Klunker, Knast und Knarren – im Krimitram mit Isabel Morf

Etwas Nebel wäre gut gewesen, denke ich, als ich am Bellevue ins Tram steige, oder wenn die Lesung bei Einbruch der Dunkelheit stattgefunden hätte. Oder in einem der älteren Trams, das in jeder noch so flachen Kurve gequält in den Gleisen kreischt. Das wäre eine angemessene Kulisse gewesen für eine Krimi-Lesung. Doch Zürich zeigt sich an diesem Sonntag in schönstem Herbstwetter, Familien flanieren an der Limmat und gönnen sich eine Packung dampfender Marroni.

Im vorderen Teil des Trams ist ein Pult aufgebaut, an dem die Autorin aus ihrem neuen Roman «Ein perfekter Mord» liest. Wir verlassen also das Bellevue und lassen uns im Tram nach Altstetten und von Isabel Morf in die Welt ihrer Protagonistin Kassandra Buchstab tragen, die Krimiautorin und Detektivin in einem ist und plötzlich von ihrer Vergangenheit als Mörderin eingeholt wird.

Das herbstliche Familien-Ausflug-Wetter stellt sich als gar nicht so unpassend heraus für die Passagen, die Isabel Morf vorträgt. Viel Doppelbödigkeit ist in dem Plauderton, den Morf ihrer Protagonistin verleiht, nicht zu finden. Diese berichtet uns frisch von der Leber weg, wie sie einen ihrer Fans umgebracht habe, damit dieser ihre geheime Identität als Putzkraft nicht auffliegen lasse. Die Sprache ist eigentlich ganz kurzweilig, aber echte Spannung kommt durch den ironisch-geschwätzigen Ton der Hauptfigur nicht auf, auch als diese gefesselt in ihrer Wohnung liegt.

Oder hat diese Figur doch etwas zu verbergen? Kann man einer Figur trauen, die es scheinbar nicht allzu verwerflich findet, dass ihre Mordtat ihr zu Ruhm als Krimiautorin verholfen hat? Spielt sie am Ende doch ein Spiel mit den Leser*innen und versucht, sie auf ihre Seite zu ziehen? An diesem Tag kann ich Kassandra Buchstab nicht mehr durchschauen, denn das Tram ist wieder am Bellevue angelangt und entlässt uns in den Herbstabend.

Das groovt und kracht

Was passiert, wenn ein Pianist und Komponist sich mit drei Jazzern, einem Schauspieler und einer Graphic Novel spätabends in einem Club treffen? Viel Geplauder, ein paar Gläschen und vielleicht einige Tropfen verschütteten Wein auf der Graphic Novel, möchte man meinen. Womöglich wird die Graphic Novel auch mal als Kissen benutzt. Und vielleicht kracht’s dann irgendwann so gegen zwei in der Früh auch mal ein bisschen. Na?

Und wie das kracht! Während schwarzweisse Bilder eines San Francisco der späten Zwanziger über den Bildschirm flimmern, verwandelt sich Raphael Clamer in den witzig derben Grossstadt-Detektiv und mimt gleich auch seinen Gegenspieler, den Gangster-Rowdy. Saxophon, Kontrabass, Schlagzeug und Klavier bäumen sich neben ihm auf, schnurren in der einen Sekunde vergnügt und schlagen in der nächsten bildlich Türen ein. Itay Dvoris kompositorisches Gesamtkunstwerk funktioniert nicht nur deshalb so gut, weil die fünf Künstlergesellen als eingespieltes Team zusammenwirken. Diese Sinnesorgie aus Wort, Ton und Bild zeigt eindrücklich auf, wie sich die einzelnen Künste zu einer Geschichte vereinen können. Und das ganz ohne Reizüberflutung für die Zuschauer*innen. So bleibt ein Bild nicht selten unkommentiert, und die Musik übernimmt stattdessen die Rolle des Erzählers. Anderswo wird nur gesprochen und man wartet auf die bildliche oder musikalische Pointe. Das kommt an und auch bei der Zugabe beweist das Ensemble Yam Yabasha seinen Mut zur Grenzüberschreitung: Es erklingen fünf Miniaturen zu ‹musikalischen› Gemälden des französischen Malers Grandville. Das ist unglaublich witzig und provoziert manchen Lacher im Publikum.

