Zwischen Begeisterung und Überforderung: Eindrücke einer virtuellen Lesung

Die Erwartungen sind gross: Die Vorpremiere von LOS 360°VR (RC) wird angekündigt als die „weltweit erste virtuelle Lesung“. Roman Vital und Sandro Zollinger, die Macher dieser VR-Lesung, verbinden eine erzählte Geschichte mit der neuesten Virtual-Reality-Technologie. Ihre gefilmten und bearbeiteten 360°-Szenen werden kombiniert mit der Stimme von Klaus Merz, der aus seiner Erzählung LOS vorliest. Ich setze mich auf einen freien Stuhl zu den anderen Wartenden im Karl der Grosse und blicke mich um. Ich bin, wie schon bei der Eröffnung, bei Weitem die Jüngste im Publikum. Die Frage einer Dame, weshalb die Stühle so weit voneinander entfernt stehen, beantwortet Zollinger mit: „Sie müssen während der Lesung genügend Platz haben, um sich im 360°-Raum umzuschauen.“ Ich muss ein Lachen unterdrücken und erinnere mich an meine ersten Erfahrungen mit VR-Games bei Freunden. Im Eifer des Spiels konnten Verletzungen oder Scherben oft nur knapp vermieden werden. So wild wird diese Lesung wohl nicht werden.

Sandro Zollinger gibt zu, etwas nervös zu sein. Denn an diesem Mittwoch handelt es sich gewissermassen um die Premiere der Vorpremiere dieser virtuellen Lesung. Auch einige Zuschauer*innen sitzen etwas angespannt auf ihren Stühlen und blicken neugierig zu den VR-Brillen, die auf einem Tisch liegen. Die Brillen und Kopfhörer werden verteilt, es dauert einen kurzen Moment, bis alle bereit sind und sich wohlfühlen. Und dann heisst es: LOS!

Die virtuelle Lesung beginnt in einem Café. Umgeben von anderen virtuellen Zuschauenden blicke ich auf die Bühne vor mir. Ich drehe den Kopf nach oben und unten, nach links und rechts – und staune über die vielen Details dieser Aufnahme. Als die Stimme von Klaus Merz ertönt, blicke ich wieder geradeaus. Auf einem Sofa sitzend, von einer Stehlampe beleuchtet, beginnt er zu lesen. Das virtuelle Publikum verschwindet allmählich, es bleiben der Lesende und ich zurück, alleine in diesem virtuellen Raum. Das Bild verändert sich wieder, Klaus Merz verschwindet ebenso, die 360°-Bilder beginnen sich zu bewegen. Auf meinen Augen die VR-Brille, auf meinen Ohren die Kopfhörer, tauche ich ein in diese unterschiedlichen virtuellen Räume: Ob in einem Schreibzimmer, im Zug, unter Wasser oder in einer tiefverschneiten Landschaft – mit Brille und Kopfhörer erlebt jede*r Zuschauende im Karl der Grosse individuell die jeweilige Atmosphäre.

Da die Schreibende während der Lesung zu sehr in ihrer eigenen (virtuellen) Welt versunken war, muss dieser Flyer behelfsmässig als Eindruck genügen.

Die zwölf Passagen aus der Erzählung LOS handeln von Peter Thaler, einem Mann, der zu einer Bergwanderung aufbricht und nie mehr zurückkehrt. Es ist eine Geschichte vom Abschiednehmen. Die Erzählweise vom Verschwinden dieses Mannes ist eindringlich, berührend. Und doch will es mir nicht gelingen, mich ganz auf die Erzählung zu konzentrieren. Zu sehr bin ich abgelenkt von den schönen visuellen Eindrücken. Einmal mehr fällt mir auf, wie bedeutsam doch unser Sehsinn ist und wie sehr wir uns auf visuelle Eindrücke fokussieren. Obschon es sich nicht um einen Film, sondern um Bildwelten handelt, die sich bisweilen kaum verändern, gibt es in den Aufnahmen dennoch unzählige Details zu entdecken. Immer wieder drehe ich meinen Kopf von rechts nach links, von oben nach unten, um ja kein Detail zu übersehen. Und ab und an konzentriere ich mich wieder auf die Stimme von Klaus Merz.

Die Lesung ist – trotz Konzentrationsschwierigkeiten – ein inspirierendes Erlebnis. Das Ziel der virtuellen Lesung sei es auch, so erklärt Sandro Zollinger nach der Lesung, sich „von einer konkreten filmsprachlichen Narration zu lösen“ und sich auf die „gefühlstragende Wirkung“ des Mediums zu fokussieren. Das sei ein „bleibendes und einmaliges Erlebnis“, ist sich das Publikum am Ende einig.

