstlergesellen als eingespieltes Team zusammenwirken. Diese Sinnesorgie aus Wort, Ton und Bild zeigt eindrücklich auf, wie sich die einzelnen Künste zu einer Geschichte vereinen können. Und das ganz ohne Reizüberflutung für die Zuschauer*innen. So bleibt ein Bild nicht selten unkommentiert, und die Musik übernimmt stattdessen die Rolle des Erzählers. Anderswo wird nur gesprochen und man wartet auf die bildliche oder musikalische Pointe. Das kommt an und auch bei der Zugabe beweist das Ensemble Yam Yabasha seinen Mut zur Grenzüberschreitung: Es erklingen fünf Miniaturen zu ‹musikalischen› Gemälden des französischen Malers Grandville. Das ist unglaublich witzig und provoziert manchen Lacher im Publikum.

Als Zugabe vertonte Yam Yabasha Karikaturen des Malers Jean Grandville.

Nachher trifft man sich, wie sich das für eine Jazzband gehört, noch auf ein Bier an der hauseigenen Bar. Vielleicht schon mit der nächsten Graphic Novel in der Tasche? Das Ensemble Yam Yabasha hat jedenfalls seine eigene Sprache erfunden. Das groovt!

Sowjet Milk

Die lettische Sprache klingt weich und fliessend. Vor ein paar Minuten hat Nora Ikstena uns selbst einen kurzen Teil aus ihrem Roman «Muttermilch» in der Originalsprache vorgelesen. Die Schauspielerin und Sprecherin Vera Bommer schafft es auf bemerkenswerte Weise, diese Leichtigkeit auch mit den Worten der deutschen Übersetzung zu reproduzieren. Die Autorin lächelt immer wieder, während Bommer ihren Text liest, der 2019 erstmals auf Deutsch erschienen ist. Alles andere als leicht ist jedoch, wovon diese Worte berichten. Es ist die Geschichte von Mutter und Tochter im von der Sowjetunion besetzten Lettland des kalten Kriegs. Ein Einzelschicksal wie es damals viele gab, verborgen hinter dem Eisernen Vorhang. Eine Geschichte von Liebe, obwohl die Mutter ihrem Kind die eigene Muttermilch verweigert. Das geschieht aus Schutz, wie Ikstena betont, denn die Milch der Mutter ist ‹vergiftet› und sauer von einem Leben, das die Tochter nicht haben soll. ‹Sowjet milk› – in Grossbritannien lautet so der Titel von Ikstenas Roman. Ungern habe sie den Titel ihres Textes für die Verleger geändert, doch irgendwie ist er dennoch passend. Die Autorin erinnert sich: Als sie noch ein Kind war zu Zeiten der sowjetischen Besetzung Lettlands, seien sie in der Schule immer gezwungen worden, warme Milch zu trinken. Sie habe deswegen heute immer noch Probleme mit dem Getränk. Die Metapher der Milch scheint für Lettland sehr wichtig aber auch zwiespältig. So ist die Milchstrasse in Lettland auch ein Symbol für das Paradies. Wie Bommer einwirft, verwendete schon Shakespeare in Macbeth die Milchmetapher. Von der ‹milk of human kindness› ist bei ihm die Rede. Auch diese Bedeutung von «Milch» ist für Nora Ikstena wesentlich. Sie hegt keinen Hass gegen Russland und die russische Sprache sei für sie immer eine Sprache der Kultur und der Bildung gewesen. Ihren Roman «Muttermilch» hat sie aber dennoch auf Lettisch verfasst. Und so liest sie auch für uns auf Lettisch und die Worte zerfliessen ihr auf der Zunge, fast wie Milch.

