Boot, Grotte, Kind

Beim diesjährigen Wettbewerb in Klagenfurt wurde Anna Sterns Text als vage beschrieben, als ambivalent und rätselhaft – dieser Eindruck bestätigt sich auch bei ihrer Lesung in der Winterthurer Coalmine. Das Ambivalente, die Scheu vor der Festlegung ist aber nicht nur Attitüde; es ist das ästhetische Strukturprinzip. In der ersten Geschichte, die Stern dem Publikum heute vorträgt, wird ein Kind, Auslöser eines tragischen Konflikts, nur «le fantome» genannt, im Anschluss verschwindet ein weiteres in den Fluten. Insbesondere das Wasser, das in ihren Texten eine wesentliche Metapher darstellt, spiegelt Sterns distanzierte Erzählhaltung wieder. Für sie, sagt Stern im Anschluss an die Lesung, «symbolisiert das Wasser die Unberechenbarkeit der Natur» – die Ehrfurcht vor dieser Unberechenbarkeit konstituiert auch die Figuren, die Geschichten, die Sprache. Im Eindeutigen ist «kein Raum für Deutung» – den findet Stern nur im Uneindeutigen. Dort setzt ihr Schreiben an, und dort setzt es auch ab. Wie sich das Wasser aus sich heraus von nichts abgrenzt und urplötzlich selbst künstlich gesetzte Grenzen übersteigt, so ist auch in Anna Sterns Texten nichts klar voneinander abgegrenzt. Alles geht ineinander über; Menschen in Orte und Orte in Menschen, die Zeit in den Raum, die Vergangenheit in die Zukunft. Die Sprache ist dabei weder Ufer noch Damm, sondern das Boot, mit dem Anna Stern auf den Wassern ihrer Geschichten ins Ungewisse schippert.

Wer sich in der Literatur mit dem Fassbaren konfrontieren will, wird diese Form der erzählerischen Annäherung und Umkreisung als unentschlossen empfinden – lässt man sich aber auf das Aufbrandende und Abebbende, auf das dauernde Fliessen als Modus Operandi des Erzählens ein, erkennt man, mit welcher formalen Entschlossenheit die Autorin hier der Textur des Ungewissen nachforscht, mit welcher Bestimmtheit sie vom Unbestimmten erzählt.

Ein Eindruck, den man von Anna Stern selbst kaum gewinnt. Fast in sich gesunken, die Hände im Schoss gefaltet, die Beine sanft gekreuzt, sitzt sie auf einem Holzstuhl an einem kleinen Tisch. Hinter ihr leuchtende Deckenlampen, die wie weisse Koffer aussehen. In ihrem Rücken, links und rechts, zwei Türen, darüber grüne Notausgangsschilder. Davor ein eher gesetztes Publikum und, vielleicht noch bedrohlicher, das wandhohe und –lange Bücherregal, der Suhrkamp-Wall des Coalmine. Aber dann fängt sie an zu lesen, die Füsse stehen plötzlich nebeneinander auf dem Boden, und mit einem Mal wirkt sie ganz bei sich, durchaus nicht eingeschüchtert, scheint sich in der eigenen Geschichte wohlzufühlen. Dort geht sie auf, und das Publikum geht mit. Der aufrichtige und anhaltende Applaus nach der Lesung bestätigt: Auch zum Vagen kann man sich frenetisch bekennen.

Fallender Schnee

Eigentlich passiert nicht viel: Raunächte von Urs Faes ist ein Buch, in dem es nur schneit. Mit dem Schnee beginnt es bereits auf der ersten Seite, schon im ersten Satz liegt Schnee.

Damit zieht der Autor in der Buchhandlung Beer uns in seinen Bann. Inspiriert von seinen eigenen vielen Wanderungen durch den Schwarzwald, wandert dort nun der Protagonist, Manfred, durch ein verschneites Tal. Dort hofft er nach vierzig Jahren seinen Bruder Sebastian wiederzusehen. Dort, wo sie sich damals verstritten haben, dort, wo es nicht mehr zu einem klärenden Gespräch mit Minna gekommen ist. Minna, die sich für seinen Bruder entschieden hat, statt für ihn. Der Protagonist wandert. Wandert durchs Tal und durch seine Erinnerungen. Es ist die Zeit der Raunächte. Die Übergangszeit zwischen den Jahren, zwölf Nächte zwischen dem 21. Dezember und dem Dreikönigstag. Wilde Wesen, uralte Bräuche, Gespenster, Stürme, Anderstweltliches durchziehen diese Zeit.

