Ein Gespräch in drei Sprachen

Es beginnt langsam zu dämmern, als die gespannten Zuhörerinnen und Zuhörer im Erkerzimmer des Karls eintrudeln. Die Stimmung ist ruhig und friedlich, als der Moderator zu sprechen beginnt. Auf Deutsch – das muss explizit dazugesagt werden, denn die Sprachvielfalt ist bei dieser Lesung beachtlich. Der Moderator erläutert die Frage jeweils auf Deutsch für das Publikum und richtet schliesslich die lettische Variante der Frage an Nora Ikstena. In der Mitte sitzt Vera Bommer, Schweizer Schauspielerin, die an diesem Abend die deutsche Stimme des Romans «Muttermilch» gibt. Im linken Ohrensessel sitzt die Autorin des Werkes, Nora Ikstena, die wider mein Erwarten komplett auf Englisch sprechen wird. Ihr Deutsch sei nicht so gut, erklärt sie, aber sie habe einige Zeit in den USA verbracht.

Diese Konstellation der verschiedenen Sprachen und damit auch Personen, die den Roman an diesem Herbstabend für die Zuhörenden zum Leben erwecken, ist der Aspekt, welcher mich an der Lesung am meisten faszinieren wird.

Nora Ikstena beginnt die Lesung mit einer kurzen Einleitung. «Muttermilch» ist ein Roman, in der Ikstena ihre Kindheit und Jugend in Lettland sowie das schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter illustriert. Sie nennt den Text jedoch an keiner Stelle autobiografisch. Ikstena beendet die Einleitung mit einer wunderschönen Antwort auf die Frage des Moderators, weshalb ihr Text in den verschiedensten Ländern der Welt so gut rezipiert werde: «The love between a mother and a daughter can happen anywhere in the world.»

Dann beginnt die lettische Autorin, eine Passage auf Lettisch vorzulesen. Der Klang dieser baltischen Sprache war mir bisher absolut unbekannt, und so klingt auch das Vorgelesene im ersten Moment etwas befremdlich. Trotz der hohen Zahl an plosiven Lauten wirkt es dennoch ruhig und regelmässig.

Nun findet ein Sprecherinnen- und Sprachwechsel statt. Sarah Bommer beginnt auf Deutsch vorzulesen. Die Schauspielerin artikuliert hervorragend. Das Vorgelesene tritt in den Vordergrund, jedes Wort wiegt schwer und lässt die Zuhörenden nachdenklich werden. Ikstenas Wortwahl ist gezielt, gnadenlos, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, wie sie es in ihrer Kindheit tun musste. Vielleicht tat sie es beim Schreiben des Romans gerade deshalb nicht.

Im Anschluss übernimmt der Moderator mit einer Fragerunde, bevor Bommer erneut liest. Der Inhalt des Romans überfällt einen, hinterlässt bei mir ein beklemmendes Gefühl.

Zum Abschluss beantwortet Ikstena geduldig die zahlreichen Publikumsfragen, die sich nicht nur um den Roman und den Schreibprozess drehen, sondern vor allem auf die politische Situaiton Lettlands abzielen. Zum Schreibprozess sagt sie: «It was a hard process. The power oft he book sometimes takes you back and you have to keep going.» Ich bin begeistert von Ikstenas überlegten und sensiblen Antworten.

Die Sprachvielfalt entwickelt eine enorme Eigendynamik, welche das Gespräch in keiner Weise hemmt oder aufhält. Im Gegenteil: Durch den ständigen Wechsel werden die Zuhörenden alle mit einbezogen und haben die Möglichkeit, am Diskurs teilzunehmen.

Was für ein tolles Gespräch! / What a great reading! / Kāda jauka saruna!

So gar nicht «nicht schlecht»: Lesung von Thomas Meyer

Ich bin eigentlich 20 Minuten zu früh dran, muss mich jedoch, nachdem ich das Obergeschoss des Micasa Pop-up Stores erreicht habe, mit einem Blick auf die Uhr noch einmal absichern. Ich fühle mich, als wäre ich 20 Minuten zu spät. Der umfunktionierte Teil der Verkaufsfläche ist rappelvoll. Die 50 weissen Klappstühle sind längst besetzt und so wird die ungewöhnliche Location der Lesung am Samstagmorgen zu einem Glücksgriff. Wo sonst könnte man auf der Suche nach Sitzgelegenheiten besser fündig werden als in einem Möbelgeschäft? Kurzerhand schaffen die Organisierenden Sitzsäcke, Hocker, mehr Stühle heran, einige Zuhörende dürfen sogar auf einem Bett lümmeln. Vorne in der Ecke steht ein blaues Sofa – noch mit Preisschild versehen. Thomas Meyer nimmt, farblich passend zum Sofa gekleidet, pünktlich um 11 Uhr auf besagtem Sofa Platz. Vor lauter Menschenköpfen vor mir kann ich Meyer kaum noch sehen und muss den Hals recken, um doch noch einen Blick auf ihn zu erhaschen, was jedoch meinem Vergnügen keinesfalls einen Abbruch tun wird.