Als Zugabe vertonte Yam Yabasha Karikaturen des Malers Jean Grandville.

Nachher trifft man sich, wie sich das für eine Jazzband gehört, noch auf ein Bier an der hauseigenen Bar. Vielleicht schon mit der nächsten Graphic Novel in der Tasche? Das Ensemble Yam Yabasha hat jedenfalls seine eigene Sprache erfunden. Das groovt!

Null – die Klimakrise

Null steht für 0, CO2 oder auch  «Null Öl. Null Gas. Null Kohle», wie das Buch von Marcel Hänggi. Er und Christoph Keller mit «Benzing aus Luft» unterhielten sich in der Buchhandlung am Hottingerplatz über den Klimawandel oder, wie sie präzisieren, die Klimakrise, und lasen ausgewählte Stellen aus ihren Büchern vor.

Ich ging zu der Veranstaltung mit vielen offenen Fragen und war gespannt auf die möglichen Antworten. Die Autoren sprachen über das IPCC – Intergovernmental Panel on Climate Change – und darüber, dass die Krise zwar schon seit den 60er-Jahren thematisiert werde, aber noch nicht in den Köpfen der Menschen angekommen sei. Möglicherweise sei es sogar angekommen, aber es bleibe schwierig, den Normalzustand zu ändern. Jede*r von uns müsse etwas dazu beitragen, damit sich an der Krise etwas ändere. Dazu müssen wir unseren Alltag anpassen und gewisse Dinge austauschen und ersetzen, um eine Verringerung des CO2-Ausstoss erreichen zu können.

Wie jede*r seinen Teil dazu beitragen kann? 

Ob man auf die Strasse gehe, sich politisch für das Thema engagiere oder sich für eine Initiative wie die Gletscher-Initiative einsetze – jede Form von Engagement zähle. Marcel Hänggi treibt die Gletscher-Initiative aktiv voran und ist somit vom journalistischen ins aktivistische Engagement übergegangen. Gemäss Hänggi sei nur wichtig, dass man der Gesellschaft verdeutliche, dass es fünf vor zwölf geschlagen habe.

Man könne klagen, sagt Christoph Keller. Wie der peruanische Bauer, der RWE verklagt hat. Hintergrund dieser Klage war, dass der Bauer RWE-Emissionen für das Schmelzen eines Gletschers verantwortlich machte. Das Gericht sah die Klage als zulässig an. Auch die sogenannten «Klimasenior*innen» klagen vor Gericht, denn der Klimawandel führe zu Hitzewellen, welche lebensbedrohlich für alte Menschen sind. Jedes Jahr sterben hunderte Menschen an den Folgen der Erderwärmung. Davon auch einige in der Schweiz.

Eine Frage aus dem Publikum war, ob die Autoren glaubten, dass sich die Politiker irgendwann dem Thema annehmen und auf lange Sicht auch Verbote aussprechen würden, wie zum Beispiel ein Verbot für das Verkaufen von Erdbeeren im Januar oder eine Eingrenzung des Flugkontingent. Da Politiker*innen Stimmen benötigten, um wiedergewählt zu werden, mache man sich nicht gerade beliebt, wenn man Verbote ausspreche, meinten die Autoren. Doch die Politik müsse handeln, damit wir das Problem in den Griff bekommen oder sogar stoppen könnten. 

Und die allerletzte Lösung?

Das CO2 wieder aus der Luft herausholen. Was nun – dank einer Erfindung an der ETH – momentan erforscht und weiterentwickelt wird. Doch Christoph Keller ist der Meinung, selbst wenn uns solche Technologien noch retten könnten, ändere das nichts an dem Problem. Man versuche nur, etwas schon Verlorenes aufzuhalten. Der Wert von 450 ppm dürfe keinesfalls überschritten werden, doch an dem sei die Bevölkerung schon gefährlich nahe dran. Deshalb müsse sich die Einstellung eines jeden und einer jeden ändern.

