Wie ein historischer Roman entsteht

Was braucht es für einen guten Roman? Sprachvirtuosität, aber auch gute Geschichten, meint NZZ-Inlandredaktor und Historiker Marc Tribelhorn auf dem Podium im Kosmos. Zudem müssten diese Geschichten in der Vergangenheit liegen,, wie schon Thomas Mann in «Der Zauberberg» wusste.

Auf dem Podium neben Tribelhorn sitzt Alex Capus, ein begnadeter Geschichtenerzähler. Seine Bücher basieren oft auf historischen Ereignissen, sind aber Romane, beinhalten also stets auch Fiktionen. Auf Einladung der NZZ wird er an diesem Nachmittag über seinen Schaffensprozess plaudern, vor allem darüber, wie aus der Recherche ein historischer Roman entsteht.

Capus teilt die Meinung von Thomas Mann. Sei man zu nah an einer Geschichte dran, tauge der Stoff nichts für einen Roman. Für die literarische Betrachtung sei eine gewisse Distanz zum Geschehen notwendig. Capus schreibt deshalb meistens nicht über die Gegenwart. Trotzdem sei der Gegenstand seiner Betrachtungen immer das Gesellschaftliche: «Wieso lebt der Mensch, wie er lebt?». 

Und das Leben schreibt ja bekanntlich die besten Geschichten. Davon hält Capus allerdings nichts, denn das Leben habe keine Struktur. Ein Roman entstehe durch die Wahrnehmung des Betrachters oder der Betrachterin und welche Daten diese*r selektiert und in seine Geschichten aufnimmt. Erst durch das Weglassen von Fakten ergebe sich eine Struktur. Er nennt das einen Kristallisationsprozess: Das Wesentliche verhärte sich zum Kristall. Das heisst, aus dem akkumulierten Wissen wird die Essenz herausgefiltert, die Fakten konzentrieren sich zu einer Form: dem Roman.

Wann immer er auf kuriose Verläufe im Lebenslauf einer Person stosse, finde er für die Wogen im Leben dieses Menschen und den Wirren der Zeit, die diese*r durchlebte, Platz in einem Roman. Geschichte bestehe aus Kausalitäten, diesen geht Capus nach. Fehlt ein Glied in der Kette, erfinde er dieses dazu. Auf dem Cover seiner Bücher steht stets «Roman», deshalb dürfe er das. Er habe keinen Anspruch, in der Geschichtswissenschaft ernstgenommen zu werden. Er beleuchte Menschenleben, und zwar mit dem Respekt, der jeder und jedem zukomme.

Es sind die Alltäglichkeiten, die ihn interessieren. So recherchiert er auch mal für eine Geschichte, ob der Staubsauger im Ersten Weltkrieg schon erfunden war oder wie ein Dampfschiff gebaut wird. Die Menschen, die ihn zu seinen historisch-fiktiven Romanen inspirieren, finde er stets über Umwege oder per Zufall: über eine Bildunterschrift, einen Vermerk in einem Buch, über Archivmaterial. Dabei spricht er vom Verlieben auf den ersten Blick: Ein Thema müsse ihm sofort gefallen, sonst werde nichts daraus.

Wie viel Fiktion eine Erzählung erträgt, die sich in ihren Grundzügen tatsächlich zugetragen hat und wie viel Zeitgeschichte in einem historischen Roman in ihrer wissenschaftlichen Richtigkeit eingebunden werden soll, bleibt an diesem Nachmittag offen. Auch wie man auf Unstimmigkeiten hinweisen könnte. Wollte man an solche und andere Fragen an Capus richten, wurde man übrigens darauf verwiesen, diese digital einzureichen. Das Moderationsteam wählte dann aus, welche gestellt würden – eine durchaus bedenkenswerte Vorgehensweise.

