Erzählt eure Traumata!

Was laut Programmheft als Abend voller Poesie, Musik, Engagement und Liebe im Nahen Osten angekündigt wird, entwickelt sich zu einem aufwühlenden Abend über Grundsatzfragen der politischen Entfremdung und Annäherung, die lange anhalten.

Im Zentrum der heutigen Lesung im Salon in Zürich Wiedikon stehen Joana Osmans Debütroman «Am Boden des Himmels» (2019) und das von ihr unterstützte Friedensprojekt im Nahen Osten, «The peace factory». Die Lesung begleiten ein orientalisches Dinner und ein Musiker, welcher auf der von zwei Bernern erfundenen Handtrommel Hang (Berndeutsch für Hand) den Abend mit sphärischen Klängen einrahmt. Osmans Roman handelt von der jungen palästinensischen Journalistin Leyla (arab. Nacht), ihrer Beziehung zum israelischen Doktoranden Lior (hebr. Licht) und der Sichtung eines Engels in Galilea, welche die nahöstliche Welt in Aufruhr versetzt. Der Engel heisst Malek Sabateen, ist 19 Jahre alt und lässt die Menschen für einen Moment aus den Augen des Anderen – des vermeintlichen Feindes – sehen. Während die Einen in ihm den hoffnungsvollen Vorboten ihres Messias oder eine Widerstandsikone erkennen, schürt er bei den anderen Panik und wird als vermeintlicher Terrorist sogar verhaftet.

Bereits in den Namen der beiden Protagonisten verdeutlicht Joana Osman, dass Konträres nicht grundsätzlich voneinander geschieden werden muss, sondern dass es durch das Herstellen einer Beziehung verbunden werden kann. Die 1982 geborene Deutsch-Palästinenserin besitzt eine grosse Familie im Libanon und ist selbst eine Art Bindeglied zwischen den Kulturen. Sie liest an diesem Abend nicht nur ausgewählte Textpassagen aus ihrem Roman, sondern kontextualisiert das Erzählte mit persönlichen Erlebnissen. Vor einigen Jahren hat sie im Nahen Osten Vortragsreisen über den Frieden unternommen, die sowohl in Israel als auch in Palästina sehr positiv aufgenommen wurden. Doch obwohl die beiden Parteien anscheinend für dieselbe Sache einstehen und den Frieden wollen, stehen sie gleichzeitig vor einer unüberwindbaren Grundsatzfrage: „Was muss denn passieren, damit die anderen endlich wahrnehmen, was uns bedrückt und unser Trauma verstehen?“, fragen sie sich gegenseitig. In ihrem Roman schickt Osman als Antwort nun den Engel Malek auf die Erde und versucht im Stil des magischen Realismus nachzuzeichnen, was passieren könnte, wenn das Wunder geschehen würde, dass man in den Anderen hineinschauen könnte.

Joana Osman: „Am Boden des Himmels“, Hoffmann und Campe 2019

Der neuralgische Punkt im Konflikt im Nahen Osten liegt laut Osman im Schweigen über die erlebten Traumata und in den verhärteten Denkmustern, weil wieder einfach niemand miteinander spricht. Also verfestigen sich Dehumanisierung und Viktimisierung und ergeben eine Abwärtsspirale, die früher oder später in Gewalt ausarten muss. An diesem Punkt entfernt sich der Abend immer stärker von einer Lesung und nähert sich einer engagierten Diskussionsrunde an, welche die Zuhörenden auf den gegenwärtigen Zustand im Nahen Osten sensibilisiert. Die Grundstimmung des Abends bleibt trotz der happigen Thematik hoffnungsvoll. Eine junge Generation wächst heran, die immer weniger an Ortsgrenzen gebunden ist und die mit Medien wie Instagram, Musik, Fotografie und Literatur Schwellen überschreitet. Es entstehen Bewegungen wie beispielsweise die „Peace Factory“, die einem Facebookpost des Grafikers Ronny Edry und seiner Frau Michal Tamir von 2012 zu verdanken ist. Der Post entstand im Moment, als Israel und Iran sich erneut den Krieg erklärt hatten und trägt den Text: “Iranians, we will never bomb your country. We love you.” Den Post begleitete ein offener Brief an die iranische Bevölkerung mit dem Wunsch, die Waffen niederzulegen und stattdessen miteinander zu reden und so die jeweils andere Seite kennenzulernen. Über Nacht ging die Botschaft viral und löste Reaktionen aus die von „Iran loves Israel“, zu „Israel loves Palestine“ und umgekehrt reichten.