Es müsse noch mehr auf die Krise aufmerksam gemacht werden. Das Problem dürfe nicht mehr runtergespielt oder gar beschönigt werden. In der Medienlandschaft gebe es Journalist*innen, welche die Krise abstreiten und gegen Greta Thunberg wetterten. Es gebe aber auch welche, die sich dem Problem aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive annäherten und von innovativen Lösungen berichteten. Beide Autoren sind sich einig, dass den Medien die bedeutende Rolle zukomme, der Gesellschaft Lösungen aufzuzeigen.

Nach diesem Abend wurde mir klar: Die Klimakrise ist näher als gedacht. Aber wenn wir uns alle mit dem Problem auseinandersetzen und handeln, dann könnten wir es schaffen, ein CO2-neutrales Klima zu erreichen. 

Orangensaftmaschine trifft auf Albert Einstein: Illu-Battle

Diesen Sonntag treffen sich zum ersten Mal die Illustrator*innen des Bolo-Klubs, um sich im Karl der Grosse zu messen. Der Polo-Klub wurde zum Anlass der Bilderbuchmesse in Bologna gegründet (daher der Name) und ist eine Gruppe von Illustrator*innen, die sich gegenseitig bei der Entwicklung ihrer ersten Bilderbücher unterstützen. Der Innenraum des Restaurants ist restlos gefüllt und das ist auch gut so, denn was wäre ein richtiges Battle ohne lautstarkes Publikum. Die Köpfe in den hinteren Reihen schweifen entsprechend rastlos von links nach rechts, um einen Blick auf die beiden Bildschirme zu erhaschen, auf denen die Illustrationen live mitzuverfolgen sind.

Die Spielregeln sind simpel. Es gibt vier Runden à drei Begriffen. Gespielt wird in Teams. Das Team, das durch seine Illustrationen die heftigere Reaktion beim Publikum erreicht, gewinnt und kommt eine Runde weiter. Dann wird noch mal gezeichnet, um den zweiten und ersten Platz.

Die Stifte sind gespitzt, die Finger gelockert und schon kann die erste Runde beginnen. Gezeichnet werden Begriffe aus dem Publikum. Immer zwei Begriffe pro Runde, die innerhalb von drei Minuten zu einer Illustration kombiniert werden.

Immer wieder bemerkt eine Zuschauerin erstaunt: «Drü Minute sind eigentlich no lang, gäll?» Während Traudl Bünger nach der ersten Runde anerkennend bemerkt: «Wenn ich diese Illustrationen so betrachte, würde ich sagen, man sass zwei Tage daran.» Tatsächlich, es ist faszinierend welch kleine Kunstwerke im Dreiminuten-Takt produziert werden.

Es entstehen Illustrationen zu Wortpaaren wie «Schnecke und Mangacharakter», «Stehaufmännchen und Stillschweigen», «Elefant und Kreativität», «Orangensaftmaschine und Albert Einstein», aber auch politischeren Stichwörter wie «Klimajugend und pubertierende Teenager», «Kolibri und Feministin» und «Zürcher Politik (Grüne) und Rap». Es ist offensichtlich: Die Wahlen in Zürich beschäftigen nach wie vor.

Die Autorin und Literaturkritikerin Traudl Bünger führte mit viel Witz durch das Battle und kommentierte das Geschehen, während Martin Walker, der Festivaldirektor von «Zürich liest», die anspruchsvolle Aufgabe hatte, die Punkte nach Lautstärke des Publikums zu vergeben. Und laut war es!

Am Ende zieht Martin Walker Bilanz: «Diese neue Format für ‹Zürich liest› war ein voller Erfolg und ich verspreche Ihnen, dass wir das nächstes Jahr wiederholen.» Und wir können es bereits jetzt kaum erwarten, wenn es wieder heisst: An die Stifte, fertig, los!

