Annäherung an das Unsagbare

Viel ist gesagt worden von der Unmöglichkeit, Gedichte gänzlich sprachlich zu fassen. Und gleichermassen ist ihre Art, das Unsagbare in Worte zu fassen, die Qualität, die vielleicht am häufigsten mit ihnen in Verbindung gebracht wird. Die Germanistin und Theologin Franzisca Pilgram-Frühauf hat ein Buch geschrieben, das sich genau diesem Thema nähert und in das Licht der Spiritualität stellt: «verdichtet – Poetische Annäherungen an Spiritualität» ist im Verlag rüffer & rub erschienen. Darin stellt sie einer Auswahl an Gedichten quer durch die Jahrhunderte Interpretationsansätze an die Seite und klopft sie auf ihren spirituellen Gehalt hin ab.

Am Montag gab es die Buchvernissage, heute wirft die Lektorin Vivian Tresch mit der Autorin ein Blick ins Buch und spricht mit ihr über die Ungenügsamkeit begrifflicher Definitionen. Mit dabei ist die junge Lyrikerin Sophie Thomas aus Bern, deren Gedicht das Buch abschließt. Franzisca Pilgram-Frühauf ist Fachverantwortliche für Spiritualität und Lebenssinn am Institut Neumünster und hat einen besonderen Schwerpunkt auf dem Umgang mit älteren Menschen. Was Spiritualität genau sei, könne sie nur schwer erklären. Fest steht, es geht um die großen existenziellen Fragen des Lebens, um Schlüsselmomente. Gerade Gedichte haben ihrer Meinung nach das Potenzial, mit diesen Themen offen, spielerisch, vorsichtig und ohne Scheu umzugehen – und dennoch niemals fertig mit ihnen zu werden. Verletzlichkeit wird hier in Hoffnung gewendet und auch der Humor ist niemals fehl am Platz, wo er sonst, im Umgang mit Lebens- und Krisenfragen oft unangebracht scheint. Ebenso offen möchte die Autorin mit den ausgewählten Gedichten umgehen und ihre Interpretationen als Denkanstöße zum Weiterlesen verstehen.

Sophie Thomas liest passend zu dieser Gelegenheit Gedichte, die sich Themen wie Identität und Brüchen widmen. Sie schätze an der Lyrik vor allem die Möglichkeit des sprachspielerischen Umgangs und die Konzentriertheit der Gattung. Ihr Buch «Umbau» ist im Selbstverlag erschienen, in den Denkbildern kann man einige ihrer Gedichte nachlesen.

Welchen Stellenwert hat das gedichtete Wort? Im Umgang mit dementen Menschen entfaltet es seine Kraft auf besonders eindrucksvolle Weise, berichtet Franzisca Pilgram-Frühauf. Die rythmische-klangliche Struktur, die bildreiche Sprache überlebe Brüche und setze sich tief hinein in den menschlichen Körper. Nicht selten komme es vor, dass gerade alte Menschen noch und wieder Verse aus ihrer Schulzeit rezitieren könnten, aber im Alltag völlig hilflos seien. Die kommentierte Auswahl zeigt das Potenzial auf und macht die Grenzen des Unsagbaren sichtbar als Möglichkeit, über sie hinweg zu gehen.

Schlickerfürzchen

Eine kleine Reise durch die «alphabetischen Prozessionen» (Mark Twain) des Grimm’schen Wörterbuchs. Abgelauscht von Peter Graf und Thomas Sarbacher. Nachzulesen in der UNGEMEIN EIGENSINNIGEN AUSWAHL UNBEKANNTER WORTSCHÖNHEITEN AUS DEM GRIMMSCHEN WÖRTERBUCH (Verlag Das Kulturelle Gedächtnis 2018).

Berufsameise

blitzzwiebelblau

Entschuldigungsschwamm

Fegefeuerlebensminute

fotzdudeln

Frühstücksfehler

Furzauflese

geilreizig

Gelehrtenschlendrian

Genieunwesen

Glückseligkeitschimäre

Halbverdeutschung

Haufenmacherin

Heiligenfresser

Hummelhirn

Idealheld

Jetztberührt

kitzelgierig

Krokodilist

Kummerverlächelung

Muttersprachverächter

Nichtigkeitsbeschwerde

Ohrfeigenkommando

Pisssteuerzahler

Prachtlustgezelt

Probegeliebte

Quälodram

Ranzenreiter

Sausödel

Schlickerfürzchen

Sprachmenschwerdung

Tollhausbibliothekar

Unabkömmlichkeitsbescheinigung

Verführschamlehre

Verhässlichungskunst

Locko mit Besteckung

Latenightlotto gibt’s im Karl mit René Gisler und dem «Thesaurus Rex», einem schwergewichtigen kommentierten Wörterbuch der Neologismen. Begonnen hat das Gemeinschaftsprojekt 2006 mit dem Blog „enzyglobe“, geendet hat es mit 16.000 Einträgen – nun ist es gedruckt im Gesunden Menschenversand erschienen. Und Lottospielen geht damit ganz einfach. Zwei Reihen mit fünf Wörtern aus dem guten Buch, der Spielleiter verliest Wort um Definition, wer einen Treffer hat, versinkt – äh, klebt einen Punkt. Und wer eine Reihe hat, gewinnt. Zur Nachahmung zu empfehlen!