Osman plädiert für die kleinen Schritte – die Babysteps – die sich an eine mögliche Lösung annähern können. Es gehe darum, dass die Leute endlich lernen würden, miteinander zu sprechen und das Schweigen aufbrechen. Natürlich ist sie zu realistisch, um der Illusion nachzugehen, dass dies allein den Konflikt lösen könnte, der seit Jahrzehnten schwelt. Doch Sprache und Dialog geben dem fratzenhaften Feindbild ein menschliches Gesicht und machen den Hass umso schwieriger, desto länger man hinhört. Sie schliesst mit der Bemerkung, dass die Lösung des Konflikts von solchen Dialogen vorangetrieben wird und es ihr hilft, die Hoffnung nicht zu verlieren. Ein langer Applaus folgt ihren Worten.

Der Vorleser stiehlt die Show

Das Café Odeon ist an diesem Samstagmorgen bis auf den letzten Platz ausgebucht. 60 Besucherinnen und Besucher sitzen eng nebeneinander, nippen konzentriert an ihren Cappuccinos und frischen Orangensäften und bemühen sich sichtlich, das Frühstücks-Dickicht aus Gläsern, Tassen und Tellern auf den kleinen Bistro-Tischchen nicht umzustossen. Als Hauptakteure der Frühstücks-Matinee fungieren jedoch nicht die Frühstücksspeisen, sondern die neuentdeckten Romane von Ulrich Alexander Boschwitz «Der Reisende» und «Menschen nebem dem Leben», aus denen Schauspieler Thomas Sarbacher Textstellen vorlesen wird, und der Berliner Verleger Peter Graf.

Menschen neben dem Leben von Ulrich Alexander Boschwitz, Klett Cotta 2019

Im Grunde kennt man das Café Odeon ja eigentlich in keinem anderen Zustand als «gut besucht» und weiss um die lärmende Geräuschkulisse und die heikle Mission, nur schon einen Platz für zwei finden zu können. Die Idee, in dieser Kulisse eine Lesung abzuhalten, wirkt akustisch daher durchaus ambitioniert. Während Peter Graf einleitende Worte zum Autor verliert und die Hintergründe seiner literarischen Wiederentdeckung erklärt, ist das Publikum erstaunlich ruhig. Nur manchmal hört man das leise Scheppern einer etwas zu achtlos hingestellten Kaffeetasse oder ein Verschlucken, das sich in nonchalanten Räuspern tarnt. Die zwei Romane Ulrich Alexander Boschwitz‘ erschienen, als Deutschland unter dem NS-Regime stand. Er schrieb im Exil, wurde immer wieder ausgewiesen und schliesslich nach Australien in ein Internierungslager abgeschoben. Auf der Hinfahrt 1940 verscholl das Skript eines noch unveröffentlichten Romans. Auf der Rückfahrt nach England im Jahr 1942 wurde der Dampfer, auf dem sich Boschwitz und das Skript seines vierten und ebenfalls unveröffentlichten Romans befanden, torpediert und die beiden versanken tragischerweise in den Untiefen des Meeres. Dem frühen Tod des jungen Autors ist es geschuldet, dass die beiden im Exil erschienenen Romane und in Übersetzungen erstpublizierten „Menschen nebem dem Leben“ auf Schwedisch (Människor utanför, 1937) und „Der Reisende“ auf Englisch (The man who took trains, 1939) fast den ganzen Umfang seines literarischen Nachlasses ausmachen.

