Von Nichtigkeiten zu grossen Abwesenden

In der letzten Veranstaltung des «NZZ Tag des Lesen» sollte es am Sonntagabend im Kosmos sowohl um gewichtige Autor*innen als auch um Neuentdeckungen gehen, wenn sich traditionsgemäss die drei NZZ-Redaktor*innen Claudia Mäder, Thomas Ribi und Martina Läubli über lesenswerte Bücher der Saison unterhalten und einen fachkundigen Gast in ihre Runde einladen. An diesem Abend ist das Philipp Theisohn, Literaturprofessor der Universität Zürich und Herausgeber des Schweizer Buchjahrs. Natürlich wurden die erhofften Leseempfehlungen ausgesprochen, aber es wurden auch grundlegendere Fragen diskutiert.

Der Elefant im Raum wurde gleich zu Beginn angesprochen, denn an diesem Buch kommt man zurzeit nicht vorbei. Die langersehnte Fortsetzung von Margaret Atwoods «Der Report der Magd» wurde nach 34 Jahren und einer erfolgreichen TV-Serie mit Spannung erwartet. «The Handmaid’s Tale» heisst der erste Band im Original und kann heute mit gutem Gewissen als «moderner Klassiker» bezeichnet werden. Die Erwartungen waren also gross und ebenso gross die spürbare Ernüchterung unter den Kritiker*innen. Atwoods neuer Roman «Die Zeuginnen» hält, so die einhellige Meinung, nicht, was sein Vorgänger verspricht. So ärgerte sich Claudia Mäder während der Lektüre immer wieder über die schwache Sprache und die schematische Erzählweise: «Der Text ist anspruchslos, langweilig und vor allem vorhersehbar.» Die Chance, zu zeigen, wie die gesellschaftlichen Strukturen des ersten Teils implodieren, werde verpasst. Es würden zwar alle offen gebliebenen Fragen beantwortet, aber dadurch ginge auch die Qualität der Dystopie verloren. Durch die starke Visualisierung und expliziten Erklärungen im Text dränge sich der Verdacht einer engen Verwobenheit zwischen Buch und TV-Serie auf. Dabei stelle sich die Frage, ob Literatur in Zukunft immer mehr nach dem Serienprinzip funktionieren werde. Philipp Theisohn beobachtet diese Entwicklung bereits seit einiger Zeit, allerdings lernen die Serien wie «Game of Thrones» auch von der Literatur und funktionieren nach literarischen Prinzipien.

Als nächstes stand das Werk eines weitaus weniger bekannten Autors im Mittelpunkt. Bei «Nach Notat zu Bett» von Heinz Strunk handelt es sich um einen autofiktionalen Text. Der Ich-Erzähler Heinz ist ständig mit Projekten beschäftigt, die dann doch nie fertig werden. Sein Alltag, den er ein Jahr lang tagebuchartig festhält, ist geprägt von Ritualen und Nachbarn mit komischen Marotten. Während Heinz selber in Nichtigkeiten zu ertrinken droht, scheint man als Leser*in Gefahr zu laufen, demselben Schicksal zu erliegen, wenn Heinz beispielsweise jeden Abend minutiös seinen Google-Suchverlauf ausbuchstabiert. Hält man diesen unsäglichen Alltag zwischen Nichtigkeiten jedoch aus, stösst man auf tiefe, grundlegende Fragen und trifft mit Heinz auf einen Kulturkritiker, der sich von der Hochkultur bis zur «Trashkultur» alles anschaut und deshalb auch moralisch werden kann. Ein Buch, bei dem man sowohl lauthals lachen als auch über tiefere Dimensionen nachdenken kann.