Sehen die Lesungen der Zukunft so aus? Sieht vielleicht sogar das eigene Leseerlebnis zukünftig so aus? Beinahe stimmt mich diese Vorstellung etwas melancholisch. Denn obgleich ich gerne in die Räume der neuesten VR-Technologien eintauche und alles um mich herum vergesse, liebe ich die Momente genauso, in denen es nur mich und mein Buch gibt. Die Momente, in denen – auch ohne VR-Brille – alles um mich herum verschwindet: ob Schreibzimmer, Zug oder Berglandschaft. Den Imaginationsraum, den das Lesen von Literatur bei mir auslöst, will ich, zumindest vorerst, nicht mit den detailtreuen Bildwelten der VR-Technologie eintauschen.

Und doch: Ein Eintauchen in diese virtuelle Lesung und die neuste Technologie lohnt sich allemal. Vielleicht sollte auch ich mich noch einmal auf die Lesung einlassen, um mich dieses Mal ganz auf die Stimme von Klaus Merz konzentrieren zu können.

Mit freiem Geist und einer Portion Stille

… starteten Michelle und ich am Mittwochabend mit einer Runde Yoga ins diesjährige Zürich liest.

Ein Literaturfestival gerade nicht mit Literatur zu starten – ein Widerspruch? Wenn es nach Ben Rakidzija geht, nicht. Durch 30 Minuten Silent Flow, einen freien Yoga-Stil, haben wir nun einen freien Kopf und sind perfekt auf die vielen neuen Eindrücke und Informationen der nächsten Tage vorbereitet.

Bleibt nur noch zu hoffen, dass wir auch selbst das ein oder andere Mal daran denken, eine gerade Körperhaltung einzunehmen und kurz tief einzuatmen, um dem Kopf eine kleine Pause zu gönnen. Besonders in der Welt des Denkens und des Bücherwälzens ist es wichtig, die umherirrenden Gedanken auch einmal fortzuschieben.

Den Abend beendet Ben Rakidzija mit wenigen Worten, die uns zum Nachdenken anregen sollen. Bei «Zürich liest» steht dieses Jahr das Thema Sein und Schein im Zentrum. Beim Yoga gehe es jedoch vielmehr um das Gegensatzpaar Sein und Haben. Es gehe für einmal nicht darum etwas zu haben oder mit einer Yoga-Position etwas zu erreichen. Man möge einfach sein.

Michelle Holz und Laura Barberio

Ein Gedicht: Tucholsky mit Rindsentrecôte

Beim Dîner Littéraire speisen wir im Münsterhof ein Viergängemenü mit Weinauswahl und hören den Lieblingsgedichten von René Grüninger zu. Zehn Jahre lang war er Kurator des Literaturfestivals Leukerbad, weiß also die ein oder andere Anekdote zu berichten. Aber das nur am Rande. Ein wenig erinnert Grüninger an den Schauspieler Toni Servillo in der Rolle des Jep Gambardella im italienischen Film «La grande bellezza». Und sicherlich ist diese Assoziation bei der hiesigen Veranstaltung nicht ganz fehl am Platz. Denn bei aller Schönheit, bei allem Genuss geht es hier wie dort auch um die Ausmaße der mondänen Welt.

«Wir brauchen mehr Häppchen!», verlangt Grüninger und das Servicepersonal eilt. «es ist was es ist», sagt Erich Fried.

Und so ist es:

Erster Gang: Gebeizte Tranchen vom Schweizer Lachs an einem Ingwer-Sud und Kohlrabi. Dazu gereicht wird Pablo Neruda, Kurt Tucholsky und Robert Gernhardt.

Wer kommt hier hin? Etwa zwanzig Menschen an zwei Tafeln im ersten Stock des Münsterhofes, ein alteingesessenes Restaurant mit frischer Spitze: Karim Schumann und Emanuel Della Pietra schmeissen die Küche mit Fingerspitzengefühl. Zwanzig Menschen, das sind ungefähr so viele, wie man zu einer Lyriklesung erwarten würde. Ob sie allerdings des Essens oder der Gedichte wegen gekommen sind – und wer hier was bewirbt, bleibt erst mal offen. Eine geplante Kohärenz zwischen Menü und Gedichten gibt es jedenfalls nicht. Der Genuss steht im Mittelpunkt und das ist erst mal gut.

