Blaues Blut

Kaum mit einem Fuss durch die Tür, schon streckt sich mir eine Hand entgegen, Höflichkeiten werden ausgetauscht und ich werde zu meinem Stuhl geleitet. Auf der Theke der Buchhandlung am Hottingerplatz warten bereits funkelnde Weingläser und eine goldgelbe Zopfkrone.

Königlich ist sie, die Begrüssungszeremonie, und entsprechend dem Flair des Abends wird schon bald in die royalen Geschichten der Schweiz eingetaucht, bei der Lesung von Michael van Orsouws «Blaues Blut».

Binnen weniger Minuten sorgt der Mann der Stunde auch schon für den ersten Lacher von vielen: Er stellt sich vor dem Publikum auf, der Königsmarsch schallt durch die Lautsprecher, goldene Glitzersteinchen formen auf seinem tiefblauen Hemd eine Krone.

Obwohl das Schweizervölkchen voller Stolz auf seine demokratische Vergangenheit zurückblicke, kämen wir nicht umhin, eine Schwärmerei für die Geschichten rund um die Aristokraten zu hegen, erklärt Orsouw und tröstet das Publikum noch im selben Atemzug damit, dass wir ja wenigstens einen Schwingerkönig hätten.

Um Einblick in sein Buch zu geben, spricht der Autor einige der dreizehn Geschichten an. Stets begleitet von Anekdoten aus seiner Recherchearbeit und Textstellen aus dem Buch, erfahren die Zuhörenden unter anderem, warum das Schloss Neuschwanstein von König Ludwig II nicht am Vierwaldstättersee erbaut wurde, inwiefern die schwedische Königsfamilie und Opernbälle nicht immer die beste Kombination sind und wie ein abgelenkter Gatte und der tragische Tod von Königin Astrid Mediengeschichte schrieben und gleichzeitig den Pionieren der Luftverkehrs zu neuen Höhen verhalfen.

Wenn auch die behandelten Persönlichkeiten schon ziemlich lange tot sind, trägt Orsouws lebendige Erzählweise zu einem gelungenen Abend bei und macht eindeutig Lust auf mehr. Als krönender Abschluss trägt der Autor ein Gedicht zum Buch vor und kann auch in dieser Gattung überzeugen.

Nicht der Autor, sondern die Schauplätze im Fokus

Der Nebel ist längst verschwunden, die Sonne scheint warm auf das herbstliche Zürich. Das Zürich-liest-Extratram steht am Bellevue bereit. Nach und nach werden die ersten Plätze belegt. Eine Frage beschäftigt alle Einsteigenden: Welches ist wohl der beste Platz? Nur wenige Plätze bieten freie Sicht auf Demian Lienhard, der ungefähr in der Mitte des Trams vor seinem Mikrophon steht. Die vielen Kurven der Tramführung, so hofft man, werden es wohl allen erlauben, ab und an einen kurzen Blick auf den Lesenden zu erhaschen.

Die Tramlesung führt an diesem Samstag vom Bellevue bis zum Bahnhof Altstetten und wieder zurück – vorbei an den Schauplätzen von Demian Lienhards Debütromans Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Eine Tramszene gebe es leider keine mehr in seinem Roman, bedauert Demian Lienhard gleich zu Beginn. Die Tramszene, welche ursprünglich geplant war, sei gestrichen worden. Lienhard beginnt zu lesen und nimmt die Zuhörenden mit in ein Zürich der 1980er und 1990er Jahre: Es ist dies die Geschichte der Protagonistin und Ich-Erzählerin Alba, eine Geschichte der Jugendunruhen und der Drogen.

Die Zuhörer*innen drehen und wenden ihre Köpfe zu Beginn der Fahrt angestrengt in Richtung des Autors. Es sei doch schon ungewöhnlich, den Autor bei einer Lesung nicht frontal vor sich zu haben, meint ein Zuhörer. Für einmal stehen also heute nicht der Autor und dessen Bühnenpräsenz im Zentrum des Interesses, sondern die Schauplätze seines Debütromans. Und so lassen die Zuhörenden ihre Blicke nach draussen schweifen. Man lauscht der Stimme Lienhards, nachdenklich aus den Tramfenstern schauend oder mit geschlossenen Augen sinnierend.

Demian Lienhard liest verschiedene Teile seines Buches vor und informiert das Publikum ab und an über die Handlung oder die Schauplätze des Romans. Das Publikum lauscht gespannt und erfährt etwa von Albas erster Heroinerfahrung während einer Party: Die Wirkung von Heroin sei wie «wenn dir jemand eine Ohrfeige aus dem Gesicht zieht und mit ihr die ganzen Schmerzen wegnimmt, und zurück bleibt nur viel zu viel Glück, um es zu fassen. So ungefähr.» Selbstredend bleibt es für Alba nicht bei diesem einen Mal. In einer weiteren Passage begleiten die Zuhörenden Alba an den Platzspitz: In den 1980ern ein Ort der Gewalt und des Elends. Beim Anblick des heutigen Platzspitz – der an diesem milden Herbsttag friedlich daliegt und zu einem Spaziergang einlädt – ist dies kaum vorstellbar.