«Menschen nebem dem Leben» ist ein Berlinroman, der Ähnlichkeiten mit Alfred Döblins «Berlin Alexanderplatz«, Hans Falladas «Kleiner Mann – was nun?« und Irmgard Keuns «Das kunstseidene Mädchen» aufweist. Im Resonanzraum der Neuen Sachlichkeit trifft Boschwitz jedoch seinen eigenen Ton und einen lakonischen Humor, der einen sowohl zum Lachen bringt als auch immer ein wenig zerreisst. Es geht um Menschen, die aus der Gesellschaft herausgefallen sind und denen als einziger Lebensinhalt das Überleben bleibt. Der blinde Kriegsveteran Sonnenberg handelt mit Streichhölzern um seine Existenzsicherung, seine Frau ergötzt sich an Schaufenstern und tanzt im Lokal Freudenberg fremd, Kleinkriminelle träumen vom ganz grossen Coup und haben dann doch zu viel Angst, um ihn zu verwirklichen, das organisierte Verbrechen tarnt sich als Liederkranz und gutbetuchte Bibliotheksgänger investieren mit ihren Spenden nicht in die Armen, sondern in den Aushang ihres eigenen Edelmuts. «Man weiss so viel vom Unglück der anderen, wie man wissen will», liest Thomas Sarbacher mit seinem charakterstarken Timbre. Sowohl für die Erzähl- als auch die Figurenreden entwirft Sarbacher jeweils eigene Tonlagen, die von keck bis träumerisch reichen, und lässt die zahlreichen Dialoge des Romans so lebendig wie ein Theaterstück erschallen.

Die Bistrot-Tische im Café Odeon sind an diesem Morgen am Rande ihrer Kapazität.

Auch wenn man noch keinen der Boschwitzen Romane selbst gelesen hat, ist man nach wenigen Minuten mitgerissen und findet sich in der urkomischen, zuweilen lakonischen und immer tief menschlich erzählten Figurenwelt versunken. Wer ab und zu den Literaturclub des Schweizer Fernsehens schaut, kennt die fesselnde Kraft von Thomas Sarbachers Sprechstimme bereits. Beim Lesen live anwesend zu sein, verstärkt die Erfahrung jedoch um ein vielfaches. In seinen Sprechpausen hätte man im Café Odeon eine Nadel fallen hören können, so gebannt waren die Zuhörenden. Es ist ein unfairer Glücksfall, eine Stimme zu besitzen, die selbst das Vorlesen eines Telefonbuchs zum Plausch machen würde. So schleicht sich nach der Veranstaltung sogleich ein Bedauern darüber ein, dass man sich Thomas Sarbacher nicht einfach ausborgen kann, damit er einem den Rest des Buches auch noch vorliest. Dass das Hörbuch ein anderer spricht, ist dann einfach nur gemein. Vielleicht tröstet ja das Selbstlesen von Boschwitz‘ Roman darüber hinweg. Ich rate auf jeden Fall, es zu versuchen.

Von Sinnen

Am Schluss dieses Abends werde ich mit einer Islamwissenschaftlerin, einer Mäzenin, einem Physikdoktoranden, zwei Bibliothekarinnen und einer Germanistikstudentin über Sexualität, den Kosmos, Frauen in der Politik, Mammutjäger, Greta Thunberg und den Schweizer Buchpreis gesprochen gehaben. Wie es genau dazu kam, bleibt mir selbst ein wenig rätselhaft. Aber gehen wir erstmal zum Anfang.

Die Lesung drehte sich um die westliche und östliche Sicht auf die Weiblichkeit und fand im Hammam Basar + Salon Zürich statt. Der Abend ist eine Hommage an die 2015 in Rabat verstorbene Fatima Mernissi, die sich zeitlebens mit der Stellung der Frau in der arabischen Welt befasste. Die deutsche Schauspielerin Susanne-Marie Wrage las ausgewählte Textausschnitte aus ihrem vergriffenen Buch «Harem. Westliche Phantasien, östliche Wirklichkeit». Die Besucherinnen, mit denen ich im Vorfeld der Lesung sprach, haben den Osten oftmals selbst bereist und erzählen von einprägsamen Eindrücken: Den Verschleierungen an einem iranischen Markt oder dem unangenehmen Ausweichen von Blicken im Tibet, weil man nicht dazu gehört. Noch bevor die Lesung überhaupt angefangen hat, liess sich an den Sprechweisen ablesen, wie stark die Wahrnehmung visuell sowohl über das Gesehene als auch über die geernteten Blicke läuft und dass sie ein gewisses Stimmungsbild prägen. Anwesend waren vierzehn Besucherinnen und ein Besucher – ein Physikstudent, der mit seiner Freundin da war.

