Franz Hohlers «Die Rückeroberung» in Zeiten der Klimabewegung

In den Gewächshäusern der Stadtgärtnerei werden Pflänzchen herangezogen. Es könnte Salat sein oder Kohl oder etwas gänzlich Ungeniessbares, das fällt nicht in meinen Fachbereich. Auf jeden Fall wächst das junge Grün in wohlgeordneten Reihen heran, jedem Spross ist ein genau bemessenes Fleckchen Erde in diesem Indoor-Acker zuerkannt. Eine spannende Kulisse für dieses Podiumsgespräch, in dem mit Franz Hohler über die ungezähmte Natur gesprochen wird und über die Rückkehr des Wilden in eine Stadt, die die Ordnung liebt.

So eine Rückkehr, eine «Rückeroberung» vielmehr, hat Franz Hohler vor vierzig Jahren mit einem Adler eingeläutet, den er auf seinem Nachbarhaus in Oerlikon hat landen lassen. Seither lässt seine Erzählung die Leser*innen nicht mehr aus ihren Fängen. In der Schule haben es viele von uns gelesen und einige Leute soll Die Rückeroberung sogar dazu angestiftet haben, ihre Gärten verwildern zu lassen.

Hohler trägt Die Rückeroberung vor, und das ist eine Erfahrung für sich: Der Schriftsteller hat eine Bühnenpräsenz, der sich niemand im Publikum entziehen kann. Es lacht herzhaft, wenn Hohler eine ganze Herde Hirsche durch die Zürcher Innenstadt spazieren lässt und schaudert, als die ersten Wölfe auftauchen. Als er von riesigen Schlingpflanzen erzählt, glaube ich zu sehen, wie man den zarten Pflänzchen im Hintergrund zunehmend beunruhigte Blicke zuwirft.

Zum anschliessenden Gespräch mit dem Schriftsteller haben sich vier Personen versammelt, die sich mit Stadt und Natur aus unterschiedlichen Perspektiven beschäftigen. Unter der Moderation von Walter Bersorger («Einfach Zürich») diskutiert im Namen der Natur Biologe Ueli Nagel, der Die Rückeroberung in seiner Entstehung begleitet und bei Hohler für die Wölfe ein gutes Wort einzulegen versucht hat, Seite an Seite mit Benjamin Kämpfen («Biodivers»), der Hohlers Erzählung im Licht der aktuellen Debatte um invasive Neophyten liest. Die Brücke zur Stadt schlägt Christine Bräm («Grün Stadt Zürich»), die sich wünscht, die Bäume würden in Zürich tatsächlich so schnell wachsen wie in Die Rückeroberung. Von Berufs wegen «für das Graue zuständig» ist schliesslich Katrin Gügler vom Amt für Städtebau, der es die Fledermäuse besonders angetan haben und die sich freut, dass Hohler bei der Renovation seines Hauses an Schlupflöcher für Zwergfeldermäuse gedacht hat. Alle Anwesenden sich sich einig: Zürich soll grüner werden, die Natur soll wieder mehr Raum einnehmen dürfen in unserer Stadt.

Doch mit der Natur kommt auch das Unberechenbare zurück in unseren wohlgeordneten Lebensraum. Erst kürzlich habe, so berichtet Christine Bräm, am Schanzengraben ein Biber einen Menschen erschreckt. Kurz vor Halloween ist sowas vielleicht noch tragbar und ein Biber ist schliesslich noch kein Bär wie in Hohlers Erzählung – aber wie viel Natur will man wirklich in den Alltag lassen? Wie gehen wir damit um, wenn wir die Natur einladen und sie sich dann nicht an die Grenzen unserer Pärke, unserer Gärten oder der durchgestylten Grünfassade eines Hochhauses hält, wo wir sie ganz chic finden, sondern sich den Raum erobert, der ihr gefällt? Der Vorstellung von Häschen auf der Bäckeranlage und Rehlein am Üetliberg mag uns das Herz erwärmen, doch was, wenn am Abend plötzlich der Luchs durchs Fenster herein blinzelt? Die Rückeroberung zeigt uns ein Zürich, in dem wir uns mit einer wilden Natur arrangieren müssen, die wir einst gezähmt oder aus ihrem Raum verdrängt haben.