Zweiter Gang: Basilikumravioli mit Zucchini und Hummerbique. Dazu: Jaques Prévert und Sappho.

Es sind übrigens nur kleine Ausflüge in historische Gefilde. Grüningers Auswahl beschränkt sich vor allem auf das 20. Jahrhundert und wählt damit nicht nur altbackenes Brot aus. Keine Römischen Elegien, kein Minnesang (– leider, denn die Kulisse macht wenigstens einen Walther eigentlich unumgänglich: an der Wand ein Fresko von 1370, ein «Lustgarten» mit drei Liebespaaren). Stattdessen ein schönes Angebot auch an weiblichen Stimmen: Else Lasker-Schüler, Elisabeth Borchers, Sarah Kirsch und Ulla Hahn. Sonst eher viele Brüste. Natürlich ist die Sinnlichkeit das große verbindende Element.

Dritter Gang: Gegrilltes Rindsentrecôte mit Tomaten-Buttersauce und Fregola Sarda, Lauch und Parmesanschaum. Hansjörg Schertenleib meint dazu: «Fass mich an, Marie!»

Das geht runter wie Öl, die feinen Speisen sind ein Gedicht, optisch, olfaktorisch und geschmacklich. Und die Gedichte die gehen mit (hin)unter. Denn was passiert hier eigentlich? Wir bekommen Bestes serviert in bester Atmosphäre. Die Lyrik ist so was von genießbar und gemütlich. Aber diese Inszenierung zeugt auch von einer gewaltigen bürgerlichen Dekadenz, die nachdenklich stimmt. Lust auf Lyrik machen, keine Frage, das ist so wichtig wie eh und je. Aber so, auf dem Silbertablett, in Häppchen verliert sie, was sie eigentlich so unbedingt macht: das andere, ungemütliche und widerständige Sprechen, das wieder und wieder ins Ohr hinein und hinaus muss. Das sind keine zarten Filets auf neuen und neuen Gabeln und Löffeln, wie sie hier zu jedem Gang serviert werden. Natürlich kann man sie so konsumieren – aber über den gemütlichen Konsum kommen sie dann auch nicht hinaus.

Zum Nachtisch: Duett von der Felchlin Schokolade, Quitte und Chili. Und: Das Hohelied der Liebe.

Die große Schönheit des lyrischen Dinnierens im Münsterhof geht dieses Jahr in die vierte Runde. Und die 90 Franken lohnen sich wohl. Aber wer kommt hier rein? Ein Publikum, das sich zum Feierabend ein bisschen Genuss mit kulturellem Beigeschmack gönnt. Und das ist sein gutes Recht. Zu fragen wäre vielleicht noch am Rande: Welchen Grund diese Gedichte noch haben, fernab des guten Geschmacks. Einen grossen, würde ich behaupten. Nur wer trägt ihn dort hinaus? Wein, gutes Essen, erotische Gedichte – nie kam besser zusammen, was schon immer zusammen gedacht wurde. Und bleibt sich doch fremd.

Lyrik essen: Ein Bericht aus dem Inneren

«Wo gutes Essen ist, sind auch Liebe und Poesie nicht weit.» Mit diesen archaischen Worten bewirbt das Restaurant Münsterhof seinen lyrisch-erotischen Abend, an dem René Grüninger, der Mitbegründer des internationalen Literaturfestivals Leukerbad, lesend durch die Welt der Liebeslyrik führt. Ein «Dîner Littéraire» begleitet die Texte mit vier Gängen, Wein und einer Unzahl Hors d’Oeuvres.

Mehr als ein Dutzend Bücher liegen auf dem Tisch mit dem Mikrofon im 1. Stock des Restaurant Münsterhof. Davor sitzt René Grüninger. In den nächsten dreieinhalb Stunden wird er im Unterschied zu den rund 20 Besuchern statt Besteck und Stoffserviette, abwechselnd rund zwei Dutzend Gedichtbände in der Hand halten. Die Gäste sind chic gekleidet, tragen teure Uhren am Handgelenk und passen formgenau ins Interieur des ersten Stocks. In Alter und Geschlecht durchmischt, gehören sie zum Grossteil einer gehobenen Mittelschicht an. Auf den Tischen brennen Kerzen, die Wände zieren ein abstraktes Aktbild und eine Secco-Malerei aus dem 14. Jahrhundert, die «Lustgarten» heisst. Flotte Kellner bringen Gläser mit sprudelndem Prosecco. Die Stimmung für den Abend ist gesetzt: Man ist bereit, zu konsumieren und man tut dies sichtlich wohl.