Bachtyar Ali hingegen erzählt in «Perwanas Abend» die Geschichte zweier Schwestern. In der Stadt ist kein Platz für junge Frauen, ihre Träume, Talente und besonders nicht für ihre Liebe. Väter, Brüder und Hüterinnen des Glaubens machen ein erfülltes Leben unmöglich. So verschwindet eine nach der anderen mit ihrem Geliebten ins Tal der Liebe. Perwanas Schwester Khandan bleibt jedoch zurück und muss nun die Konsequenzen für Perwanas Verschwinden tragen. Dieser Text schwankt zwischen dem Gefühl aus Tausendundeine Nacht und einer unerhörten Brutalität, die schonungslos geschildert wird. Bestimmt kein leichter, aber dafür umso lesenswerterer Text, so sind sich die Redner*innen einig, den man bestimmt auch ein zweites Mal gerne liest, um alle Allegorien und eindrücklichen Bilder auf sich wirken zu lassen.

Den Schluss machte der neue Roman «Eine Familie» der Schweizer Autorin Pascale Kramer, mit welchem sie erneut beweist, dass sie «eine Meisterin der feinen Zwischentöne ist». Die Familie kommt zur Geburt des Enkelkindes in Bordeaux zusammen, doch alles scheint sich nur um eines zu drehen, um den, der nicht da ist. Romain, der älteste Bruder, ist stark alkoholkrank und trank sich bereits als Jugendlicher ins Koma. Alle Hilfsversuche der Familie scheitern. Der Text ist in fünf Kapitel gegliedert, die alle aus der Perspektive eines anderen Familienmitglieds geschrieben sind. Bei Kramers Liebe fürs Detail ist es wenig überraschend, dass man beim Lesen aufmerksam hinschauen sollte, wenn man herausfinden will, wieso eigentlich immer alle nur von Romain sprechen. Ist er am Ende sogar das Glied, das die Familie zusammenhält? So fasst Philipp Theisohn zusammen: «Bei diesem Roman handelt es sich um eine Deckgeschichte, und die Aufgabe des Lesers ist es, die Decke zu lüften.»

Fakt ist, nicht Fake

In den letzten Jahren hat der Kampfbegriff Fake News das öffentliche Bild der Medien geprägt. Feuilletons resümieren die Gegenwart als «Die Zeiten von Fake News» und mehrere grosse Zeitungshäuser beschäftigen mittlerweile Fact-Checker. 2017 hat sogar der Duden das politische Reizwort aufgenommen. Dass Fakes als Falschmeldungen entlarvt werden müssen, um das Vertrauen einer Gesellschaft in ihre Nachrichtenquellen zu sichern, steht natürlich nicht zur Debatte. Der Literaturwissenschafter Thomas Strässle vermisst aber eine Untersuchung, wie Fakes ihre Faktualität überhaupt erst behaupten und unter dem Deckmantel der Wahrheit «in der Welt bleiben» können. Dazu greift er in die Werkzeugkiste der Literaturwissenschaften, denn Fakes seien ja nichts anderes als Fiktionen, die wahr sein wollen. 

In seinem kürzlich erschienen Essay Fake und Fiktion arbeitet Strässle nun solche Plausibilisierungs- und Suggestionsmechanismen heraus. Dazu präsentiert er eine Reihe aberwitziger literarischer Beispiele, in denen stimmt, was unglaubwürdig erscheint und falsch ist, was sich doch eindeutig als Tatsache präsentiert. Eine Auswahl solcher ernsthaften Spielereien hat er am Sonntagabend in der Buchhandlung Barth (eine inmitten der Bahnhofhetzerei unerwartet gut ausgestattete Buchhandlung) vorgestellt. Da war eine Biografie Hildesheimers, zu der es keinen Menschen gab und wir hörten von erfundenen Dialektuntersuchungen, die sogar die Linguistik an der Nase herumführten, um nur zwei zu nennen. Aber was bringt einem jetzt die Auseinandersetzung mit Fakes? Georg Ossegg hat wissenschaftlich behauptet, das Märchen von Hänsel und Gretel bewiesen zu haben und das so überzeugend, dass ihm alle glaubten. Sein Buch erzählt damit vielleicht keine wahre Geschichte, hat aber trotzdem so einiges über uns zu sagen. Die Texte übertreiben und entlarven auf gewitzte Art die Mechanismen und Strategien ihrer ‹journalistischen› Pendants, die meist aus mieseren Absichten heraus produziert wurden und die wir dankend glauben.

