360° Eindrücke

Wir haben die neue Mediensymbiose von «Exklusive Vorpremiere: «LOS 360°VR (RC)» – eine Lesung durch scheinbare Räume im Rahmen» besucht und uns nach einer Flut von Sinneseindrücken zu untenstehenden Fragen Gedanken gemacht. Wie diese Veranstaltung technisch abläuft, wird bereits in diesem Beitrag erläutert.

Was hat dir am besten gefallen?

A: Die Szenerie der verschiedenen Räume war mit vielen spannenden Details gefüllt. Diese zu erkunden, war ein faszinierendes Abenteuer. Besonders imposant fand ich den Raum des Meeres. Der Zuschauer befindet sich dicht genug unter der Oberfläche, um das Rauschen der Wellen zu vernehmen, kann aber gleichzeitig einen Blick in die Tiefe werfen.

X: Das war für mich eindeutig die erste Szene, die einen Theatersaal in abgedunkeltem Licht am Abend zeigte. Diese war sehr realitätsnah und es hat Spass gemacht, die Leute um sich herum zu beobachten. Die Stimmung war hier sehr angenehm und auch das Tête-à-Tête mit Klaus Merz war als Einführung ein raffiniertes Detail.

Was hat dir nicht so gefallen?

A: Sich in einer VR zurechtzufinden, bedeutet immer auch sich sehr vielen Sinneseinflüssen gleichzeitig auszusetzen. Im Gegensatz zu einem klassischen Kinobesuch ist es aber nicht möglich sich vom Bild abzuwenden. Selbstverständlich macht das einen Grossteil der imposanten Wirkung des VR aus; über eine Zeitspanne von einer halben Stunde ist es jedoch auch sehr ermüdend.

X: Die Übergänge zwischen den Sequenzen empfand ich oft als verwirrend. Ich denke, dass mir klarere Übergänge einen besseren Überblick vermittelt hätten. Die Szene mit den beiden Reitern konnte ich nicht in einen Zusammenhang setzen, das hat mich mehr verwirrt als begeistert.

Wie hat in deinen Augen die Symbiose von Literatur und VR funktioniert?

A: Teilweise gut, teilweise weniger gut. Die erlebten Szenerien waren für mich mit der Stimme von Klaus Merz stimmig. Die Hintergrundgeräusche der Räume – brechende Wellen, tuschelnde Theaterbesucher, heulende Schneegestöber – waren mir persönlich zu laut. Entsprechend rückte die Stimme und somit die Erzählung in den Hintergrund.

X: Grundsätzlich denke ich, dass die Symbiose eine grossartige Idee ist und bei sich passend gewählter Literatur sehr gut funktionieren kann. Ich empfand jedoch bei diesem Projekt den Inhalt der Erzählung als zu schwerwiegend für eine Visualisierung mit der VR-Technik.

Wem würdest du den Besuch empfehlen?

A: Ziel des Projektes war es, eine grössere Masse an Zuschauenden anzuziehen, was – wenn man die Vorführungen im Rahmen von Zürich liest zählt – durchaus gelungen ist. Dennoch scheint mir das Projekt immer noch auf ein sehr spezifisches Segment zugeschnitten, da mit Klaus Merz’ LOS eher schwerere Lektüre gewählt wurde, die wohl nicht allen zusagt. Trotzdem empfehle ich den Besuch denjenigen, die bis jetzt noch nicht in den Kontakt mit VR gekommen sind. Die Bilder sind ein Erlebnis für sich.

X: Klaus Merz-Fans wären sicherlich angetan, genauso wie Personen, die vorwiegend an Literatur und etwas weniger an Technik interessiert sind. Für Kinder empfinde ich die Technik als geeignet, den Inhalt der Erzählung jedoch als unpassend. Personen, die nur an der VR-Technik interessiert sind, würde ich vermutlich ein anderes Projekt empfehlen, da hier berechtigterweise die Literatur und ihr Inhalt klar im Vordergrund stehen.

Wie siehst du die Zukunft dieser Mediensymbiose?

A: Gerade jetzt, wo VR oder auch AR (Augmented Reality) vermehrt auf den privaten Markt kommt, glaube ich, dass einige neue Medienformen wie das Projekt 360° entstehen. Es ist aber auch klar, dass solche die bestehenden Formen weder ersetzen können noch sollen.

X: Ich denke, dass die VR-Technik für Kurzfilme sehr gut geeignet ist und auch ein Literaturprojekt sinnvoll damit realisiert werden kann. Andere kürzere Filme oder Aufnahmen könnten so realitätsnah ausfallen, was ich mir besonders für sehr bildhafte Literatur gut vorstellen könnte. Ich bin jedoch nicht der Meinung, dass daraus lange Kinofilme entstehen werden.