Der Autor liest. Der Protagonist wandert. Er geht durch Schnee, lauscht den Klängen und Tönen der Raunächte und denkt an Minna. «Warum konnte er noch immer nicht ohne Erinnerung an Minna hier sein? Warum war jeder Schritt in diese Landschaft hinein einer auf sie zu, auch jetzt, nach Jahrzehnten?» Und sein Bruder. Würde er kommen? Wird es versöhnende Worte geben? Wie wäre sein Leben geworden, wenn er geblieben wäre? Wenn er mit Minna gesprochen hätte, statt abzureisen?

Die Tür des Buchladens wird geöffnet, der Lärm unterbricht die Worte des Autors, die sich sanft wie Schnee auf uns gelegt hatten. Eine Frau betritt die Buchhandlung. Auch sie wandert durch die Reihen, sucht ihren Platz und findet einen der letzten nicht besetzten Stühle.

Auch ist es eine Frau, Frau Holle, die die Schutzpatronin dieser Nächte ist. Frau Holle, die mit Frea und Perchta in Verbindung gebracht wird. In den Raunächten herrschen die Frauen, erklärt der Autor. Einem Brauch zufolge ist es eine Aufgabe der Männer, während der Raunächte den Schnee von den Bäumen zu schütteln, damit sie von den Frauen einen Holzspan erhalten, der sich dann in Gold verwandeln soll. Eine tatsächliche Überlieferung dessen gäbe es allerdings nicht. Urs Faes schmunzelt. Er liest. Es entsteht ein Bild in dem sich Erinnerungen, Landschaftsbilder und Sagen der Raunächte übereinander legen. Leise, sanft, magisch – wie fallender Schnee eben.

Frankensteins Kreatur, Alexas gruseliges Lachen

Wie werden wir in Zukunft künstlich erschaffenen Wesen begegnen? Müssen wir für künstliche Intelligenz neue Rechte einführen? Was unterscheidet uns Menschen überhaupt von diesen neuen Schöpfungen – und werden sie sich eines Tages gegen uns wenden? Ich muss gestehen, dass ich möglicherweise zu viele Science Fiction-Geschichten gesehen oder gelesen habe. So sinniere ich gerne über diese wichtigen Fragen, welche die Zukunft der Menschheit betreffen.  

Aus diesem Grund verschlägt es mich am Freitagabend zum Strauhof in die Führung durch die Ausstellung „Frankenstein. Von Mary Shelley zum Silicon Valley„. Dort erläutert Rémi Jaccard, Co-Kurator der Ausstellung, zunächst die verschiedenen Räume. Drei Schöpfungsgeschichten werden behandelt: Die Erschaffung von künstlicher Intelligenz, die Entstehung von Mary Shelleys Roman „Frankenstein“ und zu guter Letzt natürlich die Entstehung der namenlosen Kreatur, welche durch Victor Frankenstein zum Leben erweckt wird. Bereits 200 Jahre sind vergangen, seit Shelley, damals noch nicht einmal 20 Jahre alt, die damals neuste wissenschaftliche Forschung mit Grundzügen einer Geistergeschichte verbunden hat. „Frankenstein“ gilt heute als Beginn der Science-Fiction.

Inzwischen sind wir bereits so weit, dass sogenannte Chatbots miteinander kommunizieren können. Oft sind die entstehenden Konversationen so täuschend authentisch, dass man sie für menschliche halten könnte. Wer möchte, kann sich in der Ausstellung auf eine Unterhaltung mit den Chatbots oder mit „Alexa“ einlassen. Jaccard erklärt, dass sich Menschen im Umgang mit künstlicher Intelligenz oftmals aggressiv verhalten und ihr künstliches Gegenüber provozieren oder gar beleidigen. Man wolle schauen, wie weit man bei diesen Systemen gehen kann. Die Teilnehmerinnen der Führung (allesamt weiblich) hören aufmerksam zu, während ich etwas betreten zu Boden blicke. Ich fühle mich ertappt. Die seltenen Fälle, in denen ich mich auf ein Gespräch mit Alexas Kollegin „Siri“ eingelassen habe, sind durchaus nicht positiv verlaufen.

Weisse, geometrisch abstrakte Körperteile aus dem 3D-Drucker ziehen sich wie ein Leitfaden durch die Ausstellung. Die verschiedenen Teile sind zwar vorhanden, aber noch separat verteilt. Jaccard erläutert, dass dies gewissermassen den Stand der künstlichen Intelligenz veranschauliche. In manchen Gebieten ist sie dem Menschen durchaus schon überlegen, in anderen Bereichen gar nicht. Die Meinungen zur künstlichen Intelligenz sind zweigeteilt und muten einmal dystopisch, einmal utopisch an. Helfer oder Feind? Unsere neuen Schöpfungen werden unsere Welt auf jeden Fall unwiderruflich verändern. Die Begegnungen mit künstlicher Intelligenz werden uns auch über die Menschheit an sich nachdenken lassen.