Heute, eine knappe Woche nach der «Klimawahl», erscheint uns Hohlers Geschichte so aktuell wie nie. Das merkt man auch an den Meldungen des Publikums, das teils kritische Fragen an die Vertreterinnen der Stadt stellt. Die Natur, das Klima, die grüne Stadt bewegt die Zürcher*innen. Doch schlussendlich ist Die Rückeroberung eine zeitlose Erzählung, die das Eindringen des Unerwarteten, des Fremden ins Leben thematisiert. Die Geschichte fragt uns, wie wir mit Veränderungen umgehen, die unseren Platz in der Welt in Frage stellen und Anspruch stellen auf einen Anteil an unserem Raum.

Mit diesen Fragen darf sich das Publikum über den Apéro hermachen, bevor es in die Zürcher Nacht hinaus schwärmt. Als ich mich auf zum Tram mache, schaue ich kurz links und rechts, ob nicht etwa ein Bär um die Ecke des Gewächshauses kommt, und nehme mir vor, meinem Basilikum künftig mit besonders viel Respekt zu begegnen.

«May the sun shine warm upon your face, and rains fall soft upon your fields»

Kein Regen fällt vor den offenen Fenstern, dafür klingt ein irischer Segen durch den Raum. Die Worte wecken in mir die Erinnerung an weiche, grüne Felder und scharf abfallende Klippen, die ich vor nicht allzu langer Zeit selbst einmal besucht habe. Allerdings fiel in jenem Sommer fast kein Regen. Es sei einer der heissesten Sommer seit langem gewesen, erzählten mir damals einheimische Iren. Vieles in Seraina Koblers noch unveröffentlichtem Debut kommt mir deshalb seltsam vertraut vor. Ihr Roman handelt von einer Liebesgeschichte: Anna und David wollen ihr Leben zusammen verbringen, doch das Kind, das Anna in sich trägt, stammt nicht von David. Der erste Streit beginnt, und eines Tages ist David nicht mehr da. Im Sommer der Städte herrscht unerträgliche Hitze, also flüchtet man in die Berge. Doch dort gibt es Steinschläge. Vögel fallen vom Himmel. Und dann ist da noch der Regen, der im Verlauf der Geschichte immer mehr versiegt.

Die Journalistin und ehemalige NZZ Redakteurin bemerkt während der Lesung einmal, der Spruch, wonach die Gegenwart den Journalisten und die Vergangenheit den Dichtern gehöre, habe sie dazu verleitet, ihren Text vom Präsens in die Vergangenheit zu setzen. Allerdings streift sie mit ihrer Geschichte in der Tat brisante, aktuelle Themen. So klingt das in der Schweizer Gegenwartsliteratur sehr präsente Motiv der ‚verschwindenden Männer‘ ebenso an wie die drohende Klimakatastrophe. Sonst ist der Schreibprozess das grosse Thema des Abends, hält die Autorin vor uns auch kein frisch gedrucktes Werk, sondern eine Arbeitsmappe in den Händen. ‚Work in progress‘, sozusagen. Grosse Recherchearbeit hat sie betrieben und mit Klimahistorikern gesprochen, ganz in journalistischer Manier. Nichts in ihrem Roman sei erfunden, alles habe sich in Europa so einmal zugetragen. Tatsächlich soll es schon im Mittelalter einst eine Dürre gegeben haben, dass Seen kein Wasser mehr enthielten. So berühren sich in Koblers Geschichte Vergangenheit und Gegenwart. Doch wie sieht wohl die Zukunft aus? Wieso verschwindet David und wie wird Anna mit ihrem noch ungeborenen Kind in dieser überhitzten Welt leben? Der Abend hat mich neugierig gemacht. Ich freue mich auf eine baldige Veröffentlichung – und hoffe stets auf Regen.