Nach eigenem Gutdünken hat René Grüninger eine stattliche Auswahl der Liebeslyrik der letzten Jahrhunderte zusammengestellt. Er rezitiert sowohl Klassiker wie Erich Fried, Kurt Tucholsky, als auch Salomons «Hohelied» oder zeitgenössische Lyrikerinnen wie Ulla Hahn, Pedro Lenz oder Hilde Domin. Obwohl eine solche Zusammenstellung niemals abschliessend sein kann, ist es schade, dass gerade die Liebeslyrik des Mittelalters – die angesichts der Secco-Malerei an der Wand geradezu eine Steilvorlage erhalten hat – in seiner Auswahl keine Erwähnung findet. Die im Titel angepriesene Erotik wird in Ansätzen gestreift und beschränkt sich im Wesentlichen auf Kurt Tucholskys Gedicht «Versunkene Träume», das darüber spricht, den Busen von Jungfrauen besser fernzubleiben, und Peter Turrinis plastischen Beschreibung einer Mundwanderung zu den Brüsten einer Geliebten. «Es ist was es ist», möchte man Erich Fried hier zitieren.

Die Lyrik kommt immer in den Pausen zu Wort, die zwischen den Gängen des «Dîner Littéraire» von Küchenchef Karim Schumann und Sous-Chef Emanuel Della Pietra liegen. Auch wenn es abgedroschen klingen mag, was die beiden exzellenten Chefs auf den Tellern anrichten, sind Gedichte in kulinarisches Form. Den Beginn ihres Menüs bilden gebeizte Tranchen von Schweizer Lachs, dann folgen Basilikumravioli mit Hummerbique und Grillierte Rindsentrecôte mit Parmesanschaum. «Meine Liebe nährt sich von deiner Liebe», rezitiert Grüninger das bekannte Gedicht von Pablo Neruda. Dann kommt das anmutige Dessert in der übergrossen Keramikschale und man möchte die Zeilen umschreiben zu «Meine Liebe nährt sich von diesem Duett von Felchin Schokoloade, Quitte und Chili».

V.l.n.r. Sous-Chef Emanuel Della Pietra und Küchenchef Karim Schumann

Das Konzept des Abends verlockt zum Zurücklehnen, zum Abschalten und zum Geniessen. Doch.. darf man das denn? Lyrik ist doch Arbeit. Sie eckt an, ist inkommensurabel und fordert Analyse. In einer Form, wie heute Abend im Münsterhof, wird sie plötzlich leicht und zu einem Konsumgut, an dem man sich so einfach satt hören kann. Man wird ihr nicht gerecht, wenn man sie – mit der Gabel Entrecôte in der Hand und dem perlenden Prosecco im Kerzenschein – einfach zu warmem Sing-Sang werden lässt, der die Pausen zwischen den Gängen füllt. Doch wie verwerflich wäre es denn, einfach abzutauchen in gutes Essen, Wein und die Texte Füller werden zu lassen? Einige Besuchende schliessen die Augen, wenn Grüninger rezitiert und schwelgen blind. Ein älteres Ehepaar wirft sich bei den Zeilen Else Lasker-Schülers Gedicht «Heimlich zur Nacht» und den Verszeilen «Ich habe dich gewählt unter allen Sternen» von entgegengesetzten Tischkanten feurige Blicke zu; Eine Mittvierzigerin googelt hingebungsvoll nach diesem einen Gedicht von Nietzsche, an das sie sich plötzlich wieder erinnert; und ein junger Mann stöbert nach der Lesung gedankenverloren in den Grüningers verlassenen Lyrikbänden, als fände er darin die Antwort auf eine Frage, die ihn schon lange beschäftigt hat.

Kritische Zungen könnten an einem solchen Abend auch ein fertig geschnürtes Päckchen für eine ausgewählte Gruppe von Menschen sehen, die bereits auf Themen der Lyrik sensibilisiert sind, da sie über die intellektuellen wie auch die finanziellen Mittel dazu verfügen. Und sie hätten vermutlich Recht mit dieser Beobachtung. Es bleibt die Tatsache, dass ein solcher Abend eine ökonomisch stärkere Gruppe gegenüber der schwächeren privilegiert. Doch ist dies eine Figur, die dem Kultursystem, in dem wir leben, inhärent ist. Die Problematik ist eine strukturelle und kann den Veranstaltern nur unter Vorbehalten angekreidet werden. Es ist, was es ist, sagt die Beobachterin mit Blick auf den Abend und findet es legitim, hin und wieder eine Lanze für den kleinen Luxus zu brechen. Schöner als der Abend im Münsterhof bleibt ohnehin das Vorlesen zu zweit, das in Gänze unbezahlbar ist.