Gegen Ende der Tramfahrt bleibt, wenn auch nur kurz, Zeit für Fragen. «Ich seh‘ allerdings die Leute nicht», lacht Lienhard und lässt seinen Blick hin und her schweifen. Eine Frau in den hinteren Teilen des Trams interessiert sich dafür, wie er den zu seinem «Stoff» (…) gekommen sei? Er habe sich seit 2012/13 intensiver mit dem Thema Platzspitz und Jugendunruhen beschäftigt, antwortet Lienhard. Er habe sich bei der Recherche historischer Fotos, Reportagen und Dokumentarfilme bedient. Auch in Gesprächen habe er sich dem Thema angenähert. Ein guter Freund seines Bruders etwa, der die Platzspitz-Zeit überlebt hat (im Gegensatz zu vielen Figuren aus dem Roman), habe ihm einiges als Zeitzeuge erzählen können.

Das Tram steht wieder still und noch beim Aussteigen ist das deprimierende Schicksal Albas beinahe wieder vergessen – zu bunt und sonnig ist dieser Herbsttag in Zürich.

So gar nicht «nicht schlecht»: Lesung von Thomas Meyer

Ich bin eigentlich 20 Minuten zu früh dran, muss mich jedoch, nachdem ich das Obergeschoss des Micasa Pop-up Stores erreicht habe, mit einem Blick auf die Uhr noch einmal absichern. Ich fühle mich, als wäre ich 20 Minuten zu spät. Der umfunktionierte Teil der Verkaufsfläche ist rappelvoll. Die 50 weissen Klappstühle sind längst besetzt und so wird die ungewöhnliche Location der Lesung am Samstagmorgen zu einem Glücksgriff. Wo sonst könnte man auf der Suche nach Sitzgelegenheiten besser fündig werden als in einem Möbelgeschäft? Kurzerhand schaffen die Organisierenden Sitzsäcke, Hocker, mehr Stühle heran, einige Zuhörende dürfen sogar auf einem Bett lümmeln. Vorne in der Ecke steht ein blaues Sofa – noch mit Preisschild versehen. Thomas Meyer nimmt, farblich passend zum Sofa gekleidet, pünktlich um 11 Uhr auf besagtem Sofa Platz. Vor lauter Menschenköpfen vor mir kann ich Meyer kaum noch sehen und muss den Hals recken, um doch noch einen Blick auf ihn zu erhaschen, was jedoch meinem Vergnügen keinesfalls einen Abbruch tun wird.

Er habe etwas getan, was seinem Autorenego nicht gut tue, meint Meyer zu Beginn. Er habe nämlich auf Amazon Rezensionen zu seinem neuen Buch «Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin» gelesen und liest sogleich ein – natürlich nicht positiv ausfallendes – Exemplar vor.

Darauf rekapituliert er kurz den Ausgang des ersten «Motti-Romans». Er hole «Motti nun nach sieben Jahren (Meyer veröffentlichte den ersten Wolkenbruch-Roman 2012) wieder aus seinem Hotelzimmer», in welches Motti sich am Ende des ersten Buches geflüchtet hatte.* Nun beginnt Meyer die Lesung. Von dem Motti, der zu Beginn des ersten Buches illustriert wurde, ist gewiss nicht mehr viel übrig. So wenig nämlich, dass sich dieser kaum mehr im Spiegel wiederzuerkennen vermag. Nach dem Bruch mit seiner jüdischen Familie (in einer jüdischen Zeitung entdeckt Motti sogar seine eigene Todesanzeige), stellt sich ihm nun ein Herr Namens Gideon Hirsch vor, welcher ihn in die Gruppe der «verlorenen Söhne Israels» aufnehmen möchte. Obwohl Motti überrumpelt und skeptisch ist, wird er, ehe er sich versieht, Orangenfarmer in Tel Aviv. Und das ist erst der Anfang…

Thomas Meyer liest jeweils mehrere Seiten am Stück, erzählt dazwischen zusammenfassend, was passiert und setzt an einem späteren Zeitpunkt im Buch wieder an. Anders als beim ersten Buch verfügt der neue Roman über zwei, zu verschiedenen Zeiten angesiedelte Erzählstränge. Einer davon schildert natürlich Mottis Weg, in dem seine Mame nicht fehlen darf, auch wenn er mit seiner Familie zuvor gebrochen hat. Eine nach wie vor streitlustige Dame, die am besten weiss, wie Matzenknödel zubereitet werden und sich darüber lautstark mit «Schoschanna», dem jüdischen Pendant zu Alexa, streiten kann.

Das Publikum ist an diesem Samstag hervorragend aufgelegt, lacht durch die gesamte Lesung hindurch viel und auch ich muss immer wieder schmunzeln. Dazu kommt, dass Meyers Lese- und Erzählstil schlicht fabelhaft sind. Seine Stimme ist kräftig, erfüllt das gesamte Obergeschoss, Intonation und Stimmfarbe sind ruhig und mitreissend zugleich. Und so gelingt es ihm, sowohl Motti als auch dessen Mame (mit ihren nicht selten geäusserten Kraftausdrücken) so authentisch zu illustrieren, dass ich mich keineswegs darüber wundere, dass er das zum Roman dazugehörige Hörbuch ebenfalls selbst liest.

Nachdem Meyer nach 45 Minuten die letzte Passage liest – wobei er den Ausgang selbstverständlich nicht verrät – fühle ich bereits so sehr mit Motti mit, dass ich sofort das Ende erfahren will. Zum Abschluss hat Thomas Meyer sich etwas besonderes überlegt: Er liest einige Begriffe aus Meyers kleinem Taschenlexikon (seinem eigenen Taschenlexikon) vor. Darin hat er über 150 verschiedene Begriffe neu und scharfsinnig pointiert definiert. «Nicht schlecht» definiert er so beispielsweise als «schlecht».

Ich werde die Lesung definitiv weder als «nicht schlecht» noch «schlecht» (wobei dies ja das Gleiche zu sein scheint) in Erinnerung behalten und bin nach diesem Morgen definitiv bekennender Thomas-Meyer-Fan.