Mann ist vom Aussterben bedroht

„Heute bin ich weniger als die Hälfte“, sagt Steven Schneider zu Beginn seiner Lesung aus dem neuen Buch „Wir Superhelden“. Denn normalerweise kennt man Schneider im Duett und Kolumnenbattle mit seiner Frau Sybil Schreiber. Der neue Roman „Wir Superhelden“ entstand aber ohne weibliche Hilfe. Steht der Abend deshalb im Zeichen des Mannes? „Es ist ein Abend nur für Männer! Mit einer Ausnahme: Frauen!“, schreibt Schneider in der Programmvorschau.

Umso erstaunlicher, dass das Publikum, das sich zur Lesung in der Bibliothek in Volketswil einfindet, zu mindestens 70 Prozent aus Frauen besteht. Grösstenteils fortgeschrittenen Alters. Auch der Apéro bedient beide Stereotypen: Prosecco für die Frau, Bier für den Mann. Wasser und Wein stehen als Unisexvariante zur Verfügung. Eine Reihe hinter mir finden Diskussionen statt, ob Sekt oder Wein kalorienhaltiger sei.

Steven Schneider erklärt zuerst sein neues Buch, für das er mit zwölf Personen Gespräche zum Thema Mann-Sein in der heutigen Gesellschaft geführt hat. Darunter sind Autoren, Fachpersonen, Philosophen, Fussballer und ein Mönch. Er hat auch Fragebögen ausgewertet, in einer Samenbank mit Spermien und Eizellen experimentiert und viele autobiografische Teile einfliessen lassen. Das Endprodukt nennt er ein „Achbuch“, denn es sei sowohl ein Sachbuch, als auch ein Fachbuch, ein Machbuch (es enthält interaktive Teile) und zuletzt ein Lachbuch. Obwohl es tiefgründige Passagen enthalte, solle es mit einer grossen Prise Selbstironie durchaus zum Lachen animieren. Ironisch ist auch die Wahl des Titels: Niemand habe den Titel gut gefunden. Und genau deswegen habe Schneider gedacht: „Moll, der Titel hat etwas.“

Die eigentliche Lesung beginnt bei A wie Anfang. Oder Adam. Diesem ist es im Paradies mit Eva stinklangweilig. Die beiden haben nämlich keinen Gesprächsstoff, da alles schön und reibungslos ist. Was dann kommt, kennen wir alle: Das Paar sündigt und wird rausgeschmissen. Schneider sagt, die eigentliche Geschichte von Mann und Frau sei aber erst nach diesem Rauswurf passiert: „An die Stelle des Paradieses trat die Liebe.“

Adam wurde damals für die Reproduktion noch gebraucht. Heute ist der Mann dank moderner Technologien nicht mehr so wichtig – und wird immer impotenter. Die Frau ist nicht nur sozial und finanziell vom Mann unabhängig geworden, sondern kann sich zunehmend auch biologisch abkapseln. In der Tierwelt sei es gar nicht mehr so unüblich, dass die männliche Ausprägung einer Spezies nicht mehr existiert: So zum Beispiel die Blumentopfschlange. Es gebe Berechnungen, die belegen, dass dieses Schicksal auch dem männlichen Exemplar der Gattung Mensch blühen dürfte. Das Aussterbedatum liegt jedoch noch in weiter Ferne, trotzdem drängt es den Mann immer mehr in eine Existenzkrise.

Aussterben sei auch keine Lösung, findet Schneider. Deshalb versucht er in den darauffolgenden Kapiteln das Naturell seinesgleichen zu erforschen. Was macht einen Mann zu einem Mann? Wie wird man zu einem Helden? Das seien Fragen, die sich Männer im Alltag nicht einfach so stellen. Die teilweise doch ziemlich stereotypen Fragen werden dann von verschiedenen Fachpersonen doch relativ tiefgründig behandelt.