Im Buch selbst betreibt Strässle noch mehr literaturwissenschaftliche Arbeit, ohne aber seine Erkenntnisse unnötig zu theoretisieren. Und wenn er auch zeitweise etwas viel Freude an etymologischer Spurensuche zeigt, begründet er seine Analysen doch überzeugend. Die Welt macht Texte wahr oder falsch, nicht textinhärente Muster. Die Analyse solcher Muster kann uns also nichts über Wahrheit und Fakten an sich erzählen, aber darüber, wie sie sich uns normalerweise präsentieren. Strässle ist sich diesem grundlegenden Unterschied durchaus bewusst, lässt ihn aber ab und an verschwimmen und scheint sich dann selbst einen relativistischen Wahrheitsbegriff unterzujubeln, für den er keine Belege aufbringen kann. So suggeriert bereits der Untertitel des Buches «Über die Erfindung von Wahrheit», was es nicht einlösen kann. Diese raren Misstritte verspielen den Wert der eigentlichen Analyse aber keineswegs und man muss den Essay dafür schätzen, was er kann. Strässle vermag aus einem reichen Fundus literarischer Raritäten eben jene zu picken, die Erzählmuster klar hervortreten lassen, die uns «in den Zeiten von Fake News» als Warnflaggen dienen können – und sollten.

«Es steht Roman drauf, dann ist Roman drin»: Alex Capus über historische Romane

«Ich bin wie ein Hund. Ich gehe überall da lang, wo es gut riecht», erzählt Alex Capus. Dies sei sein Privileg als Schriftsteller. Er könne sich mit jenen historischen Stoffen beschäftigen, die ihm wirklich zusagen – und alles andere könne er «den Historikern und Journalisten überlassen». Schon als Student sei er eigensinnig gewesen und habe stets seinen eigenen Weg gewählt; nicht immer zur Freude seiner Dozierenden.

Über den Weg von der historischen Recherche zur literarischen Fiktion spricht er am Sonntagnachmittag im KOSMOS mit Marc Tribelhorn, Redaktor bei der NZZ. Capus berichtet von seinen Recherche-Abenteuern, die bisweilen selber an fiktionale Geschichten erinnern. «Eine lustige Geschichte. Sie stimmt sogar», kommentiert er seine Erzählung einmal. Die Leute des vollbesetzten Saals – viele davon eingefleischte Capus-Fans, wie ich annehme – lachen lauthals. In gewohnt ernster und ironischer Manier beantwortet Capus die Fragen des Moderators.

Ob nicht das Leben die schönsten Geschichten schreibe, fragt Tribelhorn den Literaten zu Beginn. «Das Leben schreibt gar keine Geschichten», antwortet Capus. Die Geschichte liege ganz im Auge des Betrachters. Es sei die Aufgabe des Erzählers, eine Struktur in Ereignisse zu bringen. Die Kausalität erschliesst sich aus dem Datenmaterial der Archive noch nicht.

Wenn er ein Thema gefunden habe, welches ihn wirklich interessiere, dann recherchiere er so intensiv, bis er «der Fachmann» in diesem Gebiet sei, erklärt Capus. Er wolle dann alles wissen – auch Alltäglichkeiten der Zeit. Bedauerlicherweise müsse er bei der Verarbeitung zum Roman viel Wissen beiseite lassen. Auf die Frage des Moderators, wie er denn bei seinen historischen Recherchen vorgehe, antwortet Capus trocken: «Das ist nicht sehr kompliziert, dieses Handwerk. Keine Hexerei.» Das kenne der Moderator ja selber auch aus dem Studium. „Wichtig ist doch die individuelle Neugierde.“