Eine literarische Tavolata

Unser Kaviar sind Balsamicokügelchen. Balsamicokügelchen, die bestimmt auch Sylvia Plaths Esther Greenwood überzeugt hätten, meint Nicole Giger. In Ferrante, Frisch und Fenchelkraut kocht sich Nicole Giger durch die Weltliteratur. In ihrem Buch finden sich aus literarischen Werken inspirierte Rezepte, kulinarische Zitate und Geschichten aus Büchern und Briefen von Jane Austen bis Virginia Woolf sowie persönliche Anekdoten. Heute stellt sie uns in einem literarischen Lunch ihr Buch vor. Als Erstes wird uns ein Apéro serviert, Socca mit Spinathummus, Radieschen und Balsamicokügelchen. Dazu liest uns Nicole Giger einen Auszug aus Sylvia Plaths The Bell Jarvor, in dem Esther Greenwood bei einem Empfang so viel Kaviar wie möglich zu essen versucht und erzählt uns vor diesem literarisch-kulinarischen Hintergrund auch von ihren persönlichen Apéro-Helden und der Schweizer Apéro-Kultur.

Socca mit Spinathummus und Balsamicokügelchen

Als Nächstes teilen wir einen Linsensalat mit ofengerösteten Baharat-Karotten, einen Randen Pie und eine Kürbis-Amaretti-Lasagne. Bei ihrem mit Nüssen und Kernen angereicherten Linsensalat bezieht sich Nicole Giger auf Günter Grass, der Linsen und Glück beinahe gleichstellt. Beim Randen Pie kommt George Orwell zu Wort und mit ihm die englische Küche. Die Kürbis-Amaretti-Lasagne wiederum lässt Erinnerungen an italienische Stadtfeste und ein bisschen auch an Grossmütter wach werden. 

Linsensalat mit ofengerösteten Baharat-Karotten

Nicole Giger erklärt, dass Kochen für sie nicht nur eine Mengenangabe und Essen nicht nur Nahrungsaufnahme ist. Sie interessiert sich für die Geschichten hinter den Gerichten und versteht Essen auch als Einblick in fremde Kulturen, als Auseinandersetzung mit fremden und eigenen Traditionen oder als Eisbrecher und Verständigung über alle Sprachbarrieren hinweg.  

Die Einblicke in die Weltliteratur und die Anekdoten von Nicole Gigers kulinarischen Reisen inspirieren uns wiederum zu eigenem Erzählen. Wildfremde Menschen sitzen sich bei dieser Tavolata gegenüber und unterhalten sich über ihre Familien, über Lebenswege und über selbstgemachten Quittenschnaps. Auch ich bin einmal mehr fasziniert von den besonderen Qualitäten von geteiltem Essen und Literatur. 

Beim Dessert kommt Gigers Freude am Kreieren noch einmal zum Zug. Ausgehend von mittelalterlichen Quittenrezepten und ermuntert von Goethes und Schillers Vorliebe für Quittengelee und Quittenbrot interpretiert sie eines der Kuchenrezepte neu und kreiert ein eigenes Quitten-Pekan-Crumble. In dieser Form zeigt sich das Kochen als Kunst und individueller Ausdruck von Kreativität. 

Nicole Gigers literarischer Lunch ist eine liebevoll gestaltete Veranstaltung und Ferrante, Frisch und Fenchelkraut weit mehr als nur eine Sammlung von Rezepten. 

Kürbis-Amaretti-Lasagne

Annäherung an das Unsagbare

Viel ist gesagt worden von der Unmöglichkeit, Gedichte gänzlich sprachlich zu fassen. Und gleichermassen ist ihre Art, das Unsagbare in Worte zu fassen, die Qualität, die vielleicht am häufigsten mit ihnen in Verbindung gebracht wird. Die Germanistin und Theologin Franzisca Pilgram-Frühauf hat ein Buch geschrieben, das sich genau diesem Thema nähert und in das Licht der Spiritualität stellt: «verdichtet – Poetische Annäherungen an Spiritualität» ist im Verlag rüffer & rub erschienen. Darin stellt sie einer Auswahl an Gedichten quer durch die Jahrhunderte Interpretationsansätze an die Seite und klopft sie auf ihren spirituellen Gehalt hin ab.