Es geht im Buch auch viel um die Liebe, bei der ein befragter Philosoph überzeugt ist, dass sie einen Mann zu einem besseren Menschen macht. Schneider erzählt auch von seiner eigenen Erfahrung mit der Liebe. Vom misslungenen Liebesbrief im Multiple-Choice-Verfahren, von der ersten Liebe, von Singlewanderungen und von Beziehungsunfähigkeit. Sein persönliches Liebesglück hat Schneider dann in Schreiber doch noch gefunden. Die Kolumnen des Paares sind vor allem bekannt dafür, dass sich die beiden darin auch zanken. Streit gehört zur Liebe wie die Körperlichkeit. Zum Thema Streit hat Schneider einen Fragebogen zusammengestellt, bei dem interessante Antworten herauskamen. So finden die Befragten beispielsweise einheitlich, dass die Partnerin während des Streits mehr redet. 

Das Buch schliesst dann aber wieder versöhnlich mit dem kitschigen Fazit ab: „Die Liebe ist die grösste aller Superkräfte.“ Alles in allem ist Schneiders Buch über Superhelden zwar modern, facettenreich und unterhaltsam, in der Kernaussage aber doch eher konservativ. Indem Schneider die Spezies Mann zu ergründen sucht, erhält er implizit einige stereotype Darstellungen von Mann und Frau. Zudem vermittelt das Buch ein sehr heteronormatives, genderbinäres Weltbild. Die vielen Lacher aus dem Publikum haben aber gezeigt, dass Schneiders humorvolle Abhandlung des Themas den Nerv der Zeit durchaus trifft.

Ein 55-Minuten Einblick in die Textküche des Jungen Literaturlabors

Manchmal zahlt es sich aus, früher als nötig am Ort des Geschehens einzutreffen (wenn auch nur, weil man sich in der Wegzeit verschätzt hat). So ist es beim heutigen Anlass «JULLliest – Kinder und Jugendliche lesen eigene Texte» nicht anders.

Die Stimmung im Foyer des Kaffeehauses zur Weltkugel ist voller Aufregung. Gäste sind erst spärlich vorhanden, dafür habe ich die Möglichkeit einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Nicht nur darf ich die jungen Schreiberlinge des JULL bei ihren letzten Vorbereitungen vor der Lesung beobachten, wie sie durch ihre Texte blättern und sich zum (vermutlich) hundertsten Mal versichern, dass auch wirklich jede Markierung da ist, wo sie sein soll: Nein, es ergibt sich sogar, dass ich ein paar Worte mit Richard Reich, einem der beiden Leiter des Jungen Literaturlabors, wechseln kann.

Zwei Dinge werden im Gespräch schnell klar. Erstens: In JULL steckt unglaublich viel Herzblut. Die Passion der Schreibenden, der Schreibcoaches und der Organisierenden verleiht jedem der vielzähligen Projekte Einzigartigkeit. Dem Motto des JULL – «never write alone» – treu, ist es die Zusammenarbeit verschiedenster Persönlichkeiten, die das Gespür für Literatur fördert, wo es schon vorhanden war. Und an Orten, wo Lesen und Schreiben davor nie mehr war als eine Hausaufgabe, entzündet es sogar den Funken, aus dem eine Leidenschaft für etwas zuvor Unbekanntes entsteht.

Zweitens: Meine Vorfreude auf die Lesung ist nur noch mehr gewachsen.

Pünktlich Sechs Uhr abends, die Tür zum Lesesaal öffnet sich. Der Andrang ist nicht gerade klein und es dauert nicht mal drei Minuten, ehe Tische rausgetragen werden, um Platz für eine zusätzliche Stuhlreihe zu schaffen. Gleich darauf wird auch schon der Grossteil der Lichter gedimmt und der Fokus des Publikums fällt auf die erhöhte Bühne.