Er habe etwas getan, was seinem Autorenego nicht gut tue, meint Meyer zu Beginn. Er habe nämlich auf Amazon Rezensionen zu seinem neuen Buch «Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin» gelesen und liest sogleich ein – natürlich nicht positiv ausfallendes – Exemplar vor.

Darauf rekapituliert er kurz den Ausgang des ersten «Motti-Romans». Er hole «Motti nun nach sieben Jahren (Meyer veröffentlichte den ersten Wolkenbruch-Roman 2012) wieder aus seinem Hotelzimmer», in welches Motti sich am Ende des ersten Buches geflüchtet hatte.* Nun beginnt Meyer die Lesung. Von dem Motti, der zu Beginn des ersten Buches illustriert wurde, ist gewiss nicht mehr viel übrig. So wenig nämlich, dass sich dieser kaum mehr im Spiegel wiederzuerkennen vermag. Nach dem Bruch mit seiner jüdischen Familie (in einer jüdischen Zeitung entdeckt Motti sogar seine eigene Todesanzeige), stellt sich ihm nun ein Herr Namens Gideon Hirsch vor, welcher ihn in die Gruppe der «verlorenen Söhne Israels» aufnehmen möchte. Obwohl Motti überrumpelt und skeptisch ist, wird er, ehe er sich versieht, Orangenfarmer in Tel Aviv. Und das ist erst der Anfang…

Thomas Meyer liest jeweils mehrere Seiten am Stück, erzählt dazwischen zusammenfassend, was passiert und setzt an einem späteren Zeitpunkt im Buch wieder an. Anders als beim ersten Buch verfügt der neue Roman über zwei, zu verschiedenen Zeiten angesiedelte Erzählstränge. Einer davon schildert natürlich Mottis Weg, in dem seine Mame nicht fehlen darf, auch wenn er mit seiner Familie zuvor gebrochen hat. Eine nach wie vor streitlustige Dame, die am besten weiss, wie Matzenknödel zubereitet werden und sich darüber lautstark mit «Schoschanna», dem jüdischen Pendant zu Alexa, streiten kann.

Das Publikum ist an diesem Samstag hervorragend aufgelegt, lacht durch die gesamte Lesung hindurch viel und auch ich muss immer wieder schmunzeln. Dazu kommt, dass Meyers Lese- und Erzählstil schlicht fabelhaft sind. Seine Stimme ist kräftig, erfüllt das gesamte Obergeschoss, Intonation und Stimmfarbe sind ruhig und mitreissend zugleich. Und so gelingt es ihm, sowohl Motti als auch dessen Mame (mit ihren nicht selten geäusserten Kraftausdrücken) so authentisch zu illustrieren, dass ich mich keineswegs darüber wundere, dass er das zum Roman dazugehörige Hörbuch ebenfalls selbst liest.

Nachdem Meyer nach 45 Minuten die letzte Passage liest – wobei er den Ausgang selbstverständlich nicht verrät – fühle ich bereits so sehr mit Motti mit, dass ich sofort das Ende erfahren will. Zum Abschluss hat Thomas Meyer sich etwas besonderes überlegt: Er liest einige Begriffe aus Meyers kleinem Taschenlexikon (seinem eigenen Taschenlexikon) vor. Darin hat er über 150 verschiedene Begriffe neu und scharfsinnig pointiert definiert. «Nicht schlecht» definiert er so beispielsweise als «schlecht».

Ich werde die Lesung definitiv weder als «nicht schlecht» noch «schlecht» (wobei dies ja das Gleiche zu sein scheint) in Erinnerung behalten und bin nach diesem Morgen definitiv bekennender Thomas-Meyer-Fan.

*Die erzählte Zeit im Roman umfasst jedoch keinen Unterbruch von sieben Jahren. Der Übergang ist nahezu nahtlos.

Für uns bei «Zürich liest»: Xenia Bojarski

Nachdem sie im Sommer das Solothurner Terrain erkundet hat, freut Xenia sich darauf, bei «Zürich liest» durch entfernte Räume und Zeiten zu reisen. Sie wird unter anderem Halt bei Thomas Meyer machen und ist gespannt auf Motti Wolkenbruchs neue Sperenzchen.

Ob Umwege gegangen werden müssen, wenn eine Übersetzerin die Nachricht an das Publikum überliefert, und was Muttermilch mit dem nachkriegszeitlichen Lettland zu tun? Diesen Fragen wird sie bei Nora Ikstena nachgehen. Und an welche Tür muss eigentlich geklopft werden, damit Virtual Reality einem Einlass gewährt? Zu guter Letzt bleibt hoffentlich noch etwas Zeit, um wieder aufzutauchen und Zürich zu lesen.