Mann in Amerika

«The most eminent living man of letters», schreibt die New York Herald Tribune über Thomas Mann 1934. In seinen Exiljahren 1938 bis 1952 in Amerika ist der deutsche Schriftsteller ein gefeierter Mann, geniesst wohlwollende öffentliche Aufmerksamkeit. Seine Werke verkaufen sich gut. Präsident Roosevelt und seine Frau frühstücken mit ihm. Mann ist geschmeichelt, doch trägt er eine schwere Last in sich. Mit tiefgreifendem politischem Engagement – mit Vortragsreisen, via Radio, mithilfe von öffentlichen Briefen und literarischen Werken – versucht er, wie auch seine Familie, die Welt, und insbesondere Deutschland, vor dem Nationalsozialismus zu warnen. Er kämpft für die Demokratie in Europa, setzt sich für Frieden und Humanität ein.

Das Museum Strauhof in der Augustinergasse zeigt bis am 19. Januar 2020 die Ausstellung «Thomas Mann in Amerika».

Das Museum Strauhof widmet dem emsigen Treiben Thomas Manns in Amerika bis am 19. Januar 2020 eine Ausstellung. Diese lässt Thomas Mann seine Exiljahre gleich selbst erzählen. Seine Tagebücher, akribisch geführt, vermitteln chronologisch einen Eindruck vom Entzug seiner deutschen Staatsbürgerschaft 1936, über seine Zeit in den Staaten bis zu seiner Rückkehr in die Schweiz. Darin finden sich Alltäglichkeiten, Reflexionen über sich selbst, Notizen über die Familie oder das literarische Schaffen, aber auch Pläne zur Abreise nach Amerika, Gedanken zu den Vorgängen in Deutschland und den politischen Ereignissen. 

Was für ihn das Exil erträglicher machte, war die Vergegenwärtigung der grausamen Lage in Deutschland und die Gewissheit, dass er die wahre deutsche Kultur stets in sich getragen und nicht zurückgelassen habe. «Wo ich bin, ist Deutschland», sagte Mann in einem Interview in der New York Times 1938. In Amerika repräsentierte er als Autor und Intellektueller die deutsche Kultur und die Nation. Vermehrt wurde er auch als Politiker wahrgenommen. 

Im Zentrum der Ausstellung steht aber auch seine Familie. Denn seine fünf Kinder haben massgeblichen Einfluss auf Mann, drängen ihn zur Stellungnahme gegen den Nationalsozialismus, reisen selbst durchs Land, halten Vorträge und Reden und geben Interviews im Kampf gegen die Nazi-Diktatur. Auch seine Frau Erika und sein Bruder Heinrich sind wichtige Konstanten an seiner Seite. Dass ihnen Raum in der Ausstellung zugestanden wurde, ist berechtigt. Sie vermitteln einen noch wenig bekannten Zugang zum Literaturnobelpreisträger.

Thomas Mann wohnte zuerst in Princeton, New Jersey, dann in Pacific Palisades im Bundesstaat Kalifornien. Für seine Vorträge und Reden unternahm er aber weite Reisen im ganzen Land.

Auch seine drei Werke («Joseph, der Ernäherer», «Doktor Faustus», «Der Erwählte»), die in diesen Jahren entstanden sind, werden eingeordnet. Der Beitrag zu den Romanen hätte aber noch der vertiefter Auskunft bedarft: Die an der Wand aufgeklebten Hauptinformationen dazu gehen kaum über eine Zusammenfassung hinaus, die weiterführenden losen Tafeln sind ein wenig unübersichtlich. Dafür wird seiner monatlichen BBC-Rundfunksendung «Deutsche Hörer!» viel und multimediale Aufmerksamkeit gewidmet. In Amerika fand er die Gedankenfreiheit und das Recht auf Meinungsäusserung, die ihm in Deutschland verwehrt wurden. So konnte er in 55 Radioansprachen das Kriegsgeschehen und die politische Lage in Deutschland aus seiner distanzierten Perspektive kommentieren.

Thomas Mann war gut befreundet mit Albert Einstein, den er in Princeton kennengelernt hatte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnet sich langsam die kommende antikommunistische und von Denunziationen und Verschwörungstheorien geprägte Politik der McCarthy-Ära ab. Mann kehrt 1952 in die Schweiz zurück, nicht zuletzt, weil seine Familie in den Fokus der Untersuchungen des Komitees für unamerikanische Umtriebe kommt.