Die ersten Texte stammen von vier Schülerinnen aus Rüti, die uns ihren Wohnort mit humorvollen Erzählungen um einen Krieg der Dönerbuden oder auch einer grauenvollen Schilderung einer auf Gleisen abgelegten Leiche näherbringen. Obwohl die Texte noch nicht abgeschlossen sind, vermögen sie die Stimmung eines lebendigen Rüti überzeugend einfangen.

Als nächstes wird ein Text über einen Jungen mit einem «bösen» Gesicht und ein Mädchen, das nicht hören kann, vorgelesen. Diese Geschichte stammt aus einem Langzeitprojekt mit dem Schulhaus Feld. Die coachende Autorin bezeichnet diese Art Projekte als «Wundertüten», da sie in ihrer inhaltlichen Gestaltung in keiner Weise eingeschränkt sind und entsprechend kein Ergebnis dem letzten gleicht.

Darauf wird das Publikum auf eine sprachliche Reise mitgenommen: Es wird Spanisch. Drei junge Schreibende präsentieren Textstellen aus ihren Werken; mit dabei ein wichtiges Werk der mexikanischen Gegenwartsliteratur. Ausser Mimik, Gestik und Tonfall (und dem einen oder anderen Wort, das mir aus dem Französischen bekannt vorkommt) verstehe ich leider nicht viel. Aber eins ist klar, dies reicht vollkommen aus, um mich neugierig zu machen, was denn nun die Ursache für das plötzliche Flüstern oder die skeptisch hochgezogene Augenbraue der Vortragenden war.

Als viertes betreten drei Vertreter der Stadtbeobachter*innen die Bühne, einer Gruppe von Jugendlichen zwischen 15 und 25, die sich zweimal monatlich zum gemeinsamen Schreiben und Diskutieren trifft. Über das Leben einer Blechdose, dem Portrait einer mittlerweile alten Frau und einem Ausflug in die Lyrik über «Wir Leute in Zürich», alles ist mit von der Partie. Abschliessend werden «Fragen an den Mann/die Frau» gelesen, die im Rahmen des Frauenstreiks entstanden sind. Einmal mehr zeigt sich: Das JULL bleibt aktuell.

Während viele der Projekte mit Klassen durchgeführt werden, gibt es auch vereinzelte Förderprojekte. Fast ein ganzes Jahr habe die Zusammenarbeit dieses Schülers und seiner Mentorin angedauert, aber jetzt könne er sein fertiges Buch präsentieren. Eine Liebesgeschichte ist es, die er geschrieben habe, eine Liebesgeschichte, die zugleich seine persönlichen Eindrücke von der Flucht aus Eritrea in die Schweiz verarbeitet. Die Zuschauer horchen atemlos, während er einen Ausschnitt vorliest. Die Geschichte ist vieles zugleich: emotional, ehrlich, eindrücklich.

Den Schluss macht ein Trio bestehend aus zwei Schülern und einer Autorin, die sich im vierten Quartal des letzten Schuljahres mit dem Projekt «Green Henry» befasst haben. Um die Lektüre des zugegebenermassen nicht gerade einfachen Werkes «Der grüne Heinrich» von Gottfried Keller zu erleichtern, haben die Schüler zuerst eine englische Ausgabe gelesen und diese in eigenen Worten ins Deutsche übersetzt. Heute haben sie eine Textimprovisation mitgebracht, in der über verschiedene Charaktere und Situationen des Originals verhandelt wird. Vielleicht ist die Handlung auf Grund des Ausschnitts nicht viel verständlicher für die Zuschauer, aber das wilde Hin und Her an Figurenzeichnungen und Gedankenexperimenten kann die «verstaubte Antiquität», wie es die Autorin mit nicht wenig Liebe in der Stimme nennt, für das Publikum zum Leben erwecken.