Für seine Recherchen besucht Capus nicht nur verschiedene Archive in der Schweiz. Auch im Ausland wird er ab und an fündig. Für Munzinger Pascha etwa führten ihn seine Recherchen bis nach Kairo. Er suchte Briefe – die er da tatsächlich fand. Als Erzähler könne er, so erklärt Capus, Kausalitäten herstellen, die ihm gefallen – ohne Anspruch auf objektive Wahrheit. Zur Veranschaulichung erzählt er von seiner Reise nach Kreta: Da habe er sich mit seiner Famlilie verschiedene Ausgrabungen angeschaut. Oft war anhand der bescheidenen Überreste überhaupt nicht klar, wann oder zu welchem Zweck die Gebäude errichtet worden waren. Dann kamen sie zum Palast von Knossos. Wenngleich es ja «augenfällig für jeden» sei, dass es sich bei dieser Rekonstruktion um eine Fiktion handle, habe Knossos ihm besser gefallen, erklärt er.

Als Schriftsteller habe er die Möglichkeit, die historischen Fakten zu verbinden, ohne sie wissenschaftlich genau belegen zu müssen. «Es steht Roman drauf, dann ist auch Roman drin», stellt Capus fest.

Klunker, Knast und Knarren – im Krimitram mit Isabel Morf

Etwas Nebel wäre gut gewesen, denke ich, als ich am Bellevue ins Tram steige, oder wenn die Lesung bei Einbruch der Dunkelheit stattgefunden hätte. Oder in einem der älteren Trams, das in jeder noch so flachen Kurve gequält in den Gleisen kreischt. Das wäre eine angemessene Kulisse gewesen für eine Krimi-Lesung. Doch Zürich zeigt sich an diesem Sonntag in schönstem Herbstwetter, Familien flanieren an der Limmat und gönnen sich eine Packung dampfender Marroni.

Im vorderen Teil des Trams ist ein Pult aufgebaut, an dem die Autorin aus ihrem neuen Roman «Ein perfekter Mord» liest. Wir verlassen also das Bellevue und lassen uns im Tram nach Altstetten und von Isabel Morf in die Welt ihrer Protagonistin Kassandra Buchstab tragen, die Krimiautorin und Detektivin in einem ist und plötzlich von ihrer Vergangenheit als Mörderin eingeholt wird.

Das herbstliche Familien-Ausflug-Wetter stellt sich als gar nicht so unpassend heraus für die Passagen, die Isabel Morf vorträgt. Viel Doppelbödigkeit ist in dem Plauderton, den Morf ihrer Protagonistin verleiht, nicht zu finden. Diese berichtet uns frisch von der Leber weg, wie sie einen ihrer Fans umgebracht habe, damit dieser ihre geheime Identität als Putzkraft nicht auffliegen lasse. Die Sprache ist eigentlich ganz kurzweilig, aber echte Spannung kommt durch den ironisch-geschwätzigen Ton der Hauptfigur nicht auf, auch als diese gefesselt in ihrer Wohnung liegt.

Oder hat diese Figur doch etwas zu verbergen? Kann man einer Figur trauen, die es scheinbar nicht allzu verwerflich findet, dass ihre Mordtat ihr zu Ruhm als Krimiautorin verholfen hat? Spielt sie am Ende doch ein Spiel mit den Leser*innen und versucht, sie auf ihre Seite zu ziehen? An diesem Tag kann ich Kassandra Buchstab nicht mehr durchschauen, denn das Tram ist wieder am Bellevue angelangt und entlässt uns in den Herbstabend.

Orangensaftmaschine trifft auf Albert Einstein: Illu-Battle

Diesen Sonntag treffen sich zum ersten Mal die Illustrator*innen des Bolo-Klubs, um sich im Karl der Grosse zu messen. Der Polo-Klub wurde zum Anlass der Bilderbuchmesse in Bologna gegründet (daher der Name) und ist eine Gruppe von Illustrator*innen, die sich gegenseitig bei der Entwicklung ihrer ersten Bilderbücher unterstützen. Der Innenraum des Restaurants ist restlos gefüllt und das ist auch gut so, denn was wäre ein richtiges Battle ohne lautstarkes Publikum. Die Köpfe in den hinteren Reihen schweifen entsprechend rastlos von links nach rechts, um einen Blick auf die beiden Bildschirme zu erhaschen, auf denen die Illustrationen live mitzuverfolgen sind.