Der Lesesaal im «Hammam Basar + Salon» ist gleichzeitig Foyer und Ladenraum.

Die Texte Mernissis setzen keinen intellektuellen Überbau voraus, sondern blicken unverfroren auf die Selbstwahrnehmung der Frau in unterschiedlichen Kulturen. Es geht um Schönheitsideale, Harems, die islamischen Erklärungsmodelle sexueller Ungleichheit, männliche Psychen und die Geschichten aus «1001 Nacht». Scheherazade, die mit erotischen Geschichten jede Nacht von Neuem um ihr Leben liest, wird zur Ursprungsfigur der Verstrickung von Sexualität und politischem Kalkül und erscheint wiederholt als Fluchtpunkt, auf den die vorgelesenen Textstellen hinströmen. Als Susanne-Marie Wrage vorlas, dass «das Hirn die mächtigste erotische Waffe der Frau ist», nickte das vorwiegend weibliche Publikum gedankenverloren. Mit der pointierten Textstelle «Gedankenloser Sex hilft niemandem weiter» beschloss Mernissis ihre Lesung. Immer wieder fragen die Texte, wie Phänomene des Ostens aus der Perspektive des Westens wahrgenommen werden. Wer ist Scheherazade aus dem Blickwinkel westlicher Künstler? Wieso sind ihre Körperproportionen hier so viel schlanker als in der bildenden Kunst des Ostens, die sie so viel üppiger zeigt? Die Texte von Mernissi befragen den paradoxen Sachverhalt, dass verschiedene Kulturen dieselben Phänomene so unterschiedlich und dann wiederum sehr ähnlich darstellen. Die Antwort darauf verortet Mernissi in den defizitären Sinnesinstrumentarien des Blickes. Damit verweist sie uns auf das aufklärerische Dilemma schlechthin und hält uns vor Augen, dass wir nicht verstehen können, weil die Differenz bereits in die Wahrnehmung eingeschrieben ist.

Das Nicht-Verstehen liegt aber immer auch in der prinzipiellen Unübersetzbarkeit von Sprachen begründet. Im Türkischen gibt es beispielsweise ein Wort für Sex, das sowohl Beischlaf als auch Verhandlung bedeuten kann oder einen Ausdruck für das Reden in der Nacht, der gleichzeitig «Schatten des Mondes» bedeutet. Es ging an diesem Abend nicht nur um den westlichen Blick auf die östliche Weiblichkeit, sondern auch um den Blick auf die eigene. Wann war die Besucherin das letzte Mal selbst die Scheherazade im Kleinen? Wann hat sie das letzte Mal über ihre Wünsche und Erwartungen in Bezug auf den Beischlaf verhandelt? Wann hat das Reden das letzte Mal erst funktioniert, als die Nacht die Abläufe des Alltags verdunkelt hat?

Die Lesung bot keine Antworten, sondern stellte vor allem Fragen, die Frau sich im Stillen schon oft gestellt hat. Im Anschluss an die Lesung folgte ein Tajine-Dîner im hauseigenen Salon. Die Diskussionen beim feinen Dîner waren rege und erfreulich weit weg von stumpfem Smalltalk. Ein Mitakteur war definitiv auch der Raum, der mit seinem geschmackvollen Interieur Hemmschwellen senkte und die Voraussetzungen dafür schuf, dass ich weltvergessen in diesen Abend eintauchen konnte. Als ich mich endlich losriss, um diesen Artikel zu schreiben, begleitete mich die Inhaberin des Hammams noch bis vor die Tür: «Die Kultur ist der Spiegel der Freiheit der Frauen», raunte sie mir durch die Türpforte zu, als es draussen schon dunkel war. Das ist ein Reden in der Nacht, das wir an diesem Abend beide verstehen.