Die Mehrheit der am heutigen Abend präsentierten Projekte ist, wie bereits erwähnt, noch nicht abgeschlossen und entsprechend im Shop des JULL noch nicht erwerbbar. Um die Zeit bis dahin zu überbrücken, lohnt es sich allemal einen Blick auf die Reihe «Züricher Reformationsnovellen» (Print 20-24 bei JULL) zu werfen, die ebenfalls in der Zusammenarbeit mit fünf Schulklassen entstanden ist und fünf Persönlichkeiten der Schweizer Reformation vorstellt.

Abschliessend kann ich nur anmerken, dass sich lediglich eine der am heutigen Abend gemachten Aussagen als unwahr erwiesen hat. «Jetzt chunt öise Nachwuchs, am achti denn d’Profis» hiess es bei Türöffnung. Aber wenn die Schreiberlinge des Jungen Literaturlabors an diesem Abend eins bewiesen haben, dann, dass sie es mit den «Profis» ohne Weiteres aufnehmen können.

Sprachwandel am Rämibühl

Im Rahmen von «Zürich liest» hat die Autorin Dragica Rajčić mit zwei Klassen des MNG Rämibühl zusammengearbeitet und mit den Schüler*innen über den Sprachwandel nachgedacht. Entstanden sind dabei sowohl kurze Texte als auch interaktive Ratespiele, an denen sich die Anwesenden nun probieren durften. Das Publikum, vor allem bestehend aus Verwandten der Schüler*innen, durfte an einem von vier Tischen Platz nehmen, die thematisch variierten. Nach einer kurzen Pause wurde dann gewechselt, wodurch man bedauerlicherweise zwei Tische verpasste.

Schüler*innen der Klassen 3c & 3f im Gespräch über den Sprachwandel

Dragica Rajčić unterrichtet «Literarisches Schreiben» am Literaturinstitut in Biel und vor genau einer Woche ist auch ihr neues Buch erschienen. Abgesehen von der kleinen Eigenwerbung stellte sich die kroatische Schriftstellerin nur kurz vor und überliess die Bühne dann den Schüler*innen.

Der Abend war sehr interaktiv gestaltet und die jungen Sprachforscher*innen führten gekonnt durch die Spiele und Diskussionen. Richtig langweilig bin ich mir vorgekommen, als ich fast keines der Jugendwörter aus verschiedenen Jahren kannte, deren Bedeutung wir erraten sollten. Während ich noch wusste, was ein «Smombie» für eine schlechte Angewohnheit hat (Smartphone-Zombie), konnte ich mir nur zusammenreimen, welcher Beschäftigung die Jugendlichen nachgegangen sind, wenn sie 2015 «rumoxidierten» oder 2011 «guttenbergten». Blieb der kleine Trost, dass all das ja längst wieder zum Schnee von gestern gehört.

Berge, Comics, Mittelmeer

Zum Buchort wird in diesen Tagen ganz Zürich, doch die literarischen Schauplätze verstecken sich zuweilen. Im Stadtkreis vier befinden sich auf wenigen Straßenzügen gleich eine ganze Menge von ihnen: Buchhandlungen, wie man sie nur in Büchern vermutet. Michael Guggenheimer und Heinz Egger haben es sich zur Aufgabe gemacht, in ihrem Blog buchort.ch besondere Buchhandlungen, Antiquariate, Bibliotheken und Lese-Cafés vorzustellen – in der Schweiz, Europa und darüber hinaus. Heute zeigen sie uns in einem Stadtspaziergang sechs der schönsten, speziellsten und geschichtsträchtigsten Buchläden direkt vor unserer Haustüre.

Gleich neben dem Stauffacher kann man zum Mittelmeer reisen. Die Buchhandlung mille et deux feuilles in der Glasmalergasse bietet Originale und Übersetzungen rund um dem mediterranen Raum. Sie birgt Schätze, die teilweise eigens über Kontakte und Importe hier landen. Die Artischocke im Logo ist nicht nur Motiv für den Namen, sondern steht auch sinnbildlich für die Mission des Ladens: Einladen zum Blättern rund um eine vielseitige Geografie, deren Herz in den letzten Jahren zum Schauplatz vieler Kriege und Schiffbrüche geworden ist.