In einem Brief an Hermann Hesse schrieb Thomas Mann 1945, er wolle für seinen Teil zur «Politisierung des Geistes» beitragen. Die Ausstellung im Strauhof zeigt, dass Mann seine gesellschaftspolitische Verantwortung als Schriftsteller wahrgenommen hat und er keineswegs auf eine ausschliesslich literarische Tätigkeit reduziert werden kann.

Wie ein historischer Roman entsteht

Was braucht es für einen guten Roman? Sprachvirtuosität, aber auch gute Geschichten, meint NZZ-Inlandredaktor und Historiker Marc Tribelhorn auf dem Podium im Kosmos. Zudem müssten diese Geschichten in der Vergangenheit liegen,, wie schon Thomas Mann in «Der Zauberberg» wusste.

Auf dem Podium neben Tribelhorn sitzt Alex Capus, ein begnadeter Geschichtenerzähler. Seine Bücher basieren oft auf historischen Ereignissen, sind aber Romane, beinhalten also stets auch Fiktionen. Auf Einladung der NZZ wird er an diesem Nachmittag über seinen Schaffensprozess plaudern, vor allem darüber, wie aus der Recherche ein historischer Roman entsteht.

Capus teilt die Meinung von Thomas Mann. Sei man zu nah an einer Geschichte dran, tauge der Stoff nichts für einen Roman. Für die literarische Betrachtung sei eine gewisse Distanz zum Geschehen notwendig. Capus schreibt deshalb meistens nicht über die Gegenwart. Trotzdem sei der Gegenstand seiner Betrachtungen immer das Gesellschaftliche: «Wieso lebt der Mensch, wie er lebt?». 

Und das Leben schreibt ja bekanntlich die besten Geschichten. Davon hält Capus allerdings nichts, denn das Leben habe keine Struktur. Ein Roman entstehe durch die Wahrnehmung des Betrachters oder der Betrachterin und welche Daten diese*r selektiert und in seine Geschichten aufnimmt. Erst durch das Weglassen von Fakten ergebe sich eine Struktur. Er nennt das einen Kristallisationsprozess: Das Wesentliche verhärte sich zum Kristall. Das heisst, aus dem akkumulierten Wissen wird die Essenz herausgefiltert, die Fakten konzentrieren sich zu einer Form: dem Roman.

Wann immer er auf kuriose Verläufe im Lebenslauf einer Person stosse, finde er für die Wogen im Leben dieses Menschen und den Wirren der Zeit, die diese*r durchlebte, Platz in einem Roman. Geschichte bestehe aus Kausalitäten, diesen geht Capus nach. Fehlt ein Glied in der Kette, erfinde er dieses dazu. Auf dem Cover seiner Bücher steht stets «Roman», deshalb dürfe er das. Er habe keinen Anspruch, in der Geschichtswissenschaft ernstgenommen zu werden. Er beleuchte Menschenleben, und zwar mit dem Respekt, der jeder und jedem zukomme.

Es sind die Alltäglichkeiten, die ihn interessieren. So recherchiert er auch mal für eine Geschichte, ob der Staubsauger im Ersten Weltkrieg schon erfunden war oder wie ein Dampfschiff gebaut wird. Die Menschen, die ihn zu seinen historisch-fiktiven Romanen inspirieren, finde er stets über Umwege oder per Zufall: über eine Bildunterschrift, einen Vermerk in einem Buch, über Archivmaterial. Dabei spricht er vom Verlieben auf den ersten Blick: Ein Thema müsse ihm sofort gefallen, sonst werde nichts daraus.

Wie viel Fiktion eine Erzählung erträgt, die sich in ihren Grundzügen tatsächlich zugetragen hat und wie viel Zeitgeschichte in einem historischen Roman in ihrer wissenschaftlichen Richtigkeit eingebunden werden soll, bleibt an diesem Nachmittag offen. Auch wie man auf Unstimmigkeiten hinweisen könnte. Wollte man an solche und andere Fragen an Capus richten, wurde man übrigens darauf verwiesen, diese digital einzureichen. Das Moderationsteam wählte dann aus, welche gestellt würden – eine durchaus bedenkenswerte Vorgehensweise.