Während wir die Treppe hinauf in den ersten Stock gehen, begleitet uns das unheimliche Lachen Alexas. Ausgelöst durch eine Fehlfunktion, lacht Alexa bisweilen selbständig mitten in der Nacht los. Jaccard erklärt, dass künstliche Intelligenz auch mal unkontrollierbar sein kann, und schlägt so den Bogen wieder zu „Frankenstein“, wo dies sehr deutlich zur Sprache kommt. Die Erzählung um den Wissenschaftler und seine Schöpfung hat nie an Aktualität verloren. Heute stellt sich mehr denn je die Frage, was geschieht, wenn entscheidende Fragen nicht beantwortet werden, bevor das Werk vollendet ist. Was wäre eigentlich passiert, hätte sich Frankenstein auf die Versuche seiner Schöpfung, ihm zu begegnen, eingelassen?

Die Ausstellung verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Durch Text, Bild, Video und Audio können sich die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung ein Bild der drei Schöpfungsgeschichten machen und die künstliche Intelligenz sogar selber testen (aber bitte nicht zu aggressiv). Nachdenklich und mit noch mehr Fragen im Kopf verlasse ich den Strauhof. Ein Besuch in der Ausstellung, welche noch bis zum 13. Januar zu sehen ist, lohnt sich auf jeden Fall.

Von Steaks, Salatköpfen und nassen Stiefeln

Journalistische Texte von heute eignen sich morgen allenfalls noch zum Salatköpfe einzupacken oder nasse Stiefel auszustopfen. Mit dieser harten Ansage eröffnet der «NZZ am Sonntag»-Redaktor Manfred Papst die Veranstaltung Zwischen Facts und Fiction – wenn JournalistInnen Romane schreiben. Als journalistische Literaten oder literarische Journalisten sassen Simone Meier, Christine Brand, Res Strehle und Sacha Batthyany auf der Bühne und diskutierten zur Frage: Warum, wann und wie schreiben Journalisten Romane?

Fest steht: Jeder Mensch sehnt sich nach ein bisschen Ewigkeit. Und die findet bekanntlich zwischen Buchdeckeln statt. Wie kommen jedoch Journalisten zum literarischen Schreiben und wie schaffen sie den Spagat zwischen dem journalistischen Tagesgeschehen und dem literarischen Schaffen?

Eine Antwort könnte sein: Man rutscht da so rein. So ist es Christine Brand gegangen. Sie arbeitete lange bei der NZZ am Sonntag, wo sie darauf spezialisiert war, über Kriminalverbrechen zu schreiben. Aus dieser Erfahrung heraus verfasste sie shliesslich einen Band mit wahren Kriminalgeschichten, bis sie schliesslich den Sprung zum fiktiven Kriminalroman wagte und heute als freie Autorin lebt und schreibt. Sie las aus ihrem aktuellen Buch Stiller Hass. Das nächste ist jedoch bereits fertig geschrieben.

In den literaturbetrieblichen Abläufen sieht sie auch die Nachteile des literarischen gegenüber dem journalistischen Schreiben. Für sie als ungeduldigen Menschen – wie sie von sich selber sagt – dauert insbesondere der Prozess von der Fertigstellung bis zur Veröffentlichung eines Buches viel zu lange. Dafür fühlt man sich beim literarischen Schreiben oft alleine mit sich und seinen Texten, was auf einer Zeitungsredaktion nie der Fall ist.

Dies bestätigt auch Simone Meier, deren zweiter Roman Fleisch 2016 bei «Kein und Aber» erschienen ist. Meier arbeitet zu 80% als Journalistin bei Watson und beschreibt den Journalismus als parasitäres Schreiben, da man sich stets an Geschichten anderer bedient. Literatur hingegen stelle eine grosse Freiheit dar, übe jedoch auch mehr Druck aus, da viel mehr Personen in den Prozess bis zum fertigen Buch involviert sind, und man zudem auch nicht einfach nachträglich noch Fehler korrigieren kann, wie dies im Online-Journalismus der Fall ist. Und doch darf man den Zeitpunkt nicht verpassen, das literarische Werk auch loszulassen, denn man könne ein Steak schliesslich auch zu lange braten.