Im Piz gibt’s alles rund um die Berge. Ihr 22-jähriges Bestehen feiert die Buchhandlung an diesem Tag. Der Inhaber Lieni Roffler ist ehemaliger Bergführer und Architekt und versammelt in seinem kleinen Laden Wanderkarten, Romane, Postkarten, Bildbände und Berglyrik. Auch er bemüht sich redlich um Importe aus aller Welt. Geschenke verpackt er in alte Landkarten und so bekommen auch wir zur Feier des Tages einen geografischen Umschlag mit einer Reliefkarte des Alpenraums.

Dass es solche monothematischen Buchhandlungen besonders heute nicht leicht haben, liegt auf der Hand. Geplant war auch ein Abstecher zu ZentRus, der russischen Buchhandlung, die mit Zürich eine lange Geschichten verbindet. Doch sie musste Ende August aus finanziellen Gründen schließen. Und so bleibt uns nur die Einsicht in das noch bestückte Schaufenster.

Im Piz gibt’s alles rund um den Berg.

In direkter Nachbarschaft besuchen wir das Haus der Bibel und die Comicbuchhandlung Analph, die neben deutschen und englischen Comics und Graphic Novels alles bietet, was Fans haben wollen: Figuren, Plakate und antiquarische Ausgaben. Ihr Name spielt mit dem Vorurteil, mit denen der Comic und seine Leser*innen konfrontiert sind, nämlich Analphabeten zu sein. Und dass der Comic mehr kann, zeigt diese breite Auswahl in der Tat.

Die Comicbuchhandlung Analph

Nicht fehlen darf schließlich die Buchhandlung im Volkshaus, in deren „Katakombe“ viele geschichtsträchtige Lesungen stattgefunden haben. 1927 als Genossenschaft gegründet, hat sie ein besonderes linkspolitisches Profil. Neben Literatur und Politik findet sich hier alles zur Psychoanalyse – und auch dem Fußball ist ein eigenes Regal gewidmet. 1948 las Bert Brecht zu seinem 50. Geburtstag drei Gedichte vor, und auch Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Mascha Kaléko sind nur einige Stimmen, die hier hörbar geworden sind.

Zum Stöbern bleibt am heutigen Abend nur wenig Zeit. Also kommen wir ein andermal wieder. Und wer Lust hat auf mehr: Der buchort.ch bietet über 200 weitere Porträts spannender Literaturorte an, die es noch zu entdecken gilt.

Nur Mehl, Salz und Wasser und Worte

Das sogar Theater erzählt mit «Soldat Kertész!» die grausam wunderliche Geschichte eines jungen Mannes, der vom Motorrad und aus der Sprache gefallen ist. Das Stück fordert aber kein Mitleid, sondern Verantwortung.

Zoltán steht, noch bevor das Publikum sich gesetzt hat und das Licht gedimmt wird, steif mit dem Gesicht vor der Wand. Im ausgebeulten Wollpullover wirkt er dürr, sein Blick fällt starr durch die Wand. Dann beginnt er zu erzählen, ohne eine Bewegung, dafür in überbetontem Bühnendeutsch, das jedes «O» weit aufmacht und mit jedem «F» die Luft zerschneidet. Zoltán erzählt, wie er vom Bäckermeister verprügelt wurde, nur weil er die frische Hefe bemängelte. Wie ihm davon ein derart starkes «Schläfenflattern» blieb, dass er «wie ein Mehlsack» vom Motorrad fiel, als sein Vater ihn abholte. Da sei er «blöd» geworden, und seither verstehe ihn niemand mehr so richtig.

