Das groovt und kracht

Was passiert, wenn ein Pianist und Komponist sich mit drei Jazzern, einem Schauspieler und einer Graphic Novel spätabends in einem Club treffen? Viel Geplauder, ein paar Gläschen und vielleicht einige Tropfen verschütteten Wein auf der Graphic Novel, möchte man meinen. Womöglich wird die Graphic Novel auch mal als Kissen benutzt. Und vielleicht kracht’s dann irgendwann so gegen zwei in der Früh auch mal ein bisschen. Na?

Und wie das kracht! Während schwarzweisse Bilder eines San Francisco der späten Zwanziger über den Bildschirm flimmern, verwandelt sich Raphael Clamer in den witzig derben Grossstadt-Detektiv und mimt gleich auch seinen Gegenspieler, den Gangster-Rowdy. Saxophon, Kontrabass, Schlagzeug und Klavier bäumen sich neben ihm auf, schnurren in der einen Sekunde vergnügt und schlagen in der nächsten bildlich Türen ein. Itay Dvoris kompositorisches Gesamtkunstwerk funktioniert nicht nur deshalb so gut, weil die fünf Künstlergesellen als eingespieltes Team zusammenwirken. Diese Sinnesorgie aus Wort, Ton und Bild zeigt eindrücklich auf, wie sich die einzelnen Künste zu einer Geschichte vereinen können. Und das ganz ohne Reizüberflutung für die Zuschauer*innen. So bleibt ein Bild nicht selten unkommentiert, und die Musik übernimmt stattdessen die Rolle des Erzählers. Anderswo wird nur gesprochen und man wartet auf die bildliche oder musikalische Pointe. Das kommt an und auch bei der Zugabe beweist das Ensemble Yam Yabasha seinen Mut zur Grenzüberschreitung: Es erklingen fünf Miniaturen zu ‹musikalischen› Gemälden des französischen Malers Grandville. Das ist unglaublich witzig und provoziert manchen Lacher im Publikum.

Als Zugabe vertonte Yam Yabasha Karikaturen des Malers Jean Grandville.

Nachher trifft man sich, wie sich das für eine Jazzband gehört, noch auf ein Bier an der hauseigenen Bar. Vielleicht schon mit der nächsten Graphic Novel in der Tasche? Das Ensemble Yam Yabasha hat jedenfalls seine eigene Sprache erfunden. Das groovt!

Sowjet Milk

Die lettische Sprache klingt weich und fliessend. Vor ein paar Minuten hat Nora Ikstena uns selbst einen kurzen Teil aus ihrem Roman «Muttermilch» in der Originalsprache vorgelesen. Die Schauspielerin und Sprecherin Vera Bommer schafft es auf bemerkenswerte Weise, diese Leichtigkeit auch mit den Worten der deutschen Übersetzung zu reproduzieren. Die Autorin lächelt immer wieder, während Bommer ihren Text liest, der 2019 erstmals auf Deutsch erschienen ist. Alles andere als leicht ist jedoch, wovon diese Worte berichten. Es ist die Geschichte von Mutter und Tochter im von der Sowjetunion besetzten Lettland des kalten Kriegs. Ein Einzelschicksal wie es damals viele gab, verborgen hinter dem Eisernen Vorhang. Eine Geschichte von Liebe, obwohl die Mutter ihrem Kind die eigene Muttermilch verweigert. Das geschieht aus Schutz, wie Ikstena betont, denn die Milch der Mutter ist ‹vergiftet› und sauer von einem Leben, das die Tochter nicht haben soll. ‹Sowjet milk› – in Grossbritannien lautet so der Titel von Ikstenas Roman. Ungern habe sie den Titel ihres Textes für die Verleger geändert, doch irgendwie ist er dennoch passend. Die Autorin erinnert sich: Als sie noch ein Kind war zu Zeiten der sowjetischen Besetzung Lettlands, seien sie in der Schule immer gezwungen worden, warme Milch zu trinken. Sie habe deswegen heute immer noch Probleme mit dem Getränk. Die Metapher der Milch scheint für Lettland sehr wichtig aber auch zwiespältig. So ist die Milchstrasse in Lettland auch ein Symbol für das Paradies. Wie Bommer einwirft, verwendete schon Shakespeare in Macbeth die Milchmetapher. Von der ‹milk of human kindness› ist bei ihm die Rede. Auch diese Bedeutung von «Milch» ist für Nora Ikstena wesentlich. Sie hegt keinen Hass gegen Russland und die russische Sprache sei für sie immer eine Sprache der Kultur und der Bildung gewesen. Ihren Roman «Muttermilch» hat sie aber dennoch auf Lettisch verfasst. Und so liest sie auch für uns auf Lettisch und die Worte zerfliessen ihr auf der Zunge, fast wie Milch.