Am Montag gab es die Buchvernissage, heute wirft die Lektorin Vivian Tresch mit der Autorin ein Blick ins Buch und spricht mit ihr über die Ungenügsamkeit begrifflicher Definitionen. Mit dabei ist die junge Lyrikerin Sophie Thomas aus Bern, deren Gedicht das Buch abschließt. Franzisca Pilgram-Frühauf ist Fachverantwortliche für Spiritualität und Lebenssinn am Institut Neumünster und hat einen besonderen Schwerpunkt auf dem Umgang mit älteren Menschen. Was Spiritualität genau sei, könne sie nur schwer erklären. Fest steht, es geht um die großen existenziellen Fragen des Lebens, um Schlüsselmomente. Gerade Gedichte haben ihrer Meinung nach das Potenzial, mit diesen Themen offen, spielerisch, vorsichtig und ohne Scheu umzugehen – und dennoch niemals fertig mit ihnen zu werden. Verletzlichkeit wird hier in Hoffnung gewendet und auch der Humor ist niemals fehl am Platz, wo er sonst, im Umgang mit Lebens- und Krisenfragen oft unangebracht scheint. Ebenso offen möchte die Autorin mit den ausgewählten Gedichten umgehen und ihre Interpretationen als Denkanstöße zum Weiterlesen verstehen.

Sophie Thomas liest passend zu dieser Gelegenheit Gedichte, die sich Themen wie Identität und Brüchen widmen. Sie schätze an der Lyrik vor allem die Möglichkeit des sprachspielerischen Umgangs und die Konzentriertheit der Gattung. Ihr Buch «Umbau» ist im Selbstverlag erschienen, in den Denkbildern kann man einige ihrer Gedichte nachlesen.

Welchen Stellenwert hat das gedichtete Wort? Im Umgang mit dementen Menschen entfaltet es seine Kraft auf besonders eindrucksvolle Weise, berichtet Franzisca Pilgram-Frühauf. Die rythmische-klangliche Struktur, die bildreiche Sprache überlebe Brüche und setze sich tief hinein in den menschlichen Körper. Nicht selten komme es vor, dass gerade alte Menschen noch und wieder Verse aus ihrer Schulzeit rezitieren könnten, aber im Alltag völlig hilflos seien. Die kommentierte Auswahl zeigt das Potenzial auf und macht die Grenzen des Unsagbaren sichtbar als Möglichkeit, über sie hinweg zu gehen.

360° Eindrücke

Wir haben die neue Mediensymbiose von «Exklusive Vorpremiere: «LOS 360°VR (RC)» – eine Lesung durch scheinbare Räume im Rahmen» besucht und uns nach einer Flut von Sinneseindrücken zu untenstehenden Fragen Gedanken gemacht. Wie diese Veranstaltung technisch abläuft, wird bereits in diesem Beitrag erläutert.

Was hat dir am besten gefallen?

A: Die Szenerie der verschiedenen Räume war mit vielen spannenden Details gefüllt. Diese zu erkunden, war ein faszinierendes Abenteuer. Besonders imposant fand ich den Raum des Meeres. Der Zuschauer befindet sich dicht genug unter der Oberfläche, um das Rauschen der Wellen zu vernehmen, kann aber gleichzeitig einen Blick in die Tiefe werfen.

X: Das war für mich eindeutig die erste Szene, die einen Theatersaal in abgedunkeltem Licht am Abend zeigte. Diese war sehr realitätsnah und es hat Spass gemacht, die Leute um sich herum zu beobachten. Die Stimmung war hier sehr angenehm und auch das Tête-à-Tête mit Klaus Merz war als Einführung ein raffiniertes Detail.

Was hat dir nicht so gefallen?

A: Sich in einer VR zurechtzufinden, bedeutet immer auch sich sehr vielen Sinneseinflüssen gleichzeitig auszusetzen. Im Gegensatz zu einem klassischen Kinobesuch ist es aber nicht möglich sich vom Bild abzuwenden. Selbstverständlich macht das einen Grossteil der imposanten Wirkung des VR aus; über eine Zeitspanne von einer halben Stunde ist es jedoch auch sehr ermüdend.