*Die erzählte Zeit im Roman umfasst jedoch keinen Unterbruch von sieben Jahren. Der Übergang ist nahezu nahtlos.

Franz Hohlers «Die Rückeroberung» in Zeiten der Klimabewegung

In den Gewächshäusern der Stadtgärtnerei werden Pflänzchen herangezogen. Es könnte Salat sein oder Kohl oder etwas gänzlich Ungeniessbares, das fällt nicht in meinen Fachbereich. Auf jeden Fall wächst das junge Grün in wohlgeordneten Reihen heran, jedem Spross ist ein genau bemessenes Fleckchen Erde in diesem Indoor-Acker zuerkannt. Eine spannende Kulisse für dieses Podiumsgespräch, in dem mit Franz Hohler über die ungezähmte Natur gesprochen wird und über die Rückkehr des Wilden in eine Stadt, die die Ordnung liebt.

So eine Rückkehr, eine «Rückeroberung» vielmehr, hat Franz Hohler vor vierzig Jahren mit einem Adler eingeläutet, den er auf seinem Nachbarhaus in Oerlikon hat landen lassen. Seither lässt seine Erzählung die Leser*innen nicht mehr aus ihren Fängen. In der Schule haben es viele von uns gelesen und einige Leute soll Die Rückeroberung sogar dazu angestiftet haben, ihre Gärten verwildern zu lassen.

Hohler trägt Die Rückeroberung vor, und das ist eine Erfahrung für sich: Der Schriftsteller hat eine Bühnenpräsenz, der sich niemand im Publikum entziehen kann. Es lacht herzhaft, wenn Hohler eine ganze Herde Hirsche durch die Zürcher Innenstadt spazieren lässt und schaudert, als die ersten Wölfe auftauchen. Als er von riesigen Schlingpflanzen erzählt, glaube ich zu sehen, wie man den zarten Pflänzchen im Hintergrund zunehmend beunruhigte Blicke zuwirft.

Zum anschliessenden Gespräch mit dem Schriftsteller haben sich vier Personen versammelt, die sich mit Stadt und Natur aus unterschiedlichen Perspektiven beschäftigen. Unter der Moderation von Walter Bersorger («Einfach Zürich») diskutiert im Namen der Natur Biologe Ueli Nagel, der Die Rückeroberung in seiner Entstehung begleitet und bei Hohler für die Wölfe ein gutes Wort einzulegen versucht hat, Seite an Seite mit Benjamin Kämpfen («Biodivers»), der Hohlers Erzählung im Licht der aktuellen Debatte um invasive Neophyten liest. Die Brücke zur Stadt schlägt Christine Bräm («Grün Stadt Zürich»), die sich wünscht, die Bäume würden in Zürich tatsächlich so schnell wachsen wie in Die Rückeroberung. Von Berufs wegen «für das Graue zuständig» ist schliesslich Katrin Gügler vom Amt für Städtebau, der es die Fledermäuse besonders angetan haben und die sich freut, dass Hohler bei der Renovation seines Hauses an Schlupflöcher für Zwergfeldermäuse gedacht hat. Alle Anwesenden sich sich einig: Zürich soll grüner werden, die Natur soll wieder mehr Raum einnehmen dürfen in unserer Stadt.

Doch mit der Natur kommt auch das Unberechenbare zurück in unseren wohlgeordneten Lebensraum. Erst kürzlich habe, so berichtet Christine Bräm, am Schanzengraben ein Biber einen Menschen erschreckt. Kurz vor Halloween ist sowas vielleicht noch tragbar und ein Biber ist schliesslich noch kein Bär wie in Hohlers Erzählung – aber wie viel Natur will man wirklich in den Alltag lassen? Wie gehen wir damit um, wenn wir die Natur einladen und sie sich dann nicht an die Grenzen unserer Pärke, unserer Gärten oder der durchgestylten Grünfassade eines Hochhauses hält, wo wir sie ganz chic finden, sondern sich den Raum erobert, der ihr gefällt? Der Vorstellung von Häschen auf der Bäckeranlage und Rehlein am Üetliberg mag uns das Herz erwärmen, doch was, wenn am Abend plötzlich der Luchs durchs Fenster herein blinzelt? Die Rückeroberung zeigt uns ein Zürich, in dem wir uns mit einer wilden Natur arrangieren müssen, die wir einst gezähmt oder aus ihrem Raum verdrängt haben.

Heute, eine knappe Woche nach der «Klimawahl», erscheint uns Hohlers Geschichte so aktuell wie nie. Das merkt man auch an den Meldungen des Publikums, das teils kritische Fragen an die Vertreterinnen der Stadt stellt. Die Natur, das Klima, die grüne Stadt bewegt die Zürcher*innen. Doch schlussendlich ist Die Rückeroberung eine zeitlose Erzählung, die das Eindringen des Unerwarteten, des Fremden ins Leben thematisiert. Die Geschichte fragt uns, wie wir mit Veränderungen umgehen, die unseren Platz in der Welt in Frage stellen und Anspruch stellen auf einen Anteil an unserem Raum.

Mit diesen Fragen darf sich das Publikum über den Apéro hermachen, bevor es in die Zürcher Nacht hinaus schwärmt. Als ich mich auf zum Tram mache, schaue ich kurz links und rechts, ob nicht etwa ein Bär um die Ecke des Gewächshauses kommt, und nehme mir vor, meinem Basilikum künftig mit besonders viel Respekt zu begegnen.

