Wortmusik

«I read the news today oh boy, about a lucky man who made the grade…», erklingt es vom einsamen Plattenspieler auf der Bühne. Samtig weiche Klarinettenklänge ertönen von Michael Jaeger. Die Worte der Beatles mischen sich mit seiner Musik. Ich sehe mich um. Nur einige wenige haben sich zu dieser späten Stunde noch im «Karl» eingefunden, um der letzten Veranstaltung des Tages zu lauschen. Mir fällt auf, dass ich mit Abstand die jüngste Person im Publikum bin – ob ich auch die einzige im Saal bin, die nicht zur «Plattenspielergeneration» gehört? Meine Ge-Ge-Generation, so heisst auch das neuste Werk von Hugo Ramnek, aus dem er heute für uns lesen will. Darin hat er, wie er sagt, Texte zu bekannten Blues- und Rockscheiben geschrieben. Ausserdem speziell: Jeder, der sein Buch kauft, bekommt nicht nur die Texte, sondern zu jedem Text auch gleich noch einen Link, der auf den entsprechenden Song verweist. Auch im Pack mit dabei, eine Datei, bei dem der/die Leser/-in Ramneks Texte von ihm selbst laut gelesen erleben kann. Sieht so moderne Lyrik aus? Poesie, Musik und Performance in einem unter Einbezug moderner Technologien und Medien – das hört sich schon eher nach meiner Generation an. Ramneks Lesung spiegelt das Verfahren seines Buches gut wider: Text und Musik, Lesung und Performance verschwimmen vollkommen. Mal hüpfen die beiden Männer wie zwei junge Schwermetaller über die Bühne, dann wieder lauschen wir dem stillen Wortlaut von Ramneks Gedichten, untermalt vom Gesang von Jaegers Klarinette (oder ist es umgekehrt?). Ein einzigartiger Klang entsteht, von dem ich nicht mehr sagen kann, ob er Text oder Musik ist. «Sang sie? Sprach sie nicht? Las er? Sang er nicht?», liest Ramnek an einer Stelle. Oder singt er?

Mord & Totebeinli

An diesem Donnerstag Abend steigen wir hinab in die Tiefe, auf die Ebene der Toten. Nach einer kurzen Tramfahrt gehen wir zu Fuss eine vielbefahrene, hell erleuchtete Strasse entlang, bis der Torbogen des Friedhof Forums plötzlich vor uns aufragt. Dahinter erwartet uns eine andere Welt: In dichter Dunkelheit erstreckt sich der Friedhof. Wir entdecken einen Pfad aus Kerzen, der zu einer Treppe führt und steigen hinab in den Untergrund, zu Isabel Morf und ihren mörderischen Begleitern.

Die Zürcher Krimiautorin liest an diesem Abend zwei unveröffentlichte Kurzgeschichten. Die erste, Totebeinli, erzählt von einem ziemlich morbiden Leidmahl, bei dem das Publikum auch nicht leer ausgeht: Passend zum Thema darf es während der Lesung an den kleinen ‹Beinli› des entsprechenden Weihnachtsgebäcks knabbern. Isabel Morfs gutes Gespür für Atmosphäre bemerke ich an an diesem Abend immer wieder: Von der an eine Grabkammer erinnernden Location zu Witzen über den Halszither-Musiker Beat de Roche, der anfangs einfach nicht auftauchen will (natürlich möglich, dass er ermordet wurde) bis zu Morfs Poncho, der selbstverständlich immer zum Lesestoff passen muss (von schwarz passend zur Beerdigung in Kurzgeschichte Nr. 1 zu aschgrau in Nr. 2) ist alles perfekt inszeniert. Die Geschichten selbst sind zwar nicht allzu unheimlich aber dafür urkomisch und voll bissig schwarzem Humor. Vor allem als in Kurzgeschichte Nr. 2 plötzlich ein rachsüchtiges Aschehäufchen Vergeltungspläne gegen seine Mörderin namens Ehefrau ausheckt, gibt es einige Lacher. Das ist umso ironischer, da das Publikum an diesem Abend fast ausschliesslich aus Frauen besteht. Den Grund dafür vermag ich mir nicht wirklich zu erklären – solange an der Sache mit dem Aschehäufchen nicht doch etwas dran ist…

Für uns bei «Zürich liest»:
Marina Zwimpfer

Um zu sehen und zu hören, wie alle wortsüchtigen Autorinnen, Autoren und sonstigen Schreiberlinge die Stille mit ihren Sätzen, Wörtern und Klängen füllen, wagt sich Marina Zwimpfer ans diesjährige Zürich liest.

Als leidenschaftliche Musikerin freut sie sich schon besonders auf die nächtliche Jamsession mit Ramnek & Jaeger. Im Friedhof Forum wird sie den schaurigen Geschichten von Isabel Morf lauschen und anschliessend herausfinden, was es mit Fabrikzäunen, Nachtwächtern und einsamen Inseln in Gianna Molinaris erstem Roman so alles auf sich hat. Es wird gemunkelt, dass sich darin ein Wolf herumtreiben soll… Wer weiss, vielleicht erhascht sie auf dem Heimweg in Zürichs dunklen Gassen ja sogar einen Blick auf ihn?

Marina Zwimpfer studiert Germanistik und Anglistik im Master an der Universität Zürich. Parallel dazu absolviert sie das Precollege mit Hauptfach Oboe am Konservatorium Winterthur.