X: Die Übergänge zwischen den Sequenzen empfand ich oft als verwirrend. Ich denke, dass mir klarere Übergänge einen besseren Überblick vermittelt hätten. Die Szene mit den beiden Reitern konnte ich nicht in einen Zusammenhang setzen, das hat mich mehr verwirrt als begeistert.

Wie hat in deinen Augen die Symbiose von Literatur und VR funktioniert?

A: Teilweise gut, teilweise weniger gut. Die erlebten Szenerien waren für mich mit der Stimme von Klaus Merz stimmig. Die Hintergrundgeräusche der Räume – brechende Wellen, tuschelnde Theaterbesucher, heulende Schneegestöber – waren mir persönlich zu laut. Entsprechend rückte die Stimme und somit die Erzählung in den Hintergrund.

X: Grundsätzlich denke ich, dass die Symbiose eine grossartige Idee ist und bei sich passend gewählter Literatur sehr gut funktionieren kann. Ich empfand jedoch bei diesem Projekt den Inhalt der Erzählung als zu schwerwiegend für eine Visualisierung mit der VR-Technik.

Wem würdest du den Besuch empfehlen?

A: Ziel des Projektes war es, eine grössere Masse an Zuschauenden anzuziehen, was – wenn man die Vorführungen im Rahmen von Zürich liest zählt – durchaus gelungen ist. Dennoch scheint mir das Projekt immer noch auf ein sehr spezifisches Segment zugeschnitten, da mit Klaus Merz’ LOS eher schwerere Lektüre gewählt wurde, die wohl nicht allen zusagt. Trotzdem empfehle ich den Besuch denjenigen, die bis jetzt noch nicht in den Kontakt mit VR gekommen sind. Die Bilder sind ein Erlebnis für sich.

X: Klaus Merz-Fans wären sicherlich angetan, genauso wie Personen, die vorwiegend an Literatur und etwas weniger an Technik interessiert sind. Für Kinder empfinde ich die Technik als geeignet, den Inhalt der Erzählung jedoch als unpassend. Personen, die nur an der VR-Technik interessiert sind, würde ich vermutlich ein anderes Projekt empfehlen, da hier berechtigterweise die Literatur und ihr Inhalt klar im Vordergrund stehen.

Wie siehst du die Zukunft dieser Mediensymbiose?

A: Gerade jetzt, wo VR oder auch AR (Augmented Reality) vermehrt auf den privaten Markt kommt, glaube ich, dass einige neue Medienformen wie das Projekt 360° entstehen. Es ist aber auch klar, dass solche die bestehenden Formen weder ersetzen können noch sollen.

X: Ich denke, dass die VR-Technik für Kurzfilme sehr gut geeignet ist und auch ein Literaturprojekt sinnvoll damit realisiert werden kann. Andere kürzere Filme oder Aufnahmen könnten so realitätsnah ausfallen, was ich mir besonders für sehr bildhafte Literatur gut vorstellen könnte. Ich bin jedoch nicht der Meinung, dass daraus lange Kinofilme entstehen werden.

Xenia Bojarski und Anouschka Mamie

Ein Gespräch in drei Sprachen

Es beginnt langsam zu dämmern, als die gespannten Zuhörerinnen und Zuhörer im Erkerzimmer des Karls eintrudeln. Die Stimmung ist ruhig und friedlich, als der Moderator zu sprechen beginnt. Auf Deutsch – das muss explizit dazugesagt werden, denn die Sprachvielfalt ist bei dieser Lesung beachtlich. Der Moderator erläutert die Frage jeweils auf Deutsch für das Publikum und richtet schliesslich die lettische Variante der Frage an Nora Ikstena. In der Mitte sitzt Vera Bommer, Schweizer Schauspielerin, die an diesem Abend die deutsche Stimme des Romans «Muttermilch» gibt. Im linken Ohrensessel sitzt die Autorin des Werkes, Nora Ikstena, die wider mein Erwarten komplett auf Englisch sprechen wird. Ihr Deutsch sei nicht so gut, erklärt sie, aber sie habe einige Zeit in den USA verbracht.