Für die Schmortechnik beim Schreiben plädiert dafür Res Strehle, dessen Debütroman Salinger taucht ab im Frühjahr dieses Jahres erschienen ist. Den Romananfang dazu hatte er bereits vor 30 Jahren geschrieben. Als Journalist bei der WOZ hält er sich gerne an Facts und behauptet von sich, keinen komplett fiktiven Roman schreiben zu können.

Im Grenzbereich zwischen Facts und Fiction bewegte sich auch Sacha Batthyany mit seinem ersten autobiographischen Roman Und was hat das mit mir zu tun?. Es überrascht nicht, dass für ihn als Journalist bei der NZZ am Sonntag ein Zeitungsartikel (über seine Grosstante, Gräfin Margit Thyssen-Batthyány) der Auslöser für den Griff zur literarischen Feder war.

Ob Facts als Fiction, oder Fiction als Facts: Im Endeffekt geht es doch einfach  ums Schreiben und ums geschriebene Wort. Sowohl im Journalismus, als auch in der Literatur.

«Das Wohlergehen der Fabrik ist mir egal»

Der Buchpreis-Tross ist wieder auf Tour. Nach der Frankfurter Buchmesse ist an diesem Abend das ausverkaufte Zürcher Literaturhaus an der Reihe. Wie angekündigt lesen mit Gianna Molinari, Julia von Lucadou und Vincenzo Todisco nur drei der fünf fünf Nominierten. Das haben offenbar nicht alle mitbekommen – als das Fernbleiben der grossen Namen Peter Stamm und Heinz Helle verkündet wird, geht ein erstes Seufzen durch die Reihen. Lang genug sollte der Abend dennoch werden.

Den Anfang macht Gianna Molinari, die aus ihrem viel beachteten Debüt „Hier ist noch alles möglich“ eine sehr beschreibungsintensive und entsprechend handlungsarme Sequenz ausgewählt hat. Stilistisch ist das für den Formwillen des Romans zwar repräsentativ, als Auftakt der von zwei Moderatorinnen flankierten Runde jedoch eher zäh: Warum wir uns trotz zahlreicher angespielter Motive von der Wirtschaftskrise bis zum vielleicht nur imaginierten Wolf für die Geschicke ihrer zur Fabrik-Nachtwächterin umsattelnden Bibliothekarin interessieren sollen, lässt sich an diesem Abend nur erahnen. Umso dankbarerer wird kurz darauf Vincenzo Todiscos schwungvoller Vortrag aus dem „Eidechsenkind“ aufgenommen: Trotz des bedrängenden Schicksals eines vor den Nachbarn versteckten, illegalen Gastarbeiterkindes vermag es Todisco in fein nuancierter Lektüre, auch die komischen und widerständigen Seiten seiner Geschichte zum Vorschein zu bringen. Ähnlich engagiert liest auch die zweite Debütantin im Bunde. Die in Deutschland geborene Biel-Absolventin Julia von Lucadou, bisher in Theorie und Praxis im Filmgeschäft verankert, hat den von Kamerametaphorik durchsetzten Prolog ihres Romans „Die Hochhausspringern“ mitgebracht. Dieser erzählt in kühler Hochglanzoptik die invertierte Ikarus-Geschichte der Hochleistungssportlerin Riva, die in nicht allzu ferner Zukunft der Erde entgegenstürzt, um als Göttin im „Flight Suit“ aufzuerstehen: „körpergewordene Euphorie“. Das ist sauber gearbeitet und gut gelesen, wenn auch der Funke zum Publikum erst in der Diskussion überzuspringen scheint, in der sich von Lucadou als politisch schreibende Autorin in der Tradition Margaret Atwoods positioniert.

Die anschliessende Diskussion plätschert eher dahin. Das liegt einerseits an so übergrossen Stichworten wie dem „Urmenschlichen“, dem „Beobachten“ als literarischem Dispositiv oder den „Grenzen“ im Allgemeinen. Darüber kann man entweder endlose oder sehr begrenzte Diskussionen führen, geschenkt. Interessanter wäre es da vielleicht gewesen, die in der Diskussion sehr einhellige Kritik geschlossener Narrative, fortschreitender Kontrolle sowie des Optimierungs- und Wettbewerbsdenkens in den Kontext der Buchpreis-Routinen zu rücken. Das ist viel verlangt, hätte aber vielleicht auch viel gebracht. So aber blieb es bei Vincenzo Todiscos charmantem, aber folgenlosem Fazit, mit dem Schluss sei es „immer so eine Sache.“

 

Ein Leuchtturm im Kinderbuchmeer

Es kam mir vor wie damals in der Schule: Wenige Minuten vor Beginn füllte sich der Raum mit den Kindern. Dabei handelte es sich mehrheitlich um Schüler*innen der 6. Klasse aus der Zürcher Schule Chriesiweg. Die Mädchen und Jungen bildeten zusammen mit erwachsenen Kinder- und Jugendliteraturexperten die Fachjury, welche die Shortlist aus einer Auswahl von 40 Büchern zusammenstellte und vor kurzem nun die Gewinnerin des Preises kürte: Kirsten Boie mit Ein Sommer in Sommerby.