Die Spielregeln sind simpel. Es gibt vier Runden à drei Begriffen. Gespielt wird in Teams. Das Team, das durch seine Illustrationen die heftigere Reaktion beim Publikum erreicht, gewinnt und kommt eine Runde weiter. Dann wird noch mal gezeichnet, um den zweiten und ersten Platz.

Die Stifte sind gespitzt, die Finger gelockert und schon kann die erste Runde beginnen. Gezeichnet werden Begriffe aus dem Publikum. Immer zwei Begriffe pro Runde, die innerhalb von drei Minuten zu einer Illustration kombiniert werden.

Immer wieder bemerkt eine Zuschauerin erstaunt: «Drü Minute sind eigentlich no lang, gäll?» Während Traudl Bünger nach der ersten Runde anerkennend bemerkt: «Wenn ich diese Illustrationen so betrachte, würde ich sagen, man sass zwei Tage daran.» Tatsächlich, es ist faszinierend welch kleine Kunstwerke im Dreiminuten-Takt produziert werden.

Es entstehen Illustrationen zu Wortpaaren wie «Schnecke und Mangacharakter», «Stehaufmännchen und Stillschweigen», «Elefant und Kreativität», «Orangensaftmaschine und Albert Einstein», aber auch politischeren Stichwörter wie «Klimajugend und pubertierende Teenager», «Kolibri und Feministin» und «Zürcher Politik (Grüne) und Rap». Es ist offensichtlich: Die Wahlen in Zürich beschäftigen nach wie vor.

Die Autorin und Literaturkritikerin Traudl Bünger führte mit viel Witz durch das Battle und kommentierte das Geschehen, während Martin Walker, der Festivaldirektor von «Zürich liest», die anspruchsvolle Aufgabe hatte, die Punkte nach Lautstärke des Publikums zu vergeben. Und laut war es!

Am Ende zieht Martin Walker Bilanz: «Diese neue Format für ‹Zürich liest› war ein voller Erfolg und ich verspreche Ihnen, dass wir das nächstes Jahr wiederholen.» Und wir können es bereits jetzt kaum erwarten, wenn es wieder heisst: An die Stifte, fertig, los!

Mann in Amerika

«The most eminent living man of letters», schreibt die New York Herald Tribune über Thomas Mann 1934. In seinen Exiljahren 1938 bis 1952 in Amerika ist der deutsche Schriftsteller ein gefeierter Mann, geniesst wohlwollende öffentliche Aufmerksamkeit. Seine Werke verkaufen sich gut. Präsident Roosevelt und seine Frau frühstücken mit ihm. Mann ist geschmeichelt, doch trägt er eine schwere Last in sich. Mit tiefgreifendem politischem Engagement – mit Vortragsreisen, via Radio, mithilfe von öffentlichen Briefen und literarischen Werken – versucht er, wie auch seine Familie, die Welt, und insbesondere Deutschland, vor dem Nationalsozialismus zu warnen. Er kämpft für die Demokratie in Europa, setzt sich für Frieden und Humanität ein.

Das Museum Strauhof in der Augustinergasse zeigt bis am 19. Januar 2020 die Ausstellung «Thomas Mann in Amerika».

Das Museum Strauhof widmet dem emsigen Treiben Thomas Manns in Amerika bis am 19. Januar 2020 eine Ausstellung. Diese lässt Thomas Mann seine Exiljahre gleich selbst erzählen. Seine Tagebücher, akribisch geführt, vermitteln chronologisch einen Eindruck vom Entzug seiner deutschen Staatsbürgerschaft 1936, über seine Zeit in den Staaten bis zu seiner Rückkehr in die Schweiz. Darin finden sich Alltäglichkeiten, Reflexionen über sich selbst, Notizen über die Familie oder das literarische Schaffen, aber auch Pläne zur Abreise nach Amerika, Gedanken zu den Vorgängen in Deutschland und den politischen Ereignissen. 