Diese Konstellation der verschiedenen Sprachen und damit auch Personen, die den Roman an diesem Herbstabend für die Zuhörenden zum Leben erwecken, ist der Aspekt, welcher mich an der Lesung am meisten faszinieren wird.

Nora Ikstena beginnt die Lesung mit einer kurzen Einleitung. «Muttermilch» ist ein Roman, in der Ikstena ihre Kindheit und Jugend in Lettland sowie das schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter illustriert. Sie nennt den Text jedoch an keiner Stelle autobiografisch. Ikstena beendet die Einleitung mit einer wunderschönen Antwort auf die Frage des Moderators, weshalb ihr Text in den verschiedensten Ländern der Welt so gut rezipiert werde: «The love between a mother and a daughter can happen anywhere in the world.»

Dann beginnt die lettische Autorin, eine Passage auf Lettisch vorzulesen. Der Klang dieser baltischen Sprache war mir bisher absolut unbekannt, und so klingt auch das Vorgelesene im ersten Moment etwas befremdlich. Trotz der hohen Zahl an plosiven Lauten wirkt es dennoch ruhig und regelmässig.

Nun findet ein Sprecherinnen- und Sprachwechsel statt. Sarah Bommer beginnt auf Deutsch vorzulesen. Die Schauspielerin artikuliert hervorragend. Das Vorgelesene tritt in den Vordergrund, jedes Wort wiegt schwer und lässt die Zuhörenden nachdenklich werden. Ikstenas Wortwahl ist gezielt, gnadenlos, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, wie sie es in ihrer Kindheit tun musste. Vielleicht tat sie es beim Schreiben des Romans gerade deshalb nicht.

Im Anschluss übernimmt der Moderator mit einer Fragerunde, bevor Bommer erneut liest. Der Inhalt des Romans überfällt einen, hinterlässt bei mir ein beklemmendes Gefühl.

Zum Abschluss beantwortet Ikstena geduldig die zahlreichen Publikumsfragen, die sich nicht nur um den Roman und den Schreibprozess drehen, sondern vor allem auf die politische Situaiton Lettlands abzielen. Zum Schreibprozess sagt sie: «It was a hard process. The power oft he book sometimes takes you back and you have to keep going.» Ich bin begeistert von Ikstenas überlegten und sensiblen Antworten.

Die Sprachvielfalt entwickelt eine enorme Eigendynamik, welche das Gespräch in keiner Weise hemmt oder aufhält. Im Gegenteil: Durch den ständigen Wechsel werden die Zuhörenden alle mit einbezogen und haben die Möglichkeit, am Diskurs teilzunehmen.

Was für ein tolles Gespräch! / What a great reading! / Kāda jauka saruna!

Erzählt eure Traumata!

Was laut Programmheft als Abend voller Poesie, Musik, Engagement und Liebe im Nahen Osten angekündigt wird, entwickelt sich zu einem aufwühlenden Abend über Grundsatzfragen der politischen Entfremdung und Annäherung, die lange anhalten.

Im Zentrum der heutigen Lesung im Salon in Zürich Wiedikon stehen Joana Osmans Debütroman «Am Boden des Himmels» (2019) und das von ihr unterstützte Friedensprojekt im Nahen Osten, «The peace factory». Die Lesung begleiten ein orientalisches Dinner und ein Musiker, welcher auf der von zwei Bernern erfundenen Handtrommel Hang (Berndeutsch für Hand) den Abend mit sphärischen Klängen einrahmt. Osmans Roman handelt von der jungen palästinensischen Journalistin Leyla (arab. Nacht), ihrer Beziehung zum israelischen Doktoranden Lior (hebr. Licht) und der Sichtung eines Engels in Galilea, welche die nahöstliche Welt in Aufruhr versetzt. Der Engel heisst Malek Sabateen, ist 19 Jahre alt und lässt die Menschen für einen Moment aus den Augen des Anderen – des vermeintlichen Feindes – sehen. Während die Einen in ihm den hoffnungsvollen Vorboten ihres Messias oder eine Widerstandsikone erkennen, schürt er bei den anderen Panik und wird als vermeintlicher Terrorist sogar verhaftet.