Eine Stunde für ein Gespräch mit einem Autor ist angenehm kurz, aber auch ein wenig sportlich angesetzt. Die Zeit geht rasant vorüber, vor allem wenn man den Geschichten Capus’ lauscht, der live fast noch besser erzählen kann als auf Papier. Dabei hat man einen Einblick in den Schaffensprozess eines Autors erhalten, aber sich auch ein Bild vom Schriftsteller hinter den Büchern machen können. Dieser ist sich seines Könnens und seiner Stellung in der Schweizer Autor*innenszene durchaus bewusst ist, wirkt dabei aber keineswegs arrogant. Denn: «Ich denke nicht an Flaubert, wenn ich schreibe. Ich bin der Alex aus Olten und gebe mein Bestes», sagt Alex Capus zum Schluss.

360° Eindrücke

Wir haben die neue Mediensymbiose von «Exklusive Vorpremiere: «LOS 360°VR (RC)» – eine Lesung durch scheinbare Räume im Rahmen» besucht und uns nach einer Flut von Sinneseindrücken zu untenstehenden Fragen Gedanken gemacht. Wie diese Veranstaltung technisch abläuft, wird bereits in diesem Beitrag erläutert.

Was hat dir am besten gefallen?

A: Die Szenerie der verschiedenen Räume war mit vielen spannenden Details gefüllt. Diese zu erkunden, war ein faszinierendes Abenteuer. Besonders imposant fand ich den Raum des Meeres. Der Zuschauer befindet sich dicht genug unter der Oberfläche, um das Rauschen der Wellen zu vernehmen, kann aber gleichzeitig einen Blick in die Tiefe werfen.

X: Das war für mich eindeutig die erste Szene, die einen Theatersaal in abgedunkeltem Licht am Abend zeigte. Diese war sehr realitätsnah und es hat Spass gemacht, die Leute um sich herum zu beobachten. Die Stimmung war hier sehr angenehm und auch das Tête-à-Tête mit Klaus Merz war als Einführung ein raffiniertes Detail.

Was hat dir nicht so gefallen?

A: Sich in einer VR zurechtzufinden, bedeutet immer auch sich sehr vielen Sinneseinflüssen gleichzeitig auszusetzen. Im Gegensatz zu einem klassischen Kinobesuch ist es aber nicht möglich sich vom Bild abzuwenden. Selbstverständlich macht das einen Grossteil der imposanten Wirkung des VR aus; über eine Zeitspanne von einer halben Stunde ist es jedoch auch sehr ermüdend.

X: Die Übergänge zwischen den Sequenzen empfand ich oft als verwirrend. Ich denke, dass mir klarere Übergänge einen besseren Überblick vermittelt hätten. Die Szene mit den beiden Reitern konnte ich nicht in einen Zusammenhang setzen, das hat mich mehr verwirrt als begeistert.

Wie hat in deinen Augen die Symbiose von Literatur und VR funktioniert?

A: Teilweise gut, teilweise weniger gut. Die erlebten Szenerien waren für mich mit der Stimme von Klaus Merz stimmig. Die Hintergrundgeräusche der Räume – brechende Wellen, tuschelnde Theaterbesucher, heulende Schneegestöber – waren mir persönlich zu laut. Entsprechend rückte die Stimme und somit die Erzählung in den Hintergrund.

X: Grundsätzlich denke ich, dass die Symbiose eine grossartige Idee ist und bei sich passend gewählter Literatur sehr gut funktionieren kann. Ich empfand jedoch bei diesem Projekt den Inhalt der Erzählung als zu schwerwiegend für eine Visualisierung mit der VR-Technik.

Wem würdest du den Besuch empfehlen?