Der Vorleser stiehlt die Show

Das Café Odeon ist an diesem Samstagmorgen bis auf den letzten Platz ausgebucht. 60 Besucherinnen und Besucher sitzen eng nebeneinander, nippen konzentriert an ihren Cappuccinos und frischen Orangensäften und bemühen sich sichtlich, das Frühstücks-Dickicht aus Gläsern, Tassen und Tellern auf den kleinen Bistro-Tischchen nicht umzustossen. Als Hauptakteure der Frühstücks-Matinee fungieren jedoch nicht die Frühstücksspeisen, sondern die neuentdeckten Romane von Ulrich Alexander Boschwitz «Der Reisende» und «Menschen nebem dem Leben», aus denen Schauspieler Thomas Sarbacher Textstellen vorlesen wird, und der Berliner Verleger Peter Graf.

Menschen neben dem Leben von Ulrich Alexander Boschwitz, Klett Cotta 2019

Im Grunde kennt man das Café Odeon ja eigentlich in keinem anderen Zustand als «gut besucht» und weiss um die lärmende Geräuschkulisse und die heikle Mission, nur schon einen Platz für zwei finden zu können. Die Idee, in dieser Kulisse eine Lesung abzuhalten, wirkt akustisch daher durchaus ambitioniert. Während Peter Graf einleitende Worte zum Autor verliert und die Hintergründe seiner literarischen Wiederentdeckung erklärt, ist das Publikum erstaunlich ruhig. Nur manchmal hört man das leise Scheppern einer etwas zu achtlos hingestellten Kaffeetasse oder ein Verschlucken, das sich in nonchalanten Räuspern tarnt. Die zwei Romane Ulrich Alexander Boschwitz‘ erschienen, als Deutschland unter dem NS-Regime stand. Er schrieb im Exil, wurde immer wieder ausgewiesen und schliesslich nach Australien in ein Internierungslager abgeschoben. Auf der Hinfahrt 1940 verscholl das Skript eines noch unveröffentlichten Romans. Auf der Rückfahrt nach England im Jahr 1942 wurde der Dampfer, auf dem sich Boschwitz und das Skript seines vierten und ebenfalls unveröffentlichten Romans befanden, torpediert und die beiden versanken tragischerweise in den Untiefen des Meeres. Dem frühen Tod des jungen Autors ist es geschuldet, dass die beiden im Exil erschienenen Romane und in Übersetzungen erstpublizierten „Menschen nebem dem Leben“ auf Schwedisch (Människor utanför, 1937) und „Der Reisende“ auf Englisch (The man who took trains, 1939) fast den ganzen Umfang seines literarischen Nachlasses ausmachen.

«Menschen nebem dem Leben» ist ein Berlinroman, der Ähnlichkeiten mit Alfred Döblins «Berlin Alexanderplatz«, Hans Falladas «Kleiner Mann – was nun?« und Irmgard Keuns «Das kunstseidene Mädchen» aufweist. Im Resonanzraum der Neuen Sachlichkeit trifft Boschwitz jedoch seinen eigenen Ton und einen lakonischen Humor, der einen sowohl zum Lachen bringt als auch immer ein wenig zerreisst. Es geht um Menschen, die aus der Gesellschaft herausgefallen sind und denen als einziger Lebensinhalt das Überleben bleibt. Der blinde Kriegsveteran Sonnenberg handelt mit Streichhölzern um seine Existenzsicherung, seine Frau ergötzt sich an Schaufenstern und tanzt im Lokal Freudenberg fremd, Kleinkriminelle träumen vom ganz grossen Coup und haben dann doch zu viel Angst, um ihn zu verwirklichen, das organisierte Verbrechen tarnt sich als Liederkranz und gutbetuchte Bibliotheksgänger investieren mit ihren Spenden nicht in die Armen, sondern in den Aushang ihres eigenen Edelmuts. «Man weiss so viel vom Unglück der anderen, wie man wissen will», liest Thomas Sarbacher mit seinem charakterstarken Timbre. Sowohl für die Erzähl- als auch die Figurenreden entwirft Sarbacher jeweils eigene Tonlagen, die von keck bis träumerisch reichen, und lässt die zahlreichen Dialoge des Romans so lebendig wie ein Theaterstück erschallen.

Die Bistrot-Tische im Café Odeon sind an diesem Morgen am Rande ihrer Kapazität.

Auch wenn man noch keinen der Boschwitzen Romane selbst gelesen hat, ist man nach wenigen Minuten mitgerissen und findet sich in der urkomischen, zuweilen lakonischen und immer tief menschlich erzählten Figurenwelt versunken. Wer ab und zu den Literaturclub des Schweizer Fernsehens schaut, kennt die fesselnde Kraft von Thomas Sarbachers Sprechstimme bereits. Beim Lesen live anwesend zu sein, verstärkt die Erfahrung jedoch um ein vielfaches. In seinen Sprechpausen hätte man im Café Odeon eine Nadel fallen hören können, so gebannt waren die Zuhörenden. Es ist ein unfairer Glücksfall, eine Stimme zu besitzen, die selbst das Vorlesen eines Telefonbuchs zum Plausch machen würde. So schleicht sich nach der Veranstaltung sogleich ein Bedauern darüber ein, dass man sich Thomas Sarbacher nicht einfach ausborgen kann, damit er einem den Rest des Buches auch noch vorliest. Dass das Hörbuch ein anderer spricht, ist dann einfach nur gemein. Vielleicht tröstet ja das Selbstlesen von Boschwitz‘ Roman darüber hinweg. Ich rate auf jeden Fall, es zu versuchen.