Xenia Bojarski und Anouschka Mamie

Blaues Blut

Kaum mit einem Fuss durch die Tür, schon streckt sich mir eine Hand entgegen, Höflichkeiten werden ausgetauscht und ich werde zu meinem Stuhl geleitet. Auf der Theke der Buchhandlung am Hottingerplatz warten bereits funkelnde Weingläser und eine goldgelbe Zopfkrone.

Königlich ist sie, die Begrüssungszeremonie, und entsprechend dem Flair des Abends wird schon bald in die royalen Geschichten der Schweiz eingetaucht, bei der Lesung von Michael van Orsouws «Blaues Blut».

Binnen weniger Minuten sorgt der Mann der Stunde auch schon für den ersten Lacher von vielen: Er stellt sich vor dem Publikum auf, der Königsmarsch schallt durch die Lautsprecher, goldene Glitzersteinchen formen auf seinem tiefblauen Hemd eine Krone.

Obwohl das Schweizervölkchen voller Stolz auf seine demokratische Vergangenheit zurückblicke, kämen wir nicht umhin, eine Schwärmerei für die Geschichten rund um die Aristokraten zu hegen, erklärt Orsouw und tröstet das Publikum noch im selben Atemzug damit, dass wir ja wenigstens einen Schwingerkönig hätten.

Um Einblick in sein Buch zu geben, spricht der Autor einige der dreizehn Geschichten an. Stets begleitet von Anekdoten aus seiner Recherchearbeit und Textstellen aus dem Buch, erfahren die Zuhörenden unter anderem, warum das Schloss Neuschwanstein von König Ludwig II nicht am Vierwaldstättersee erbaut wurde, inwiefern die schwedische Königsfamilie und Opernbälle nicht immer die beste Kombination sind und wie ein abgelenkter Gatte und der tragische Tod von Königin Astrid Mediengeschichte schrieben und gleichzeitig den Pionieren der Luftverkehrs zu neuen Höhen verhalfen.

Wenn auch die behandelten Persönlichkeiten schon ziemlich lange tot sind, trägt Orsouws lebendige Erzählweise zu einem gelungenen Abend bei und macht eindeutig Lust auf mehr. Als krönender Abschluss trägt der Autor ein Gedicht zum Buch vor und kann auch in dieser Gattung überzeugen.

Ein 55-Minuten Einblick in die Textküche des Jungen Literaturlabors

Manchmal zahlt es sich aus, früher als nötig am Ort des Geschehens einzutreffen (wenn auch nur, weil man sich in der Wegzeit verschätzt hat). So ist es beim heutigen Anlass «JULLliest – Kinder und Jugendliche lesen eigene Texte» nicht anders.

Die Stimmung im Foyer des Kaffeehauses zur Weltkugel ist voller Aufregung. Gäste sind erst spärlich vorhanden, dafür habe ich die Möglichkeit einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Nicht nur darf ich die jungen Schreiberlinge des JULL bei ihren letzten Vorbereitungen vor der Lesung beobachten, wie sie durch ihre Texte blättern und sich zum (vermutlich) hundertsten Mal versichern, dass auch wirklich jede Markierung da ist, wo sie sein soll: Nein, es ergibt sich sogar, dass ich ein paar Worte mit Richard Reich, einem der beiden Leiter des Jungen Literaturlabors, wechseln kann.

Zwei Dinge werden im Gespräch schnell klar. Erstens: In JULL steckt unglaublich viel Herzblut. Die Passion der Schreibenden, der Schreibcoaches und der Organisierenden verleiht jedem der vielzähligen Projekte Einzigartigkeit. Dem Motto des JULL – «never write alone» – treu, ist es die Zusammenarbeit verschiedenster Persönlichkeiten, die das Gespür für Literatur fördert, wo es schon vorhanden war. Und an Orten, wo Lesen und Schreiben davor nie mehr war als eine Hausaufgabe, entzündet es sogar den Funken, aus dem eine Leidenschaft für etwas zuvor Unbekanntes entsteht.

Zweitens: Meine Vorfreude auf die Lesung ist nur noch mehr gewachsen.

Pünktlich Sechs Uhr abends, die Tür zum Lesesaal öffnet sich. Der Andrang ist nicht gerade klein und es dauert nicht mal drei Minuten, ehe Tische rausgetragen werden, um Platz für eine zusätzliche Stuhlreihe zu schaffen. Gleich darauf wird auch schon der Grossteil der Lichter gedimmt und der Fokus des Publikums fällt auf die erhöhte Bühne.

Die ersten Texte stammen von vier Schülerinnen aus Rüti, die uns ihren Wohnort mit humorvollen Erzählungen um einen Krieg der Dönerbuden oder auch einer grauenvollen Schilderung einer auf Gleisen abgelegten Leiche näherbringen. Obwohl die Texte noch nicht abgeschlossen sind, vermögen sie die Stimmung eines lebendigen Rüti überzeugend einfangen.