Wer sich entschliesst, 90 CHF für Liebesgedichte, Hors d’Oeuvres, 4-Gang-Menü, Prosecco und Espresso auszugeben, der hat die Chance, am Samstag an der nächsten Lesung teilzunehmen und kann hier reservieren. Meine Kollegin Elisa Weinkötz war auch begeistert, sah den Abend aber durchaus vom anderen Tellerrand. Ihren Bericht kann man hier nachlesen.

Sprachbrücken bauen

Sprache kann Gräben schaffen. Denn wer sich nicht miteinander unterhalten kann, bleibt sich fremd. Stellt man die verschiedenen Sprachen aber nebeneinander, erkennt man: Sie sind gar nicht so weit voneinander entfernt wie man denkt – sie stellen nur ein vermeintliches Hindernis dar.

«Der Wille trägt die Welt.» So eröffnen Matthias Vieider und Arno Dejaco von «Lyrischer Wille» den Abend im Zentrum Karl der Grosse. Sehe man sich in der Gesellschaft um, erkenne man, wie schwer es offenbar sei, mit Diversität und Andersartigkeit umzugehen. Wir schmückten uns mit kultureller Vielfalt, doch seien von der Angst vor Veränderung durchdrungen.

Mit «Lyrischer Wille» wollen sie herausfinden, welche Möglichkeiten die Lyrik eröffnet, um Sprachbarrieren zu überwinden. Es handelt sich dabei um ein vielsprachiges Übersetzungsprojekt, indem sich 55 Autorinnen und Autoren mit Bezug zum Raum Südtirol gegenseitig in Gedichtzyklen übersetzen. Ein Gedicht wird übersetzt, dann ein weiteres Mal übersetzt und so fort, wobei der übersetzenden Person jeweils nur die Vorgängerversion bekannt ist. Daraus entstanden ist ein Buch mit 61 Gedichten in 15 Sprachen. Unter den Sprachen finden sich die vier Schweizer Landessprachen, aber auch Chinesisch, Arabisch, Kurdisch und Zeichensprache.

An diesem Abend steht aber nicht das Buch, sondern eine Live-Umsetzung des Übersetzungsprojektes im Zentrum. Mit Rebecca Gisler, Rut Bernardi, Michael Fehr, Elena Spoerl und Kurt Lanthaler stehen vielsprachige Poesien neben- und miteinander im Scheinwerferlicht. In italienischer, ladinischer, deutscher und französischer Sprache verfasst, verknüpfen sich ihre Gedichte. Sie demonstrieren eine so genannte Übersetzungskette. So hat Kurt Langthaler ein Ausgangsgedicht geschrieben, das von Michael Fehr übersetzt wurde. Dessen Übersetzung wurde wiederum übersetzt, usw.

Weil man nicht alle Wörter versteht, konzentriert man sich während der Lesung der Gedichte auf die Melodie, den Klang, den Rhythmus und die Intonation der Worte. Und genau da hat die Lyrik der fünf Autorinnen und Autoren viel zu bieten. Es geht weniger um eine wortwörtliche Übersetzung als um eine übergreifende Gemeinsamkeit, eine Annäherung. So unterscheiden sich denn die Texte auch teilweise drastisch voneinander. Es entstanden fünf Gedichte, die in sich selbst einzigartig sind und doch sehr nahe zueinander stehen.

In der lyrischen Welt kann das Projekt gelingen. Im Gedichtzyklus werden Sprachgrenzen überwunden, die Gedichte nehmen in ihrer Verschiedenheit ihren Platz ein, werden voneinander aber nicht verdrängt. Dies setzt aber auch den Willen des nachfolgenden Lyrikers oder der nachfolgenden Lyrikerin voraus, sich dem Ausgangsgedicht anzunähern, sonst wird der Kern, das Wesen des vorgängigen Gedichts verdrängt und nichts erinnert mehr daran. Ob die Gesellschaft da anschliessen kann, bleibt offen.

Dass sich an diesem Abend nur knapp 20 Leute eingefunden haben, liegt möglicherweise an einer gewissen Unpopularität der zeitgenössischen Lyrik – zu Unrecht, wie ich finde – vielleicht aber auch einfach an der Programmbeschreibung, aus der im Vorfeld nicht klar hervorging, was das Publikum erwarten würde. Ein Blick ins Projekt lohnt sich aber gleichermassen.