Eine Stunde für ein Gespräch mit einem Autor ist angenehm kurz, aber auch ein wenig sportlich angesetzt. Die Zeit geht rasant vorüber, vor allem wenn man den Geschichten Capus’ lauscht, der live fast noch besser erzählen kann als auf Papier. Dabei hat man einen Einblick in den Schaffensprozess eines Autors erhalten, aber sich auch ein Bild vom Schriftsteller hinter den Büchern machen können. Dieser ist sich seines Könnens und seiner Stellung in der Schweizer Autor*innenszene durchaus bewusst ist, wirkt dabei aber keineswegs arrogant. Denn: «Ich denke nicht an Flaubert, wenn ich schreibe. Ich bin der Alex aus Olten und gebe mein Bestes», sagt Alex Capus zum Schluss.

Ein Gespräch in drei Sprachen

Es beginnt langsam zu dämmern, als die gespannten Zuhörerinnen und Zuhörer im Erkerzimmer des Karls eintrudeln. Die Stimmung ist ruhig und friedlich, als der Moderator zu sprechen beginnt. Auf Deutsch – das muss explizit dazugesagt werden, denn die Sprachvielfalt ist bei dieser Lesung beachtlich. Der Moderator erläutert die Frage jeweils auf Deutsch für das Publikum und richtet schliesslich die lettische Variante der Frage an Nora Ikstena. In der Mitte sitzt Vera Bommer, Schweizer Schauspielerin, die an diesem Abend die deutsche Stimme des Romans «Muttermilch» gibt. Im linken Ohrensessel sitzt die Autorin des Werkes, Nora Ikstena, die wider mein Erwarten komplett auf Englisch sprechen wird. Ihr Deutsch sei nicht so gut, erklärt sie, aber sie habe einige Zeit in den USA verbracht.

Diese Konstellation der verschiedenen Sprachen und damit auch Personen, die den Roman an diesem Herbstabend für die Zuhörenden zum Leben erwecken, ist der Aspekt, welcher mich an der Lesung am meisten faszinieren wird.

Nora Ikstena beginnt die Lesung mit einer kurzen Einleitung. «Muttermilch» ist ein Roman, in der Ikstena ihre Kindheit und Jugend in Lettland sowie das schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter illustriert. Sie nennt den Text jedoch an keiner Stelle autobiografisch. Ikstena beendet die Einleitung mit einer wunderschönen Antwort auf die Frage des Moderators, weshalb ihr Text in den verschiedensten Ländern der Welt so gut rezipiert werde: «The love between a mother and a daughter can happen anywhere in the world.»

Dann beginnt die lettische Autorin, eine Passage auf Lettisch vorzulesen. Der Klang dieser baltischen Sprache war mir bisher absolut unbekannt, und so klingt auch das Vorgelesene im ersten Moment etwas befremdlich. Trotz der hohen Zahl an plosiven Lauten wirkt es dennoch ruhig und regelmässig.

Nun findet ein Sprecherinnen- und Sprachwechsel statt. Sarah Bommer beginnt auf Deutsch vorzulesen. Die Schauspielerin artikuliert hervorragend. Das Vorgelesene tritt in den Vordergrund, jedes Wort wiegt schwer und lässt die Zuhörenden nachdenklich werden. Ikstenas Wortwahl ist gezielt, gnadenlos, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, wie sie es in ihrer Kindheit tun musste. Vielleicht tat sie es beim Schreiben des Romans gerade deshalb nicht.

Im Anschluss übernimmt der Moderator mit einer Fragerunde, bevor Bommer erneut liest. Der Inhalt des Romans überfällt einen, hinterlässt bei mir ein beklemmendes Gefühl.

Zum Abschluss beantwortet Ikstena geduldig die zahlreichen Publikumsfragen, die sich nicht nur um den Roman und den Schreibprozess drehen, sondern vor allem auf die politische Situaiton Lettlands abzielen. Zum Schreibprozess sagt sie: «It was a hard process. The power oft he book sometimes takes you back and you have to keep going.» Ich bin begeistert von Ikstenas überlegten und sensiblen Antworten.

Die Sprachvielfalt entwickelt eine enorme Eigendynamik, welche das Gespräch in keiner Weise hemmt oder aufhält. Im Gegenteil: Durch den ständigen Wechsel werden die Zuhörenden alle mit einbezogen und haben die Möglichkeit, am Diskurs teilzunehmen.

Was für ein tolles Gespräch! / What a great reading! / Kāda jauka saruna!