A: Ziel des Projektes war es, eine grössere Masse an Zuschauenden anzuziehen, was – wenn man die Vorführungen im Rahmen von Zürich liest zählt – durchaus gelungen ist. Dennoch scheint mir das Projekt immer noch auf ein sehr spezifisches Segment zugeschnitten, da mit Klaus Merz’ LOS eher schwerere Lektüre gewählt wurde, die wohl nicht allen zusagt. Trotzdem empfehle ich den Besuch denjenigen, die bis jetzt noch nicht in den Kontakt mit VR gekommen sind. Die Bilder sind ein Erlebnis für sich.

X: Klaus Merz-Fans wären sicherlich angetan, genauso wie Personen, die vorwiegend an Literatur und etwas weniger an Technik interessiert sind. Für Kinder empfinde ich die Technik als geeignet, den Inhalt der Erzählung jedoch als unpassend. Personen, die nur an der VR-Technik interessiert sind, würde ich vermutlich ein anderes Projekt empfehlen, da hier berechtigterweise die Literatur und ihr Inhalt klar im Vordergrund stehen.

Wie siehst du die Zukunft dieser Mediensymbiose?

A: Gerade jetzt, wo VR oder auch AR (Augmented Reality) vermehrt auf den privaten Markt kommt, glaube ich, dass einige neue Medienformen wie das Projekt 360° entstehen. Es ist aber auch klar, dass solche die bestehenden Formen weder ersetzen können noch sollen.

X: Ich denke, dass die VR-Technik für Kurzfilme sehr gut geeignet ist und auch ein Literaturprojekt sinnvoll damit realisiert werden kann. Andere kürzere Filme oder Aufnahmen könnten so realitätsnah ausfallen, was ich mir besonders für sehr bildhafte Literatur gut vorstellen könnte. Ich bin jedoch nicht der Meinung, dass daraus lange Kinofilme entstehen werden.

Xenia Bojarski und Anouschka Mamie

Happy Birthday, kleine Raupe Nimmersatt

Heute fanden Laura und ich im Gemeinschaftszentrum Riesbach eine lange Raupe vor, welche aus vielen kleinen Gästen bestand.

Denn das beliebte Kinderbuch „Die kleine Raupe Nimmersatt“ feiert dieses Jahr einen runden Geburtstag: Sie wird 50 Jahre alt. Grund genug also, eine Geburtstagsparty zu feiern! Wir hören Geschichten, malen und basteln und auch ein Geburtstagskuchen darf nicht fehlen.

Nachdem der Anfang des Buches mit den Kindern gelesen wurde, liefen sie, mal mehr, mal weniger, in einer Reihe durch den Raum und sammelten als kleine Raupe Nimmersatt alle im Buch beschriebenen Lebensmittel ein.

Nach dem aktiven Teil folgte eine kleine Bastelrunde. Jedes Kind durfte einen Schmetterling basteln, da aus der kleinen Raupe einer wird, wenn sie gross ist. Und nach der kreativen Arbeit folgte das Vergnügen, denn dann gab es alle leckeren Lebensmittel, welche die kleine Raupe Nimmersatt am liebsten verspeist: Äpfel, Birnen, Wurst und einen besonders schönen Schokoladenkuchen.

HAPPY BIRTHDAY, KLEINE RAUPE!

Stein und Stein

Wer viel liest, kennt die lästige Suche nach einer erträglichen Leseposition. Krampf in den Schenkeln, Nackenmuskulatur, die zieht, Beine überschlagen, dann doch nicht, Rückenschmerzen, müder Hals und so weiter. Diese Begleiterscheinungen werden meist als störend oder bestenfalls gar nicht empfunden. Die Installation Lektüre zur Lage modifiziert nun die kontingenten Umstände des Lesens und schliesst sie in die Lektüre ein. 

Im Kein Museum, einem ehemaligen Tabakgeschäft, strömt einem bereits Lavendelduft entgegen. Betritt man den mit schwarzen Tüchern separierten Raum, findet man sich an eine Spa-Hotel-Werbung erinnert. Man darf sich an weichen Kissen und Tüchern bedienen, und in ruhigem Licht legt man sich rücklings auf eine Fläche aus kirschgrossen Steinchen. Über einem laufen dann die Texte mehrer Autor*innen über eine schief in den Raum hängende Projektionsfläche. Man liegt und liest dann für eine Weile, bis die Schlaufe durch ist. Dieses Setting gibt sich nun unter zweierlei Gesichtspunkten zu lesen. 