Das Buch zum Spiel kostet 107 Franken.

© thesaurusrex.ch

Berge, Comics, Mittelmeer

Zum Buchort wird in diesen Tagen ganz Zürich, doch die literarischen Schauplätze verstecken sich zuweilen. Im Stadtkreis vier befinden sich auf wenigen Straßenzügen gleich eine ganze Menge von ihnen: Buchhandlungen, wie man sie nur in Büchern vermutet. Michael Guggenheimer und Heinz Egger haben es sich zur Aufgabe gemacht, in ihrem Blog buchort.ch besondere Buchhandlungen, Antiquariate, Bibliotheken und Lese-Cafés vorzustellen – in der Schweiz, Europa und darüber hinaus. Heute zeigen sie uns in einem Stadtspaziergang sechs der schönsten, speziellsten und geschichtsträchtigsten Buchläden direkt vor unserer Haustüre.

Gleich neben dem Stauffacher kann man zum Mittelmeer reisen. Die Buchhandlung mille et deux feuilles in der Glasmalergasse bietet Originale und Übersetzungen rund um dem mediterranen Raum. Sie birgt Schätze, die teilweise eigens über Kontakte und Importe hier landen. Die Artischocke im Logo ist nicht nur Motiv für den Namen, sondern steht auch sinnbildlich für die Mission des Ladens: Einladen zum Blättern rund um eine vielseitige Geografie, deren Herz in den letzten Jahren zum Schauplatz vieler Kriege und Schiffbrüche geworden ist.

Im Piz gibt’s alles rund um die Berge. Ihr 22-jähriges Bestehen feiert die Buchhandlung an diesem Tag. Der Inhaber Lieni Roffler ist ehemaliger Bergführer und Architekt und versammelt in seinem kleinen Laden Wanderkarten, Romane, Postkarten, Bildbände und Berglyrik. Auch er bemüht sich redlich um Importe aus aller Welt. Geschenke verpackt er in alte Landkarten und so bekommen auch wir zur Feier des Tages einen geografischen Umschlag mit einer Reliefkarte des Alpenraums.

Dass es solche monothematischen Buchhandlungen besonders heute nicht leicht haben, liegt auf der Hand. Geplant war auch ein Abstecher zu ZentRus, der russischen Buchhandlung, die mit Zürich eine lange Geschichten verbindet. Doch sie musste Ende August aus finanziellen Gründen schließen. Und so bleibt uns nur die Einsicht in das noch bestückte Schaufenster.

Im Piz gibt’s alles rund um den Berg.

In direkter Nachbarschaft besuchen wir das Haus der Bibel und die Comicbuchhandlung Analph, die neben deutschen und englischen Comics und Graphic Novels alles bietet, was Fans haben wollen: Figuren, Plakate und antiquarische Ausgaben. Ihr Name spielt mit dem Vorurteil, mit denen der Comic und seine Leser*innen konfrontiert sind, nämlich Analphabeten zu sein. Und dass der Comic mehr kann, zeigt diese breite Auswahl in der Tat.

Die Comicbuchhandlung Analph

Nicht fehlen darf schließlich die Buchhandlung im Volkshaus, in deren „Katakombe“ viele geschichtsträchtige Lesungen stattgefunden haben. 1927 als Genossenschaft gegründet, hat sie ein besonderes linkspolitisches Profil. Neben Literatur und Politik findet sich hier alles zur Psychoanalyse – und auch dem Fußball ist ein eigenes Regal gewidmet. 1948 las Bert Brecht zu seinem 50. Geburtstag drei Gedichte vor, und auch Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Mascha Kaléko sind nur einige Stimmen, die hier hörbar geworden sind.

Zum Stöbern bleibt am heutigen Abend nur wenig Zeit. Also kommen wir ein andermal wieder. Und wer Lust hat auf mehr: Der buchort.ch bietet über 200 weitere Porträts spannender Literaturorte an, die es noch zu entdecken gilt.

Ein Gedicht: Tucholsky mit Rindsentrecôte

Beim Dîner Littéraire speisen wir im Münsterhof ein Viergängemenü mit Weinauswahl und hören den Lieblingsgedichten von René Grüninger zu. Zehn Jahre lang war er Kurator des Literaturfestivals Leukerbad, weiß also die ein oder andere Anekdote zu berichten. Aber das nur am Rande. Ein wenig erinnert Grüninger an den Schauspieler Toni Servillo in der Rolle des Jep Gambardella im italienischen Film «La grande bellezza». Und sicherlich ist diese Assoziation bei der hiesigen Veranstaltung nicht ganz fehl am Platz. Denn bei aller Schönheit, bei allem Genuss geht es hier wie dort auch um die Ausmaße der mondänen Welt.

«Wir brauchen mehr Häppchen!», verlangt Grüninger und das Servicepersonal eilt. «es ist was es ist», sagt Erich Fried.