Schlickerfürzchen

Eine kleine Reise durch die «alphabetischen Prozessionen» (Mark Twain) des Grimm’schen Wörterbuchs. Abgelauscht von Peter Graf und Thomas Sarbacher. Nachzulesen in der UNGEMEIN EIGENSINNIGEN AUSWAHL UNBEKANNTER WORTSCHÖNHEITEN AUS DEM GRIMMSCHEN WÖRTERBUCH (Verlag Das Kulturelle Gedächtnis 2018).

Berufsameise

blitzzwiebelblau

Entschuldigungsschwamm

Fegefeuerlebensminute

fotzdudeln

Frühstücksfehler

Furzauflese

geilreizig

Gelehrtenschlendrian

Genieunwesen

Glückseligkeitschimäre

Halbverdeutschung

Haufenmacherin

Heiligenfresser

Hummelhirn

Idealheld

Jetztberührt

kitzelgierig

Krokodilist

Kummerverlächelung

Muttersprachverächter

Nichtigkeitsbeschwerde

Ohrfeigenkommando

Pisssteuerzahler

Prachtlustgezelt

Probegeliebte

Quälodram

Ranzenreiter

Sausödel

Schlickerfürzchen

Sprachmenschwerdung

Tollhausbibliothekar

Unabkömmlichkeitsbescheinigung

Verführschamlehre

Verhässlichungskunst

«May the sun shine warm upon your face, and rains fall soft upon your fields»

Kein Regen fällt vor den offenen Fenstern, dafür klingt ein irischer Segen durch den Raum. Die Worte wecken in mir die Erinnerung an weiche, grüne Felder und scharf abfallende Klippen, die ich vor nicht allzu langer Zeit selbst einmal besucht habe. Allerdings fiel in jenem Sommer fast kein Regen. Es sei einer der heissesten Sommer seit langem gewesen, erzählten mir damals einheimische Iren. Vieles in Seraina Koblers noch unveröffentlichtem Debut kommt mir deshalb seltsam vertraut vor. Ihr Roman handelt von einer Liebesgeschichte: Anna und David wollen ihr Leben zusammen verbringen, doch das Kind, das Anna in sich trägt, stammt nicht von David. Der erste Streit beginnt, und eines Tages ist David nicht mehr da. Im Sommer der Städte herrscht unerträgliche Hitze, also flüchtet man in die Berge. Doch dort gibt es Steinschläge. Vögel fallen vom Himmel. Und dann ist da noch der Regen, der im Verlauf der Geschichte immer mehr versiegt.

Die Journalistin und ehemalige NZZ Redakteurin bemerkt während der Lesung einmal, der Spruch, wonach die Gegenwart den Journalisten und die Vergangenheit den Dichtern gehöre, habe sie dazu verleitet, ihren Text vom Präsens in die Vergangenheit zu setzen. Allerdings streift sie mit ihrer Geschichte in der Tat brisante, aktuelle Themen. So klingt das in der Schweizer Gegenwartsliteratur sehr präsente Motiv der ‚verschwindenden Männer‘ ebenso an wie die drohende Klimakatastrophe. Sonst ist der Schreibprozess das grosse Thema des Abends, hält die Autorin vor uns auch kein frisch gedrucktes Werk, sondern eine Arbeitsmappe in den Händen. ‚Work in progress‘, sozusagen. Grosse Recherchearbeit hat sie betrieben und mit Klimahistorikern gesprochen, ganz in journalistischer Manier. Nichts in ihrem Roman sei erfunden, alles habe sich in Europa so einmal zugetragen. Tatsächlich soll es schon im Mittelalter einst eine Dürre gegeben haben, dass Seen kein Wasser mehr enthielten. So berühren sich in Koblers Geschichte Vergangenheit und Gegenwart. Doch wie sieht wohl die Zukunft aus? Wieso verschwindet David und wie wird Anna mit ihrem noch ungeborenen Kind in dieser überhitzten Welt leben? Der Abend hat mich neugierig gemacht. Ich freue mich auf eine baldige Veröffentlichung – und hoffe stets auf Regen.

Von Sinnen

Am Schluss dieses Abends werde ich mit einer Islamwissenschaftlerin, einer Mäzenin, einem Physikdoktoranden, zwei Bibliothekarinnen und einer Germanistikstudentin über Sexualität, den Kosmos, Frauen in der Politik, Mammutjäger, Greta Thunberg und den Schweizer Buchpreis gesprochen gehaben. Wie es genau dazu kam, bleibt mir selbst ein wenig rätselhaft. Aber gehen wir erstmal zum Anfang.

Die Lesung drehte sich um die westliche und östliche Sicht auf die Weiblichkeit und fand im Hammam Basar + Salon Zürich statt. Der Abend ist eine Hommage an die 2015 in Rabat verstorbene Fatima Mernissi, die sich zeitlebens mit der Stellung der Frau in der arabischen Welt befasste. Die deutsche Schauspielerin Susanne-Marie Wrage las ausgewählte Textausschnitte aus ihrem vergriffenen Buch «Harem. Westliche Phantasien, östliche Wirklichkeit». Die Besucherinnen, mit denen ich im Vorfeld der Lesung sprach, haben den Osten oftmals selbst bereist und erzählen von einprägsamen Eindrücken: Den Verschleierungen an einem iranischen Markt oder dem unangenehmen Ausweichen von Blicken im Tibet, weil man nicht dazu gehört. Noch bevor die Lesung überhaupt angefangen hat, liess sich an den Sprechweisen ablesen, wie stark die Wahrnehmung visuell sowohl über das Gesehene als auch über die geernteten Blicke läuft und dass sie ein gewisses Stimmungsbild prägen. Anwesend waren vierzehn Besucherinnen und ein Besucher – ein Physikstudent, der mit seiner Freundin da war.

