«Wäschenummer 41». Bodo Kirchhoff im Literaturhaus

Das Leben des deutschen Autors Bodo Kirchhoff ist nicht arm an dramatischen Wendungen. Dass er ausgerechnet für seine im gesamten Oeuvre höchstens im hinteren Mittelfeld angesiedelte Novelle „Widerfahrnis“ den Deutschen Buchpreis gewann, gehört dabei zu den verschmerzbaren Erfahrungen. Schwerer wiegen da schon die frühe Trennung von den Eltern, die traumatischen, teils übergriffigen Erfahrungen im Internat oder das ewige Ringen um die „Versöhnung von Sexualität und Sprache“, die der einstige Lacan-Schüler in seinen immer dicker werdenden Büchern mit so wuchtigen Titeln wie „Verlangen und Melancholie“, „Die Liebe in groben Zügen“ oder eben dem neuen Riesenroman „Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre“ voranzutreiben sucht.

Diesen stellt er an diesem verregneten Samstagabend im fast ausverkauften Literaturhaus vor. Den vielen Verletzungen, um die es gehen wird, steht eine äusserst vitale Performance entgegen. Kirchhoff liest derart im Vollbesitz seiner stimmlichen und theatralen Kräfte, dass das eher gesetzte Publikum einige Momente braucht, um Gelesenes und Leseakt zusammenzubringen. Das Eis brechen schliesslich die geteilten Erinnerungen an „Ernte 23“ oder „Roth-Händle“, an VW Käfer mit geteilter Rückscheibe, den Sehnsuchtsort Italien, vergilbte Jukeboxtitel, Kämme in der Badehose oder damit modellierte Entenschwanzfrisuren im Schwarzwälder Freibad der 1960er Jahre. Da sind die harten Schnitte allerdings längst gelesen; von der unglücklichen Schauspielermutter mit Wiener Wurzeln und dem kriegsversehrten, ökonomisch strauchelnden Vater über den übergriffigen Kantor im  Internat („Wäschenummer 41“) bis zum eigenen Verfallen an die Worte, die zugleich fangen und trennen, konstruiert der „Roman der früheren Jahre“ ein detailstarkes Porträt des Künstlers als allzu jungem Mann.

Die mehrfach zitierte Referenz ist Proust, zu denken wäre im Kontext der letzten Romane aber vor allem an Kirchhoffs Generationsgenossen Hanns Josef Ortheil, der ein ähnlich skrupulös-reflektiertes autofiktionales Projekt verfolgt. Vom frühen Motiv des kontaktlosen, mutter- und grossmutternahen Kindes bis zur späteren Auseinandersetzung mit Lacan liessen sich einige Parallelen finden. Nicht um Parallelen, sondern um Intensität ist es Kirchhoff allerdings an diesem Abend zu tun. Als Fixpunkt erweist sich dabei die ungewollte, aber wohl rettende Trennung von den Eltern, die Kirchhoff und seine Schwester in „Projekte der Vollendung“ als Bannung der erfahrenen Flüchtigkeit getrieben habe: Die Schwester ins Projekt des perfekten, immer noch zu optimierenden Hauses, den Sohn in die Konstruktion des gültigen Romans. Aus der kindlichen Ahnung, Erinnerungen derart konservieren zu müssen, dass sie bis zum „nächsten Treffen an Weihnachten reichen“, ist im Falle Kirchhoffs ein gültiges, in seiner Gänze erst noch zu erschliessendes Werk gewonnen. Wer den ersten Schritt dazu machen mag, ist mit dem – erstmals – alle Facetten von Kirchhoffs Schreiben bündelnden, wunderbaren Freundschaftsroman „Eros und Asche“ von 2007 wohl am besten beraten. Dass Kirchhoffs im Publikumsgespräch noch einmal thematisierte „Kraft“ eine in vielen Kämpfen eher gewonnene denn geschwächte ist, lässt sich hier am ehesten verstehen. Erfahren lässt es sich an diesem Abend aber auch so.

«Das Wohlergehen der Fabrik ist mir egal»

Der Buchpreis-Tross ist wieder auf Tour. Nach der Frankfurter Buchmesse ist an diesem Abend das ausverkaufte Zürcher Literaturhaus an der Reihe. Wie angekündigt lesen mit Gianna Molinari, Julia von Lucadou und Vincenzo Todisco nur drei der fünf fünf Nominierten. Das haben offenbar nicht alle mitbekommen – als das Fernbleiben der grossen Namen Peter Stamm und Heinz Helle verkündet wird, geht ein erstes Seufzen durch die Reihen. Lang genug sollte der Abend dennoch werden.

Den Anfang macht Gianna Molinari, die aus ihrem viel beachteten Debüt „Hier ist noch alles möglich“ eine sehr beschreibungsintensive und entsprechend handlungsarme Sequenz ausgewählt hat. Stilistisch ist das für den Formwillen des Romans zwar repräsentativ, als Auftakt der von zwei Moderatorinnen flankierten Runde jedoch eher zäh: Warum wir uns trotz zahlreicher angespielter Motive von der Wirtschaftskrise bis zum vielleicht nur imaginierten Wolf für die Geschicke ihrer zur Fabrik-Nachtwächterin umsattelnden Bibliothekarin interessieren sollen, lässt sich an diesem Abend nur erahnen. Umso dankbarerer wird kurz darauf Vincenzo Todiscos schwungvoller Vortrag aus dem „Eidechsenkind“ aufgenommen: Trotz des bedrängenden Schicksals eines vor den Nachbarn versteckten, illegalen Gastarbeiterkindes vermag es Todisco in fein nuancierter Lektüre, auch die komischen und widerständigen Seiten seiner Geschichte zum Vorschein zu bringen. Ähnlich engagiert liest auch die zweite Debütantin im Bunde. Die in Deutschland geborene Biel-Absolventin Julia von Lucadou, bisher in Theorie und Praxis im Filmgeschäft verankert, hat den von Kamerametaphorik durchsetzten Prolog ihres Romans „Die Hochhausspringern“ mitgebracht. Dieser erzählt in kühler Hochglanzoptik die invertierte Ikarus-Geschichte der Hochleistungssportlerin Riva, die in nicht allzu ferner Zukunft der Erde entgegenstürzt, um als Göttin im „Flight Suit“ aufzuerstehen: „körpergewordene Euphorie“. Das ist sauber gearbeitet und gut gelesen, wenn auch der Funke zum Publikum erst in der Diskussion überzuspringen scheint, in der sich von Lucadou als politisch schreibende Autorin in der Tradition Margaret Atwoods positioniert.

Die anschliessende Diskussion plätschert eher dahin. Das liegt einerseits an so übergrossen Stichworten wie dem „Urmenschlichen“, dem „Beobachten“ als literarischem Dispositiv oder den „Grenzen“ im Allgemeinen. Darüber kann man entweder endlose oder sehr begrenzte Diskussionen führen, geschenkt. Interessanter wäre es da vielleicht gewesen, die in der Diskussion sehr einhellige Kritik geschlossener Narrative, fortschreitender Kontrolle sowie des Optimierungs- und Wettbewerbsdenkens in den Kontext der Buchpreis-Routinen zu rücken. Das ist viel verlangt, hätte aber vielleicht auch viel gebracht. So aber blieb es bei Vincenzo Todiscos charmantem, aber folgenlosem Fazit, mit dem Schluss sei es „immer so eine Sache.“