Bereits in den Namen der beiden Protagonisten verdeutlicht Joana Osman, dass Konträres nicht grundsätzlich voneinander geschieden werden muss, sondern dass es durch das Herstellen einer Beziehung verbunden werden kann. Die 1982 geborene Deutsch-Palästinenserin besitzt eine grosse Familie im Libanon und ist selbst eine Art Bindeglied zwischen den Kulturen. Sie liest an diesem Abend nicht nur ausgewählte Textpassagen aus ihrem Roman, sondern kontextualisiert das Erzählte mit persönlichen Erlebnissen. Vor einigen Jahren hat sie im Nahen Osten Vortragsreisen über den Frieden unternommen, die sowohl in Israel als auch in Palästina sehr positiv aufgenommen wurden. Doch obwohl die beiden Parteien anscheinend für dieselbe Sache einstehen und den Frieden wollen, stehen sie gleichzeitig vor einer unüberwindbaren Grundsatzfrage: „Was muss denn passieren, damit die anderen endlich wahrnehmen, was uns bedrückt und unser Trauma verstehen?“, fragen sie sich gegenseitig. In ihrem Roman schickt Osman als Antwort nun den Engel Malek auf die Erde und versucht im Stil des magischen Realismus nachzuzeichnen, was passieren könnte, wenn das Wunder geschehen würde, dass man in den Anderen hineinschauen könnte.

Joana Osman: „Am Boden des Himmels“, Hoffmann und Campe 2019

Der neuralgische Punkt im Konflikt im Nahen Osten liegt laut Osman im Schweigen über die erlebten Traumata und in den verhärteten Denkmustern, weil wieder einfach niemand miteinander spricht. Also verfestigen sich Dehumanisierung und Viktimisierung und ergeben eine Abwärtsspirale, die früher oder später in Gewalt ausarten muss. An diesem Punkt entfernt sich der Abend immer stärker von einer Lesung und nähert sich einer engagierten Diskussionsrunde an, welche die Zuhörenden auf den gegenwärtigen Zustand im Nahen Osten sensibilisiert. Die Grundstimmung des Abends bleibt trotz der happigen Thematik hoffnungsvoll. Eine junge Generation wächst heran, die immer weniger an Ortsgrenzen gebunden ist und die mit Medien wie Instagram, Musik, Fotografie und Literatur Schwellen überschreitet. Es entstehen Bewegungen wie beispielsweise die „Peace Factory“, die einem Facebookpost des Grafikers Ronny Edry und seiner Frau Michal Tamir von 2012 zu verdanken ist. Der Post entstand im Moment, als Israel und Iran sich erneut den Krieg erklärt hatten und trägt den Text: “Iranians, we will never bomb your country. We love you.” Den Post begleitete ein offener Brief an die iranische Bevölkerung mit dem Wunsch, die Waffen niederzulegen und stattdessen miteinander zu reden und so die jeweils andere Seite kennenzulernen. Über Nacht ging die Botschaft viral und löste Reaktionen aus die von „Iran loves Israel“, zu „Israel loves Palestine“ und umgekehrt reichten.