Der Lesesaal im «Hammam Basar + Salon» ist gleichzeitig Foyer und Ladenraum.

Die Texte Mernissis setzen keinen intellektuellen Überbau voraus, sondern blicken unverfroren auf die Selbstwahrnehmung der Frau in unterschiedlichen Kulturen. Es geht um Schönheitsideale, Harems, die islamischen Erklärungsmodelle sexueller Ungleichheit, männliche Psychen und die Geschichten aus «1001 Nacht». Scheherazade, die mit erotischen Geschichten jede Nacht von Neuem um ihr Leben liest, wird zur Ursprungsfigur der Verstrickung von Sexualität und politischem Kalkül und erscheint wiederholt als Fluchtpunkt, auf den die vorgelesenen Textstellen hinströmen. Als Susanne-Marie Wrage vorlas, dass «das Hirn die mächtigste erotische Waffe der Frau ist», nickte das vorwiegend weibliche Publikum gedankenverloren. Mit der pointierten Textstelle «Gedankenloser Sex hilft niemandem weiter» beschloss Mernissis ihre Lesung. Immer wieder fragen die Texte, wie Phänomene des Ostens aus der Perspektive des Westens wahrgenommen werden. Wer ist Scheherazade aus dem Blickwinkel westlicher Künstler? Wieso sind ihre Körperproportionen hier so viel schlanker als in der bildenden Kunst des Ostens, die sie so viel üppiger zeigt? Die Texte von Mernissi befragen den paradoxen Sachverhalt, dass verschiedene Kulturen dieselben Phänomene so unterschiedlich und dann wiederum sehr ähnlich darstellen. Die Antwort darauf verortet Mernissi in den defizitären Sinnesinstrumentarien des Blickes. Damit verweist sie uns auf das aufklärerische Dilemma schlechthin und hält uns vor Augen, dass wir nicht verstehen können, weil die Differenz bereits in die Wahrnehmung eingeschrieben ist.

Das Nicht-Verstehen liegt aber immer auch in der prinzipiellen Unübersetzbarkeit von Sprachen begründet. Im Türkischen gibt es beispielsweise ein Wort für Sex, das sowohl Beischlaf als auch Verhandlung bedeuten kann oder einen Ausdruck für das Reden in der Nacht, der gleichzeitig «Schatten des Mondes» bedeutet. Es ging an diesem Abend nicht nur um den westlichen Blick auf die östliche Weiblichkeit, sondern auch um den Blick auf die eigene. Wann war die Besucherin das letzte Mal selbst die Scheherazade im Kleinen? Wann hat sie das letzte Mal über ihre Wünsche und Erwartungen in Bezug auf den Beischlaf verhandelt? Wann hat das Reden das letzte Mal erst funktioniert, als die Nacht die Abläufe des Alltags verdunkelt hat?

Die Lesung bot keine Antworten, sondern stellte vor allem Fragen, die Frau sich im Stillen schon oft gestellt hat. Im Anschluss an die Lesung folgte ein Tajine-Dîner im hauseigenen Salon. Die Diskussionen beim feinen Dîner waren rege und erfreulich weit weg von stumpfem Smalltalk. Ein Mitakteur war definitiv auch der Raum, der mit seinem geschmackvollen Interieur Hemmschwellen senkte und die Voraussetzungen dafür schuf, dass ich weltvergessen in diesen Abend eintauchen konnte. Als ich mich endlich losriss, um diesen Artikel zu schreiben, begleitete mich die Inhaberin des Hammams noch bis vor die Tür: «Die Kultur ist der Spiegel der Freiheit der Frauen», raunte sie mir durch die Türpforte zu, als es draussen schon dunkel war. Das ist ein Reden in der Nacht, das wir an diesem Abend beide verstehen.

Ein 55-Minuten Einblick in die Textküche des Jungen Literaturlabors

Manchmal zahlt es sich aus, früher als nötig am Ort des Geschehens einzutreffen (wenn auch nur, weil man sich in der Wegzeit verschätzt hat). So ist es beim heutigen Anlass «JULLliest – Kinder und Jugendliche lesen eigene Texte» nicht anders.

Die Stimmung im Foyer des Kaffeehauses zur Weltkugel ist voller Aufregung. Gäste sind erst spärlich vorhanden, dafür habe ich die Möglichkeit einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Nicht nur darf ich die jungen Schreiberlinge des JULL bei ihren letzten Vorbereitungen vor der Lesung beobachten, wie sie durch ihre Texte blättern und sich zum (vermutlich) hundertsten Mal versichern, dass auch wirklich jede Markierung da ist, wo sie sein soll: Nein, es ergibt sich sogar, dass ich ein paar Worte mit Richard Reich, einem der beiden Leiter des Jungen Literaturlabors, wechseln kann.

Zwei Dinge werden im Gespräch schnell klar. Erstens: In JULL steckt unglaublich viel Herzblut. Die Passion der Schreibenden, der Schreibcoaches und der Organisierenden verleiht jedem der vielzähligen Projekte Einzigartigkeit. Dem Motto des JULL – «never write alone» – treu, ist es die Zusammenarbeit verschiedenster Persönlichkeiten, die das Gespür für Literatur fördert, wo es schon vorhanden war. Und an Orten, wo Lesen und Schreiben davor nie mehr war als eine Hausaufgabe, entzündet es sogar den Funken, aus dem eine Leidenschaft für etwas zuvor Unbekanntes entsteht.