Was für ihn das Exil erträglicher machte, war die Vergegenwärtigung der grausamen Lage in Deutschland und die Gewissheit, dass er die wahre deutsche Kultur stets in sich getragen und nicht zurückgelassen habe. «Wo ich bin, ist Deutschland», sagte Mann in einem Interview in der New York Times 1938. In Amerika repräsentierte er als Autor und Intellektueller die deutsche Kultur und die Nation. Vermehrt wurde er auch als Politiker wahrgenommen. 

Im Zentrum der Ausstellung steht aber auch seine Familie. Denn seine fünf Kinder haben massgeblichen Einfluss auf Mann, drängen ihn zur Stellungnahme gegen den Nationalsozialismus, reisen selbst durchs Land, halten Vorträge und Reden und geben Interviews im Kampf gegen die Nazi-Diktatur. Auch seine Frau Erika und sein Bruder Heinrich sind wichtige Konstanten an seiner Seite. Dass ihnen Raum in der Ausstellung zugestanden wurde, ist berechtigt. Sie vermitteln einen noch wenig bekannten Zugang zum Literaturnobelpreisträger.

Thomas Mann wohnte zuerst in Princeton, New Jersey, dann in Pacific Palisades im Bundesstaat Kalifornien. Für seine Vorträge und Reden unternahm er aber weite Reisen im ganzen Land.

Auch seine drei Werke («Joseph, der Ernäherer», «Doktor Faustus», «Der Erwählte»), die in diesen Jahren entstanden sind, werden eingeordnet. Der Beitrag zu den Romanen hätte aber noch der vertiefter Auskunft bedarft: Die an der Wand aufgeklebten Hauptinformationen dazu gehen kaum über eine Zusammenfassung hinaus, die weiterführenden losen Tafeln sind ein wenig unübersichtlich. Dafür wird seiner monatlichen BBC-Rundfunksendung «Deutsche Hörer!» viel und multimediale Aufmerksamkeit gewidmet. In Amerika fand er die Gedankenfreiheit und das Recht auf Meinungsäusserung, die ihm in Deutschland verwehrt wurden. So konnte er in 55 Radioansprachen das Kriegsgeschehen und die politische Lage in Deutschland aus seiner distanzierten Perspektive kommentieren.

Thomas Mann war gut befreundet mit Albert Einstein, den er in Princeton kennengelernt hatte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnet sich langsam die kommende antikommunistische und von Denunziationen und Verschwörungstheorien geprägte Politik der McCarthy-Ära ab. Mann kehrt 1952 in die Schweiz zurück, nicht zuletzt, weil seine Familie in den Fokus der Untersuchungen des Komitees für unamerikanische Umtriebe kommt.

In einem Brief an Hermann Hesse schrieb Thomas Mann 1945, er wolle für seinen Teil zur «Politisierung des Geistes» beitragen. Die Ausstellung im Strauhof zeigt, dass Mann seine gesellschaftspolitische Verantwortung als Schriftsteller wahrgenommen hat und er keineswegs auf eine ausschliesslich literarische Tätigkeit reduziert werden kann.

Wie ein historischer Roman entsteht

Was braucht es für einen guten Roman? Sprachvirtuosität, aber auch gute Geschichten, meint NZZ-Inlandredaktor und Historiker Marc Tribelhorn auf dem Podium im Kosmos. Zudem müssten diese Geschichten in der Vergangenheit liegen,, wie schon Thomas Mann in «Der Zauberberg» wusste.

Auf dem Podium neben Tribelhorn sitzt Alex Capus, ein begnadeter Geschichtenerzähler. Seine Bücher basieren oft auf historischen Ereignissen, sind aber Romane, beinhalten also stets auch Fiktionen. Auf Einladung der NZZ wird er an diesem Nachmittag über seinen Schaffensprozess plaudern, vor allem darüber, wie aus der Recherche ein historischer Roman entsteht.