Osman plädiert für die kleinen Schritte – die Babysteps – die sich an eine mögliche Lösung annähern können. Es gehe darum, dass die Leute endlich lernen würden, miteinander zu sprechen und das Schweigen aufbrechen. Natürlich ist sie zu realistisch, um der Illusion nachzugehen, dass dies allein den Konflikt lösen könnte, der seit Jahrzehnten schwelt. Doch Sprache und Dialog geben dem fratzenhaften Feindbild ein menschliches Gesicht und machen den Hass umso schwieriger, desto länger man hinhört. Sie schliesst mit der Bemerkung, dass die Lösung des Konflikts von solchen Dialogen vorangetrieben wird und es ihr hilft, die Hoffnung nicht zu verlieren. Ein langer Applaus folgt ihren Worten.

Blaues Blut

Kaum mit einem Fuss durch die Tür, schon streckt sich mir eine Hand entgegen, Höflichkeiten werden ausgetauscht und ich werde zu meinem Stuhl geleitet. Auf der Theke der Buchhandlung am Hottingerplatz warten bereits funkelnde Weingläser und eine goldgelbe Zopfkrone.

Königlich ist sie, die Begrüssungszeremonie, und entsprechend dem Flair des Abends wird schon bald in die royalen Geschichten der Schweiz eingetaucht, bei der Lesung von Michael van Orsouws «Blaues Blut».

Binnen weniger Minuten sorgt der Mann der Stunde auch schon für den ersten Lacher von vielen: Er stellt sich vor dem Publikum auf, der Königsmarsch schallt durch die Lautsprecher, goldene Glitzersteinchen formen auf seinem tiefblauen Hemd eine Krone.

Obwohl das Schweizervölkchen voller Stolz auf seine demokratische Vergangenheit zurückblicke, kämen wir nicht umhin, eine Schwärmerei für die Geschichten rund um die Aristokraten zu hegen, erklärt Orsouw und tröstet das Publikum noch im selben Atemzug damit, dass wir ja wenigstens einen Schwingerkönig hätten.

Um Einblick in sein Buch zu geben, spricht der Autor einige der dreizehn Geschichten an. Stets begleitet von Anekdoten aus seiner Recherchearbeit und Textstellen aus dem Buch, erfahren die Zuhörenden unter anderem, warum das Schloss Neuschwanstein von König Ludwig II nicht am Vierwaldstättersee erbaut wurde, inwiefern die schwedische Königsfamilie und Opernbälle nicht immer die beste Kombination sind und wie ein abgelenkter Gatte und der tragische Tod von Königin Astrid Mediengeschichte schrieben und gleichzeitig den Pionieren der Luftverkehrs zu neuen Höhen verhalfen.

Wenn auch die behandelten Persönlichkeiten schon ziemlich lange tot sind, trägt Orsouws lebendige Erzählweise zu einem gelungenen Abend bei und macht eindeutig Lust auf mehr. Als krönender Abschluss trägt der Autor ein Gedicht zum Buch vor und kann auch in dieser Gattung überzeugen.

Happy Birthday, kleine Raupe Nimmersatt

Heute fanden Laura und ich im Gemeinschaftszentrum Riesbach eine lange Raupe vor, welche aus vielen kleinen Gästen bestand.

Denn das beliebte Kinderbuch „Die kleine Raupe Nimmersatt“ feiert dieses Jahr einen runden Geburtstag: Sie wird 50 Jahre alt. Grund genug also, eine Geburtstagsparty zu feiern! Wir hören Geschichten, malen und basteln und auch ein Geburtstagskuchen darf nicht fehlen.

Nachdem der Anfang des Buches mit den Kindern gelesen wurde, liefen sie, mal mehr, mal weniger, in einer Reihe durch den Raum und sammelten als kleine Raupe Nimmersatt alle im Buch beschriebenen Lebensmittel ein.

Nach dem aktiven Teil folgte eine kleine Bastelrunde. Jedes Kind durfte einen Schmetterling basteln, da aus der kleinen Raupe einer wird, wenn sie gross ist. Und nach der kreativen Arbeit folgte das Vergnügen, denn dann gab es alle leckeren Lebensmittel, welche die kleine Raupe Nimmersatt am liebsten verspeist: Äpfel, Birnen, Wurst und einen besonders schönen Schokoladenkuchen.