Zweitens: Meine Vorfreude auf die Lesung ist nur noch mehr gewachsen.

Pünktlich Sechs Uhr abends, die Tür zum Lesesaal öffnet sich. Der Andrang ist nicht gerade klein und es dauert nicht mal drei Minuten, ehe Tische rausgetragen werden, um Platz für eine zusätzliche Stuhlreihe zu schaffen. Gleich darauf wird auch schon der Grossteil der Lichter gedimmt und der Fokus des Publikums fällt auf die erhöhte Bühne.

Die ersten Texte stammen von vier Schülerinnen aus Rüti, die uns ihren Wohnort mit humorvollen Erzählungen um einen Krieg der Dönerbuden oder auch einer grauenvollen Schilderung einer auf Gleisen abgelegten Leiche näherbringen. Obwohl die Texte noch nicht abgeschlossen sind, vermögen sie die Stimmung eines lebendigen Rüti überzeugend einfangen.

Als nächstes wird ein Text über einen Jungen mit einem «bösen» Gesicht und ein Mädchen, das nicht hören kann, vorgelesen. Diese Geschichte stammt aus einem Langzeitprojekt mit dem Schulhaus Feld. Die coachende Autorin bezeichnet diese Art Projekte als «Wundertüten», da sie in ihrer inhaltlichen Gestaltung in keiner Weise eingeschränkt sind und entsprechend kein Ergebnis dem letzten gleicht.

Darauf wird das Publikum auf eine sprachliche Reise mitgenommen: Es wird Spanisch. Drei junge Schreibende präsentieren Textstellen aus ihren Werken; mit dabei ein wichtiges Werk der mexikanischen Gegenwartsliteratur. Ausser Mimik, Gestik und Tonfall (und dem einen oder anderen Wort, das mir aus dem Französischen bekannt vorkommt) verstehe ich leider nicht viel. Aber eins ist klar, dies reicht vollkommen aus, um mich neugierig zu machen, was denn nun die Ursache für das plötzliche Flüstern oder die skeptisch hochgezogene Augenbraue der Vortragenden war.

Als viertes betreten drei Vertreter der Stadtbeobachter*innen die Bühne, einer Gruppe von Jugendlichen zwischen 15 und 25, die sich zweimal monatlich zum gemeinsamen Schreiben und Diskutieren trifft. Über das Leben einer Blechdose, dem Portrait einer mittlerweile alten Frau und einem Ausflug in die Lyrik über «Wir Leute in Zürich», alles ist mit von der Partie. Abschliessend werden «Fragen an den Mann/die Frau» gelesen, die im Rahmen des Frauenstreiks entstanden sind. Einmal mehr zeigt sich: Das JULL bleibt aktuell.

Während viele der Projekte mit Klassen durchgeführt werden, gibt es auch vereinzelte Förderprojekte. Fast ein ganzes Jahr habe die Zusammenarbeit dieses Schülers und seiner Mentorin angedauert, aber jetzt könne er sein fertiges Buch präsentieren. Eine Liebesgeschichte ist es, die er geschrieben habe, eine Liebesgeschichte, die zugleich seine persönlichen Eindrücke von der Flucht aus Eritrea in die Schweiz verarbeitet. Die Zuschauer horchen atemlos, während er einen Ausschnitt vorliest. Die Geschichte ist vieles zugleich: emotional, ehrlich, eindrücklich.

Den Schluss macht ein Trio bestehend aus zwei Schülern und einer Autorin, die sich im vierten Quartal des letzten Schuljahres mit dem Projekt «Green Henry» befasst haben. Um die Lektüre des zugegebenermassen nicht gerade einfachen Werkes «Der grüne Heinrich» von Gottfried Keller zu erleichtern, haben die Schüler zuerst eine englische Ausgabe gelesen und diese in eigenen Worten ins Deutsche übersetzt. Heute haben sie eine Textimprovisation mitgebracht, in der über verschiedene Charaktere und Situationen des Originals verhandelt wird. Vielleicht ist die Handlung auf Grund des Ausschnitts nicht viel verständlicher für die Zuschauer, aber das wilde Hin und Her an Figurenzeichnungen und Gedankenexperimenten kann die «verstaubte Antiquität», wie es die Autorin mit nicht wenig Liebe in der Stimme nennt, für das Publikum zum Leben erwecken.

Die Mehrheit der am heutigen Abend präsentierten Projekte ist, wie bereits erwähnt, noch nicht abgeschlossen und entsprechend im Shop des JULL noch nicht erwerbbar. Um die Zeit bis dahin zu überbrücken, lohnt es sich allemal einen Blick auf die Reihe «Züricher Reformationsnovellen» (Print 20-24 bei JULL) zu werfen, die ebenfalls in der Zusammenarbeit mit fünf Schulklassen entstanden ist und fünf Persönlichkeiten der Schweizer Reformation vorstellt.

Abschliessend kann ich nur anmerken, dass sich lediglich eine der am heutigen Abend gemachten Aussagen als unwahr erwiesen hat. «Jetzt chunt öise Nachwuchs, am achti denn d’Profis» hiess es bei Türöffnung. Aber wenn die Schreiberlinge des Jungen Literaturlabors an diesem Abend eins bewiesen haben, dann, dass sie es mit den «Profis» ohne Weiteres aufnehmen können.