Und so ist es:

Erster Gang: Gebeizte Tranchen vom Schweizer Lachs an einem Ingwer-Sud und Kohlrabi. Dazu gereicht wird Pablo Neruda, Kurt Tucholsky und Robert Gernhardt.

Wer kommt hier hin? Etwa zwanzig Menschen an zwei Tafeln im ersten Stock des Münsterhofes, ein alteingesessenes Restaurant mit frischer Spitze: Karim Schumann und Emanuel Della Pietra schmeissen die Küche mit Fingerspitzengefühl. Zwanzig Menschen, das sind ungefähr so viele, wie man zu einer Lyriklesung erwarten würde. Ob sie allerdings des Essens oder der Gedichte wegen gekommen sind – und wer hier was bewirbt, bleibt erst mal offen. Eine geplante Kohärenz zwischen Menü und Gedichten gibt es jedenfalls nicht. Der Genuss steht im Mittelpunkt und das ist erst mal gut.

Zweiter Gang: Basilikumravioli mit Zucchini und Hummerbique. Dazu: Jaques Prévert und Sappho.

Es sind übrigens nur kleine Ausflüge in historische Gefilde. Grüningers Auswahl beschränkt sich vor allem auf das 20. Jahrhundert und wählt damit nicht nur altbackenes Brot aus. Keine Römischen Elegien, kein Minnesang (– leider, denn die Kulisse macht wenigstens einen Walther eigentlich unumgänglich: an der Wand ein Fresko von 1370, ein «Lustgarten» mit drei Liebespaaren). Stattdessen ein schönes Angebot auch an weiblichen Stimmen: Else Lasker-Schüler, Elisabeth Borchers, Sarah Kirsch und Ulla Hahn. Sonst eher viele Brüste. Natürlich ist die Sinnlichkeit das große verbindende Element.

Dritter Gang: Gegrilltes Rindsentrecôte mit Tomaten-Buttersauce und Fregola Sarda, Lauch und Parmesanschaum. Hansjörg Schertenleib meint dazu: «Fass mich an, Marie!»

Das geht runter wie Öl, die feinen Speisen sind ein Gedicht, optisch, olfaktorisch und geschmacklich. Und die Gedichte die gehen mit (hin)unter. Denn was passiert hier eigentlich? Wir bekommen Bestes serviert in bester Atmosphäre. Die Lyrik ist so was von genießbar und gemütlich. Aber diese Inszenierung zeugt auch von einer gewaltigen bürgerlichen Dekadenz, die nachdenklich stimmt. Lust auf Lyrik machen, keine Frage, das ist so wichtig wie eh und je. Aber so, auf dem Silbertablett, in Häppchen verliert sie, was sie eigentlich so unbedingt macht: das andere, ungemütliche und widerständige Sprechen, das wieder und wieder ins Ohr hinein und hinaus muss. Das sind keine zarten Filets auf neuen und neuen Gabeln und Löffeln, wie sie hier zu jedem Gang serviert werden. Natürlich kann man sie so konsumieren – aber über den gemütlichen Konsum kommen sie dann auch nicht hinaus.

Zum Nachtisch: Duett von der Felchlin Schokolade, Quitte und Chili. Und: Das Hohelied der Liebe.

Die große Schönheit des lyrischen Dinnierens im Münsterhof geht dieses Jahr in die vierte Runde. Und die 90 Franken lohnen sich wohl. Aber wer kommt hier rein? Ein Publikum, das sich zum Feierabend ein bisschen Genuss mit kulturellem Beigeschmack gönnt. Und das ist sein gutes Recht. Zu fragen wäre vielleicht noch am Rande: Welchen Grund diese Gedichte noch haben, fernab des guten Geschmacks. Einen grossen, würde ich behaupten. Nur wer trägt ihn dort hinaus? Wein, gutes Essen, erotische Gedichte – nie kam besser zusammen, was schon immer zusammen gedacht wurde. Und bleibt sich doch fremd.

Für uns bei «Zürich liest»: Elisa Weinkötz

Elisa kommt aus Berlin und verbringt zur Zeit ein ERASMUS-Semester in Zürich. Sie kommt grade mit dem fehlenden scharfen S klar und erkundet die Schweizer Literaturszene. Dabei ist sie erstaunt, wie wenig sie bisher mitbekommen hat und freut sich über Entdeckungen wie den Verlag die brotsuppe und die Autorin Zsuzsanna Gahse.

Bei „Zürich liest“ beginnt sie im Münsterhof, wo sie ein dekadentes Zusammentreffen von Kulinarik und Liebesgedicht erwartet – sie ist gespannt auf das Mehrgängemenü. Dann wird sie sich beim Spaziergang im Stadtkreis vier Buchorte erlaufen, wieder einmal guten alten Grimm’schen Wortschatz bestaunen – und die „Grenzenlosigkeit der Sprache“ im Angesicht der Lyrik. Schließlich wird sie sich im „Kein Museum“ auf Kies betten, um die Lage zu checken: poetisch, praktisch und hoffentlich gut.