HAPPY BIRTHDAY, KLEINE RAUPE!

Stein und Stein

Wer viel liest, kennt die lästige Suche nach einer erträglichen Leseposition. Krampf in den Schenkeln, Nackenmuskulatur, die zieht, Beine überschlagen, dann doch nicht, Rückenschmerzen, müder Hals und so weiter. Diese Begleiterscheinungen werden meist als störend oder bestenfalls gar nicht empfunden. Die Installation Lektüre zur Lage modifiziert nun die kontingenten Umstände des Lesens und schliesst sie in die Lektüre ein. 

Im Kein Museum, einem ehemaligen Tabakgeschäft, strömt einem bereits Lavendelduft entgegen. Betritt man den mit schwarzen Tüchern separierten Raum, findet man sich an eine Spa-Hotel-Werbung erinnert. Man darf sich an weichen Kissen und Tüchern bedienen, und in ruhigem Licht legt man sich rücklings auf eine Fläche aus kirschgrossen Steinchen. Über einem laufen dann die Texte mehrer Autor*innen über eine schief in den Raum hängende Projektionsfläche. Man liegt und liest dann für eine Weile, bis die Schlaufe durch ist. Dieses Setting gibt sich nun unter zweierlei Gesichtspunkten zu lesen. 

Einerseits ist da die buchstäbliche Position (oder eben Lage), die man zu den Texten einnimmt. Es ist überraschend bequem und man ruft sich auch gleich die Heilkraft spartanisch harter Bettalternativen ins Gedächtnis. Ein durchaus behagliches Lesevergnügen. Dann aber wird die Lage zusehends unbequem, womit die Verantwortlichen Kevin Mutter und Adrian Baumberger auf gelungene Weise mit der vermeintlichen Gemütlichkeit brechen. Das lesende Subjekt kann sich nirgends über längere Zeit dem Müssiggang hingeben. Irritierend wirkt dabei die sanft-elektronische Massage-Mucke im Hintergrund, die zwar Stimmung verbreitet, aber vom Lesen eher ablenkt. 

Andererseits sind da die kurzen Erzählungen und formal freien Gedichte, die elf Autor*innen zum Denkbild Lage verfasst haben. Daraus resultierten eher kryptische aber auch erzählerische Gedichte, eine kurzgedachte Allegorie, skizzenartiges und kleine Erzählungen. Einige überzeugende Texte sind darunter (erwähnt sei Alexandra Zyssets Fake-Story über ein Dorf im Jura) und vor allem prosaisches funktioniert gut in der Installation. Ausgewählt hat das Magazin Stereofeder.

Natürlich ergibt sich der Wert der Installation aber aus der Verknüpfung der beiden Aspekte, denn sonst könnte man das ja alles besser zu Hause lesen oder sein eigenes Buch aufs Steinbett mitbringen. Der unreflektierte Gesamteindruck, der einem zuvorderst bleibt, ist positiv. Der Einbezug der Umstände in die Lektüre wirkt nicht aufgestülpt, sondern in seiner Absicht berechtigt. Aber gerade weil man sich selbst als lesendes Subjekt erlebt, wünscht man sich, diese Perspektive in den Texten aufgenommen zu finden. Ausserdem eignen sich die stark lyrischen Texte, die ein ständiges Zurückspringen der Lesenden verlangen, leider gar nicht für das Format. 

Schlussendlich lohnt sich der Besuch in der Mutschellenstrasse durchaus, um die im Ansatz aussagekräftige Installation zu sehen, auch wenn einiges in der Ausführung nicht ganz will. Es ist kein modernitätsgeiler Versuch, Literatur im Digital Age schmackhaft zu machen, sondern ein innovatives Experiment junger Kunstschaffender, das Lesen als Praxis in anderen Medien zu reflektieren. Und «artistry trumps mastery», wie Maggie Nelson so schön schreibt.