Der Sturz hat Zoltán irgendwo neben die Sprache verrückt, von wo aus er sie neugierig betrachtet und in einzelne Buchstaben zerteilt. Dann steht der «König der Kreuzworträtsel» verloren irgendwo auf der Bühne mit hängenden Armen und versucht, die harten Worte der anderen zu V-E-R-S-T-E-H-E-N. Den Wunsch seiner Eltern, dass er, der «zwischen den Schenkeln eine Blume statt einen Schwanz» habe, ein Mann werde. Die widersinnigen Befehle seiner Vorgesetzten im Militär. Aber Zoltán hat alle Sprachspiele verlernt, bewegt sich auf der wörtlichsten aller Ebenen ganz nah an der Sprache der anderen, aber nie in ihr drin. 

Folgerichtig hören wir von Zoltáns Welt auch nur von Zoltán, treffsicher gespielt von Jonas Gygax. Die sprachliche Isolierung, bereits in der künstlichen Prononcierung materialisiert, findet auch körperlich statt. Gygax steht meist wie hingestellt irgendwo im Raum, ohne auf sein Umfeld zu reagieren. Mittig ein blosser Tisch, rechts noch ein portabler Backofen. Die fast leere Bühne teilt sich Gygax nur mit einem stummen Robert Baranowski, der in gutmütiger Ruhe vor sich hin backt. Die disparaten Bewegungen entfernen die zwei voneinander, sodass sie sich nur in kurzen Momenten finden. Diese häufen sich allerdings, sobald wir in Zoltáns Partner seinen dickleibigen, schüchternen Freund Jenő erkennen. Der versteht ihn zwar auch nicht wirklich, anerkennt aber seinen Appell an einen Dialog und nähert sich ihm im Stück auf nicht-sprachlicher Ebene an. So kulminiert das Freundschaftsglück im gemeinsamen Zöpfeln des Teigs. Schade nur, dass die Rolle nicht wirklich zu Baranowski passen will und viel zu eindimensional wirkt. 

Regisseurin Ursina Greuel hat die die Inszenierung aufs Nötigste reduziert, um dem Text selbst soviel Platz wie möglich zu machen. Diese Entscheidung ist nachvollziehbar, bedenkt man die Vorgeschichte des Stoffes. Bereits vor fünf Jahren, und damit vor seiner Zeit als Protagonist im Roman Schildkrötensoldat, war Zoltán am Theater Basel zu sehen. Da wurde der Monolog aber stark dramatisiert, will heissen szenisch auf mehrere Figuren verteilt, was die Fabel zu eindeutig werden liess. Der Autorin selbst schien Literatur dazumal «geradezu unvereinbar mit dem Theater zu sein». Unter ihrer Mitarbeit hat der Stoff nun aber eine minimalistische Form gefunden, in der ihre formal vielschichtige Prosa nun auch gesprochen funktioniert. 

Aber warum soll man einen Stoff, der so gut als Roman funktioniert, überhaupt für die Bühne adaptieren? Nicht für den dramatischen Konflikt, wie es das Theater Basel versucht hat. Aber im Modus des Erzählens erscheinen die metaphorischen und sprichwörtlichen Elemente der Sprache, die Zoltán nicht als solche erkennen kann, wie märchenhafte Vorkommnisse seiner Welt. In diesem Zerrbild tritt uns unscheinbares Übel, das in geronnener Sprache normalisiert wurde, wieder klar in Erscheinung. Damit nimmt das Stück das Publikum in die Verantwortung, die explizite Appellation («Hören Sie überhaupt noch zu?») an unsere Ohren auch aus dem Theater rauszutragen. Denn letztendlich geht es Abonji neben der Ethik poetischer Verfahren auch immer um die Ethik wirklicher Handlungen. Jenő stirbt auf einem Marsch, weil niemand auf seine Bitten anzuhalten hört. Auf eben diese Art wurde der Schweizer Rekrut Pierre-Alain Monnet in den Tod getrieben. Nicht zu hören, heisst zu töten. Das versteht Zoltán von der Welt.