Als nächstes wird ein Text über einen Jungen mit einem «bösen» Gesicht und ein Mädchen, das nicht hören kann, vorgelesen. Diese Geschichte stammt aus einem Langzeitprojekt mit dem Schulhaus Feld. Die coachende Autorin bezeichnet diese Art Projekte als «Wundertüten», da sie in ihrer inhaltlichen Gestaltung in keiner Weise eingeschränkt sind und entsprechend kein Ergebnis dem letzten gleicht.

Darauf wird das Publikum auf eine sprachliche Reise mitgenommen: Es wird Spanisch. Drei junge Schreibende präsentieren Textstellen aus ihren Werken; mit dabei ein wichtiges Werk der mexikanischen Gegenwartsliteratur. Ausser Mimik, Gestik und Tonfall (und dem einen oder anderen Wort, das mir aus dem Französischen bekannt vorkommt) verstehe ich leider nicht viel. Aber eins ist klar, dies reicht vollkommen aus, um mich neugierig zu machen, was denn nun die Ursache für das plötzliche Flüstern oder die skeptisch hochgezogene Augenbraue der Vortragenden war.

Als viertes betreten drei Vertreter der Stadtbeobachter*innen die Bühne, einer Gruppe von Jugendlichen zwischen 15 und 25, die sich zweimal monatlich zum gemeinsamen Schreiben und Diskutieren trifft. Über das Leben einer Blechdose, dem Portrait einer mittlerweile alten Frau und einem Ausflug in die Lyrik über «Wir Leute in Zürich», alles ist mit von der Partie. Abschliessend werden «Fragen an den Mann/die Frau» gelesen, die im Rahmen des Frauenstreiks entstanden sind. Einmal mehr zeigt sich: Das JULL bleibt aktuell.

Während viele der Projekte mit Klassen durchgeführt werden, gibt es auch vereinzelte Förderprojekte. Fast ein ganzes Jahr habe die Zusammenarbeit dieses Schülers und seiner Mentorin angedauert, aber jetzt könne er sein fertiges Buch präsentieren. Eine Liebesgeschichte ist es, die er geschrieben habe, eine Liebesgeschichte, die zugleich seine persönlichen Eindrücke von der Flucht aus Eritrea in die Schweiz verarbeitet. Die Zuschauer horchen atemlos, während er einen Ausschnitt vorliest. Die Geschichte ist vieles zugleich: emotional, ehrlich, eindrücklich.

Den Schluss macht ein Trio bestehend aus zwei Schülern und einer Autorin, die sich im vierten Quartal des letzten Schuljahres mit dem Projekt «Green Henry» befasst haben. Um die Lektüre des zugegebenermassen nicht gerade einfachen Werkes «Der grüne Heinrich» von Gottfried Keller zu erleichtern, haben die Schüler zuerst eine englische Ausgabe gelesen und diese in eigenen Worten ins Deutsche übersetzt. Heute haben sie eine Textimprovisation mitgebracht, in der über verschiedene Charaktere und Situationen des Originals verhandelt wird. Vielleicht ist die Handlung auf Grund des Ausschnitts nicht viel verständlicher für die Zuschauer, aber das wilde Hin und Her an Figurenzeichnungen und Gedankenexperimenten kann die «verstaubte Antiquität», wie es die Autorin mit nicht wenig Liebe in der Stimme nennt, für das Publikum zum Leben erwecken.

Die Mehrheit der am heutigen Abend präsentierten Projekte ist, wie bereits erwähnt, noch nicht abgeschlossen und entsprechend im Shop des JULL noch nicht erwerbbar. Um die Zeit bis dahin zu überbrücken, lohnt es sich allemal einen Blick auf die Reihe «Züricher Reformationsnovellen» (Print 20-24 bei JULL) zu werfen, die ebenfalls in der Zusammenarbeit mit fünf Schulklassen entstanden ist und fünf Persönlichkeiten der Schweizer Reformation vorstellt.

Abschliessend kann ich nur anmerken, dass sich lediglich eine der am heutigen Abend gemachten Aussagen als unwahr erwiesen hat. «Jetzt chunt öise Nachwuchs, am achti denn d’Profis» hiess es bei Türöffnung. Aber wenn die Schreiberlinge des Jungen Literaturlabors an diesem Abend eins bewiesen haben, dann, dass sie es mit den «Profis» ohne Weiteres aufnehmen können.

Für uns bei «Zürich liest»: Anouschka Mamie

Als Studentin der Germanistik und Informatik kann Anouschka nicht leugnen, dass die Neugier auf die Lesung durch scheinbare Räume – eine durch Virtual Reality unterstütze Erzählung von Klaus Merz – ziemlich gross ist. Ob die VR die menschliche Vorstellungskraft zu neuen Dimensionen verhilft? Oder vielleicht doch in ihrer Entfaltung hemmt?

Zudem ist sie gespannt, welche Kreationen die Nachwuchsschreiberlinge aus dem JULL Junges Literaturlabor dieses Jahr gezaubert haben. Sicher ist, dass die jungen Schreibenden bestimmt wieder hervorragende literarische Experimente erschaffen haben.