Für uns bei «Zürich liest»: Isabelle Balmer

«Zürich liest 2019» steht für Isabelle ganz im Zeichen der Liebe. Sie beginnt ihre Festivalreportage am Mittwoch mit einem lyrisch-erotischen Abend im Münsterhof, entgleitet am Freitag im Hamam in die Tiefen der westlichen und östlichen Sicht auf die Weiblichkeit und nähert sich am Samstag über Joana Osmans Debütroman «Am Boden des Himmels» der Liebe im Nahen Osten.

Isabelle studiert an der Uni Zürich im Master Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft und TAV (Theorie – Analyse – Vermittlung). Sie hat eine Schwäche für Minnesang, mittelalterliche Liebeslyrik und Gottfried von Strassburgs Tristan. In der Literatur der Neuzeit freut sie sich besonders über unzuverlässige Erzähler, innovative Formen und geistreiche Sprache. Seit ihrem Umzug nach Zürich 2015 war Isabelle bisher jedes Jahr als Besucherin an «Zürich liest». Dieses Jahr ist sie zum ersten Mal als Reporterin mit von der Partie. Ihren Zweitwohnsitz verlagert sie während des Festivals wohlweisslich ins Karl der Grosse und freut sich auf spontane Begegnungen und viel Musse.

Wenn sie nicht für «Zürich liest» im Einsatz ist, arbeitet Isabelle im Max Frisch-Archiv an der ETH-Bibliothek oder schreibt für den Winterthurer Landboten. Wenn sie frei hat, trifft man sie am ehesten mit Buch und gusseisernem Teekännchen im Café Schwarzenbach; auf einem langen Spaziergang durch Zürich oder beim Nachdenken über eines ihrer Lieblingsworte.

Lyrik essen: Ein Bericht aus dem Inneren

«Wo gutes Essen ist, sind auch Liebe und Poesie nicht weit.» Mit diesen archaischen Worten bewirbt das Restaurant Münsterhof seinen lyrisch-erotischen Abend, an dem René Grüninger, der Mitbegründer des internationalen Literaturfestivals Leukerbad, lesend durch die Welt der Liebeslyrik führt. Ein «Dîner Littéraire» begleitet die Texte mit vier Gängen, Wein und einer Unzahl Hors d’Oeuvres.

Mehr als ein Dutzend Bücher liegen auf dem Tisch mit dem Mikrofon im 1. Stock des Restaurant Münsterhof. Davor sitzt René Grüninger. In den nächsten dreieinhalb Stunden wird er im Unterschied zu den rund 20 Besuchern statt Besteck und Stoffserviette, abwechselnd rund zwei Dutzend Gedichtbände in der Hand halten. Die Gäste sind chic gekleidet, tragen teure Uhren am Handgelenk und passen formgenau ins Interieur des ersten Stocks. In Alter und Geschlecht durchmischt, gehören sie zum Grossteil einer gehobenen Mittelschicht an. Auf den Tischen brennen Kerzen, die Wände zieren ein abstraktes Aktbild und eine Secco-Malerei aus dem 14. Jahrhundert, die «Lustgarten» heisst. Flotte Kellner bringen Gläser mit sprudelndem Prosecco. Die Stimmung für den Abend ist gesetzt: Man ist bereit, zu konsumieren und man tut dies sichtlich wohl.

Nach eigenem Gutdünken hat René Grüninger eine stattliche Auswahl der Liebeslyrik der letzten Jahrhunderte zusammengestellt. Er rezitiert sowohl Klassiker wie Erich Fried, Kurt Tucholsky, als auch Salomons «Hohelied» oder zeitgenössische Lyrikerinnen wie Ulla Hahn, Pedro Lenz oder Hilde Domin. Obwohl eine solche Zusammenstellung niemals abschliessend sein kann, ist es schade, dass gerade die Liebeslyrik des Mittelalters – die angesichts der Secco-Malerei an der Wand geradezu eine Steilvorlage erhalten hat – in seiner Auswahl keine Erwähnung findet. Die im Titel angepriesene Erotik wird in Ansätzen gestreift und beschränkt sich im Wesentlichen auf Kurt Tucholskys Gedicht «Versunkene Träume», das darüber spricht, den Busen von Jungfrauen besser fernzubleiben, und Peter Turrinis plastischen Beschreibung einer Mundwanderung zu den Brüsten einer Geliebten. «Es ist was es ist», möchte man Erich Fried hier zitieren.