Einerseits ist da die buchstäbliche Position (oder eben Lage), die man zu den Texten einnimmt. Es ist überraschend bequem und man ruft sich auch gleich die Heilkraft spartanisch harter Bettalternativen ins Gedächtnis. Ein durchaus behagliches Lesevergnügen. Dann aber wird die Lage zusehends unbequem, womit die Verantwortlichen Kevin Mutter und Adrian Baumberger auf gelungene Weise mit der vermeintlichen Gemütlichkeit brechen. Das lesende Subjekt kann sich nirgends über längere Zeit dem Müssiggang hingeben. Irritierend wirkt dabei die sanft-elektronische Massage-Mucke im Hintergrund, die zwar Stimmung verbreitet, aber vom Lesen eher ablenkt. 

Andererseits sind da die kurzen Erzählungen und formal freien Gedichte, die elf Autor*innen zum Denkbild Lage verfasst haben. Daraus resultierten eher kryptische aber auch erzählerische Gedichte, eine kurzgedachte Allegorie, skizzenartiges und kleine Erzählungen. Einige überzeugende Texte sind darunter (erwähnt sei Alexandra Zyssets Fake-Story über ein Dorf im Jura) und vor allem prosaisches funktioniert gut in der Installation. Ausgewählt hat das Magazin Stereofeder.

Natürlich ergibt sich der Wert der Installation aber aus der Verknüpfung der beiden Aspekte, denn sonst könnte man das ja alles besser zu Hause lesen oder sein eigenes Buch aufs Steinbett mitbringen. Der unreflektierte Gesamteindruck, der einem zuvorderst bleibt, ist positiv. Der Einbezug der Umstände in die Lektüre wirkt nicht aufgestülpt, sondern in seiner Absicht berechtigt. Aber gerade weil man sich selbst als lesendes Subjekt erlebt, wünscht man sich, diese Perspektive in den Texten aufgenommen zu finden. Ausserdem eignen sich die stark lyrischen Texte, die ein ständiges Zurückspringen der Lesenden verlangen, leider gar nicht für das Format. 

Schlussendlich lohnt sich der Besuch in der Mutschellenstrasse durchaus, um die im Ansatz aussagekräftige Installation zu sehen, auch wenn einiges in der Ausführung nicht ganz will. Es ist kein modernitätsgeiler Versuch, Literatur im Digital Age schmackhaft zu machen, sondern ein innovatives Experiment junger Kunstschaffender, das Lesen als Praxis in anderen Medien zu reflektieren. Und «artistry trumps mastery», wie Maggie Nelson so schön schreibt. 

Zuhause beim Verlag des Jahres

Am Freitag öffnete der Rotpunktverlag seine Verlagsräume in der «Hellmi». Bereits zum zweiten Mal nach 2011 durfte die Auszeichnung zum «Verlag des Jahres 2019», der vom Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband vergeben wird, gefeiert werden.

Wahrscheinlich nicht zuletzt deshalb standen die Besucher*innen dicht gedrängt Schulter an Schulter um den grossen Tisch, auf dem sich das aktuelle Programm des Verlages präsentierte. Ein Besucherrekord durfte verbucht werden.

Die einzelnen Schritte vom Manuskript zum Buch wurden vom sechsköpfigen, ausschliesslich weiblichen Team kurz erläutert, worauf eine spontane Abstimmung über erste Entwürfe für einen neuen Buchumschlag folgte.

Der angekündigte Überraschungsgast war Marianne Sax, die Buchhändlerin aus Frauenfeld, die seit Juli das Amt als Präsidentin des Verwaltungsrates vom Rotpunktverlag innehat. Aus ihrer Heimat überraschte sie immerhin mit einem Korb thurgauischer Äpfel. Diese wurden als Entschädigung für die angekündigte, aber leider gar nicht stattfindende Lesung akzeptiert und bildeten somit das rote I-Tüpfelchen einer Veranstaltung, die gerne mehr aus ihren Möglichkeiten hätte machen dürfen.