Capus teilt die Meinung von Thomas Mann. Sei man zu nah an einer Geschichte dran, tauge der Stoff nichts für einen Roman. Für die literarische Betrachtung sei eine gewisse Distanz zum Geschehen notwendig. Capus schreibt deshalb meistens nicht über die Gegenwart. Trotzdem sei der Gegenstand seiner Betrachtungen immer das Gesellschaftliche: «Wieso lebt der Mensch, wie er lebt?». 

Und das Leben schreibt ja bekanntlich die besten Geschichten. Davon hält Capus allerdings nichts, denn das Leben habe keine Struktur. Ein Roman entstehe durch die Wahrnehmung des Betrachters oder der Betrachterin und welche Daten diese*r selektiert und in seine Geschichten aufnimmt. Erst durch das Weglassen von Fakten ergebe sich eine Struktur. Er nennt das einen Kristallisationsprozess: Das Wesentliche verhärte sich zum Kristall. Das heisst, aus dem akkumulierten Wissen wird die Essenz herausgefiltert, die Fakten konzentrieren sich zu einer Form: dem Roman.

Wann immer er auf kuriose Verläufe im Lebenslauf einer Person stosse, finde er für die Wogen im Leben dieses Menschen und den Wirren der Zeit, die diese*r durchlebte, Platz in einem Roman. Geschichte bestehe aus Kausalitäten, diesen geht Capus nach. Fehlt ein Glied in der Kette, erfinde er dieses dazu. Auf dem Cover seiner Bücher steht stets «Roman», deshalb dürfe er das. Er habe keinen Anspruch, in der Geschichtswissenschaft ernstgenommen zu werden. Er beleuchte Menschenleben, und zwar mit dem Respekt, der jeder und jedem zukomme.

Es sind die Alltäglichkeiten, die ihn interessieren. So recherchiert er auch mal für eine Geschichte, ob der Staubsauger im Ersten Weltkrieg schon erfunden war oder wie ein Dampfschiff gebaut wird. Die Menschen, die ihn zu seinen historisch-fiktiven Romanen inspirieren, finde er stets über Umwege oder per Zufall: über eine Bildunterschrift, einen Vermerk in einem Buch, über Archivmaterial. Dabei spricht er vom Verlieben auf den ersten Blick: Ein Thema müsse ihm sofort gefallen, sonst werde nichts daraus.

Wie viel Fiktion eine Erzählung erträgt, die sich in ihren Grundzügen tatsächlich zugetragen hat und wie viel Zeitgeschichte in einem historischen Roman in ihrer wissenschaftlichen Richtigkeit eingebunden werden soll, bleibt an diesem Nachmittag offen. Auch wie man auf Unstimmigkeiten hinweisen könnte. Wollte man an solche und andere Fragen an Capus richten, wurde man übrigens darauf verwiesen, diese digital einzureichen. Das Moderationsteam wählte dann aus, welche gestellt würden – eine durchaus bedenkenswerte Vorgehensweise.

Eine Stunde für ein Gespräch mit einem Autor ist angenehm kurz, aber auch ein wenig sportlich angesetzt. Die Zeit geht rasant vorüber, vor allem wenn man den Geschichten Capus’ lauscht, der live fast noch besser erzählen kann als auf Papier. Dabei hat man einen Einblick in den Schaffensprozess eines Autors erhalten, aber sich auch ein Bild vom Schriftsteller hinter den Büchern machen können. Dieser ist sich seines Könnens und seiner Stellung in der Schweizer Autor*innenszene durchaus bewusst ist, wirkt dabei aber keineswegs arrogant. Denn: «Ich denke nicht an Flaubert, wenn ich schreibe. Ich bin der Alex aus Olten und gebe mein Bestes», sagt Alex Capus zum Schluss.