Die Lyrik kommt immer in den Pausen zu Wort, die zwischen den Gängen des «Dîner Littéraire» von Küchenchef Karim Schumann und Sous-Chef Emanuel Della Pietra liegen. Auch wenn es abgedroschen klingen mag, was die beiden exzellenten Chefs auf den Tellern anrichten, sind Gedichte in kulinarisches Form. Den Beginn ihres Menüs bilden gebeizte Tranchen von Schweizer Lachs, dann folgen Basilikumravioli mit Hummerbique und Grillierte Rindsentrecôte mit Parmesanschaum. «Meine Liebe nährt sich von deiner Liebe», rezitiert Grüninger das bekannte Gedicht von Pablo Neruda. Dann kommt das anmutige Dessert in der übergrossen Keramikschale und man möchte die Zeilen umschreiben zu «Meine Liebe nährt sich von diesem Duett von Felchin Schokoloade, Quitte und Chili».

V.l.n.r. Sous-Chef Emanuel Della Pietra und Küchenchef Karim Schumann

Das Konzept des Abends verlockt zum Zurücklehnen, zum Abschalten und zum Geniessen. Doch.. darf man das denn? Lyrik ist doch Arbeit. Sie eckt an, ist inkommensurabel und fordert Analyse. In einer Form, wie heute Abend im Münsterhof, wird sie plötzlich leicht und zu einem Konsumgut, an dem man sich so einfach satt hören kann. Man wird ihr nicht gerecht, wenn man sie – mit der Gabel Entrecôte in der Hand und dem perlenden Prosecco im Kerzenschein – einfach zu warmem Sing-Sang werden lässt, der die Pausen zwischen den Gängen füllt. Doch wie verwerflich wäre es denn, einfach abzutauchen in gutes Essen, Wein und die Texte Füller werden zu lassen? Einige Besuchende schliessen die Augen, wenn Grüninger rezitiert und schwelgen blind. Ein älteres Ehepaar wirft sich bei den Zeilen Else Lasker-Schülers Gedicht «Heimlich zur Nacht» und den Verszeilen «Ich habe dich gewählt unter allen Sternen» von entgegengesetzten Tischkanten feurige Blicke zu; Eine Mittvierzigerin googelt hingebungsvoll nach diesem einen Gedicht von Nietzsche, an das sie sich plötzlich wieder erinnert; und ein junger Mann stöbert nach der Lesung gedankenverloren in den Grüningers verlassenen Lyrikbänden, als fände er darin die Antwort auf eine Frage, die ihn schon lange beschäftigt hat.

Kritische Zungen könnten an einem solchen Abend auch ein fertig geschnürtes Päckchen für eine ausgewählte Gruppe von Menschen sehen, die bereits auf Themen der Lyrik sensibilisiert sind, da sie über die intellektuellen wie auch die finanziellen Mittel dazu verfügen. Und sie hätten vermutlich Recht mit dieser Beobachtung. Es bleibt die Tatsache, dass ein solcher Abend eine ökonomisch stärkere Gruppe gegenüber der schwächeren privilegiert. Doch ist dies eine Figur, die dem Kultursystem, in dem wir leben, inhärent ist. Die Problematik ist eine strukturelle und kann den Veranstaltern nur unter Vorbehalten angekreidet werden. Es ist, was es ist, sagt die Beobachterin mit Blick auf den Abend und findet es legitim, hin und wieder eine Lanze für den kleinen Luxus zu brechen. Schöner als der Abend im Münsterhof bleibt ohnehin das Vorlesen zu zweit, das in Gänze unbezahlbar ist.

Wer sich entschliesst, 90 CHF für Liebesgedichte, Hors d’Oeuvres, 4-Gang-Menü, Prosecco und Espresso auszugeben, der hat die Chance, am Samstag an der nächsten Lesung teilzunehmen und kann hier reservieren. Meine Kollegin Elisa Weinkötz war auch begeistert, sah den Abend aber durchaus vom anderen Tellerrand. Ihren Bericht kann man hier nachlesen.