«May the sun shine warm upon your face, and rains fall soft upon your fields»

Kein Regen fällt vor den offenen Fenstern, dafür klingt ein irischer Segen durch den Raum. Die Worte wecken in mir die Erinnerung an weiche, grüne Felder und scharf abfallende Klippen, die ich vor nicht allzu langer Zeit selbst einmal besucht habe. Allerdings fiel in jenem Sommer fast kein Regen. Es sei einer der heissesten Sommer seit langem gewesen, erzählten mir damals einheimische Iren. Vieles in Seraina Koblers noch unveröffentlichtem Debut kommt mir deshalb seltsam vertraut vor. Ihr Roman handelt von einer Liebesgeschichte: Anna und David wollen ihr Leben zusammen verbringen, doch das Kind, das Anna in sich trägt, stammt nicht von David. Der erste Streit beginnt, und eines Tages ist David nicht mehr da. Im Sommer der Städte herrscht unerträgliche Hitze, also flüchtet man in die Berge. Doch dort gibt es Steinschläge. Vögel fallen vom Himmel. Und dann ist da noch der Regen, der im Verlauf der Geschichte immer mehr versiegt.

Die Journalistin und ehemalige NZZ Redakteurin bemerkt während der Lesung einmal, der Spruch, wonach die Gegenwart den Journalisten und die Vergangenheit den Dichtern gehöre, habe sie dazu verleitet, ihren Text vom Präsens in die Vergangenheit zu setzen. Allerdings streift sie mit ihrer Geschichte in der Tat brisante, aktuelle Themen. So klingt das in der Schweizer Gegenwartsliteratur sehr präsente Motiv der ‚verschwindenden Männer‘ ebenso an wie die drohende Klimakatastrophe. Sonst ist der Schreibprozess das grosse Thema des Abends, hält die Autorin vor uns auch kein frisch gedrucktes Werk, sondern eine Arbeitsmappe in den Händen. ‚Work in progress‘, sozusagen. Grosse Recherchearbeit hat sie betrieben und mit Klimahistorikern gesprochen, ganz in journalistischer Manier. Nichts in ihrem Roman sei erfunden, alles habe sich in Europa so einmal zugetragen. Tatsächlich soll es schon im Mittelalter einst eine Dürre gegeben haben, dass Seen kein Wasser mehr enthielten. So berühren sich in Koblers Geschichte Vergangenheit und Gegenwart. Doch wie sieht wohl die Zukunft aus? Wieso verschwindet David und wie wird Anna mit ihrem noch ungeborenen Kind in dieser überhitzten Welt leben? Der Abend hat mich neugierig gemacht. Ich freue mich auf eine baldige Veröffentlichung – und hoffe stets auf Regen.

Für uns bei «Zürich liest»: Marina Zwimpfer

Ein milder Herbsttag beginnt: Die alten Blätter der Bäume verfärben sich und machen Platz für neue. Auch die Autorinnen und Autoren haben in diesem Jahr wieder bunt und wild ihre Blätter beschrieben. Jetzt weht der Wind sie auf die Bühnen und in unsere Lesesäle. Was dabei so alles zustande kam, das wird Marina Zwimpfer herausfinden, denn so mannigfaltig wie das Laub sind auch die Veranstaltungen, die sie in diesem Jahr bei «Zürich liest» besuchen wird. Von ‚work in progress‘ und einer eindringlichen Frauenstimme aus Lettland bis zum Gesamtkunstwerk aus Text, Bild und Musik ist alles dabei!

Marina Zwimpfer studiert Germanistik und Anglistik an der Universität Zürich und Musik mit Hauptfach Oboe an der Hochschule Luzern.