Zwischen Begeisterung und Überforderung: Eindrücke einer virtuellen Lesung

Die Erwartungen sind gross: Die Vorpremiere von LOS 360°VR (RC) wird angekündigt als die „weltweit erste virtuelle Lesung“. Roman Vital und Sandro Zollinger, die Macher dieser VR-Lesung, verbinden eine erzählte Geschichte mit der neuesten Virtual-Reality-Technologie. Ihre gefilmten und bearbeiteten 360°-Szenen werden kombiniert mit der Stimme von Klaus Merz, der aus seiner Erzählung LOS vorliest. Ich setze mich auf einen freien Stuhl zu den anderen Wartenden im Karl der Grosse und blicke mich um. Ich bin, wie schon bei der Eröffnung, bei Weitem die Jüngste im Publikum. Die Frage einer Dame, weshalb die Stühle so weit voneinander entfernt stehen, beantwortet Zollinger mit: „Sie müssen während der Lesung genügend Platz haben, um sich im 360°-Raum umzuschauen.“ Ich muss ein Lachen unterdrücken und erinnere mich an meine ersten Erfahrungen mit VR-Games bei Freunden. Im Eifer des Spiels konnten Verletzungen oder Scherben oft nur knapp vermieden werden. So wild wird diese Lesung wohl nicht werden.

Sandro Zollinger gibt zu, etwas nervös zu sein. Denn an diesem Mittwoch handelt es sich gewissermassen um die Premiere der Vorpremiere dieser virtuellen Lesung. Auch einige Zuschauer*innen sitzen etwas angespannt auf ihren Stühlen und blicken neugierig zu den VR-Brillen, die auf einem Tisch liegen. Die Brillen und Kopfhörer werden verteilt, es dauert einen kurzen Moment, bis alle bereit sind und sich wohlfühlen. Und dann heisst es: LOS!

Die virtuelle Lesung beginnt in einem Café. Umgeben von anderen virtuellen Zuschauenden blicke ich auf die Bühne vor mir. Ich drehe den Kopf nach oben und unten, nach links und rechts – und staune über die vielen Details dieser Aufnahme. Als die Stimme von Klaus Merz ertönt, blicke ich wieder geradeaus. Auf einem Sofa sitzend, von einer Stehlampe beleuchtet, beginnt er zu lesen. Das virtuelle Publikum verschwindet allmählich, es bleiben der Lesende und ich zurück, alleine in diesem virtuellen Raum. Das Bild verändert sich wieder, Klaus Merz verschwindet ebenso, die 360°-Bilder beginnen sich zu bewegen. Auf meinen Augen die VR-Brille, auf meinen Ohren die Kopfhörer, tauche ich ein in diese unterschiedlichen virtuellen Räume: Ob in einem Schreibzimmer, im Zug, unter Wasser oder in einer tiefverschneiten Landschaft – mit Brille und Kopfhörer erlebt jede*r Zuschauende im Karl der Grosse individuell die jeweilige Atmosphäre.

Da die Schreibende während der Lesung zu sehr in ihrer eigenen (virtuellen) Welt versunken war, muss dieser Flyer behelfsmässig als Eindruck genügen.

Die zwölf Passagen aus der Erzählung LOS handeln von Peter Thaler, einem Mann, der zu einer Bergwanderung aufbricht und nie mehr zurückkehrt. Es ist eine Geschichte vom Abschiednehmen. Die Erzählweise vom Verschwinden dieses Mannes ist eindringlich, berührend. Und doch will es mir nicht gelingen, mich ganz auf die Erzählung zu konzentrieren. Zu sehr bin ich abgelenkt von den schönen visuellen Eindrücken. Einmal mehr fällt mir auf, wie bedeutsam doch unser Sehsinn ist und wie sehr wir uns auf visuelle Eindrücke fokussieren. Obschon es sich nicht um einen Film, sondern um Bildwelten handelt, die sich bisweilen kaum verändern, gibt es in den Aufnahmen dennoch unzählige Details zu entdecken. Immer wieder drehe ich meinen Kopf von rechts nach links, von oben nach unten, um ja kein Detail zu übersehen. Und ab und an konzentriere ich mich wieder auf die Stimme von Klaus Merz.

Die Lesung ist – trotz Konzentrationsschwierigkeiten – ein inspirierendes Erlebnis. Das Ziel der virtuellen Lesung sei es auch, so erklärt Sandro Zollinger nach der Lesung, sich „von einer konkreten filmsprachlichen Narration zu lösen“ und sich auf die „gefühlstragende Wirkung“ des Mediums zu fokussieren. Das sei ein „bleibendes und einmaliges Erlebnis“, ist sich das Publikum am Ende einig.

Sehen die Lesungen der Zukunft so aus? Sieht vielleicht sogar das eigene Leseerlebnis zukünftig so aus? Beinahe stimmt mich diese Vorstellung etwas melancholisch. Denn obgleich ich gerne in die Räume der neuesten VR-Technologien eintauche und alles um mich herum vergesse, liebe ich die Momente genauso, in denen es nur mich und mein Buch gibt. Die Momente, in denen – auch ohne VR-Brille – alles um mich herum verschwindet: ob Schreibzimmer, Zug oder Berglandschaft. Den Imaginationsraum, den das Lesen von Literatur bei mir auslöst, will ich, zumindest vorerst, nicht mit den detailtreuen Bildwelten der VR-Technologie eintauschen.

Und doch: Ein Eintauchen in diese virtuelle Lesung und die neuste Technologie lohnt sich allemal. Vielleicht sollte auch ich mich noch einmal auf die Lesung einlassen, um mich dieses Mal ganz auf die Stimme von Klaus Merz konzentrieren zu können.