Die Bestsellerautorin ist eine Koryphäe in der Kinder- und Jugendbuchszene und hat bereits über 100 Bücher veröffentlicht – und war heute zum ersten Mal überhaupt in Zürich, wie sie vor ihrer Lesung verriet. In ihrem neusten Buch erzählt die Norddeutsche von drei Stadtkindern, die notgedrungen einen Sommer bei ihrer Oma in der Abgelegenheit verbringen müssen. Martha, die Älteste von den dreien, muss schon bald mit Schrecken feststellen: Hier gibt es weder WLAN, noch Internet, geschweige denn Handy- oder Festnetz. Und auch die Grossmutter ist vom Überraschungsbesuch vorerst nicht wirklich angetan. Wie das wohl herauskommen wird?

Vor der eigentlichen Preisverleihung sprach Ulrike Allmann, Vorsteherin der Fachstelle Bibliotheken der Bildungsdirektion Kanton Zürich, zu Klein und Gross im Publikum. Der Zürcher Kinderbuchpreis sei ein Indikator für wertvolle Kinderliteratur und böte Orientierung im dichten Kinderbuchmarkt für Eltern oder Lehrer*innen, die gerne vorlesen würden, aber nicht wissen, was. Somit ist der Preis auch ein Instrument der Leseförderung. Neueste Studien haben nämlich gezeigt, dass das Vorlesen – und zwar idealerweise ab dem dritten Monat bis zur Ende der Primarstufe – positive Auswirkungen auf die Lesekompetenz habe.

Während die Autorin aus ihrem Buch vorlas, dachte ich mir: Eigentlich könnte man die Vorlese-Altersgrenze auch auf 25 Jahre erhöhen.

„Bitte, lies doch noch mal vor!“ – Verleihung Zürcher Kinderbuchpreis, Take 2

Sowohl die Kinder- als auch die Fachjury waren sich dieses Jahr einig: Die deutsche Schriftstellerin Kirsten Boie sollte für ihr Buch Ein Sommer in Sommerby den Zürcher Kinderbuchpreis 2018 bekommen. Und so geschah es am gestrigen Freitag.

Während die Kinder sich mühen zu zuhören, und Ulrike Allmann, Vorsteherin der Fachstelle Bibliotheken, da viel Verständnis für hat, wurde ganz enspannt mit der Preisverleihung im Zentrum Karl der Grosse angefangen. Kinder und Erwachsene waren zusammen da, die Atmosphäre gemütlich und aufgeschlossen.
Allmann weist daraufhin, dass der Preis nicht nur eine Anerkennung für das Schreiben der Schriftstellerin, sondern auch ein wichtiges Instrument der Leseförderung sei. Die Kinder würden heutzutage viel zu wenig vorgelesen. Dazu komme, dass Eltern oft in dem Labyrinth der Bücher nicht mehr wissen, welche Bücher sie für ihre Kinder zu kaufen sollen. Der Zürcher Kinderbuchpreis könne den Eltern deshalb eine wichtige Orientierungshilfe geben.

Nach der Einführung erklärten sowohl die beiden Kinder Thomas & Florina, die Teil der Kinderjury waren, als auch die Fachjury ihre Wahl von Ein Sommer in Sommerby. Boie setze mit diesem Buch einen Gegenpol zu dem schnellen, modernen Leben: Im Buch wird von drei Kindern erzählt, die zu ihrer Großmutter gebracht werden. Die Großmutter lebt auf dem Land, hat kein Internet und sogar kein Telefon. Wie sollten die Kinder damit umgehen? Kirsten Boie las während der Veranstaltung einiges vor und es war fantastisch. Die Zuschauer lächelten und hörten andächtig zu. Dass die Botschaft so verpackt sei, dass sie ankomme, sei einer der wichtigsten Gründe für die Wahl gewesen. Und so hatte Thomas zum Schluss nur noch eins an Boie zu sagen: „Machen Sie weiter so!“

 

Lesen mit allen Sinnen

Dem verheissungsvollen Ruf „Starke Bücher für schwache Augen“ folgend, mache ich mich auf zur Schweizerischen Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte (SBS). Mit meiner Kurzsichtigkeit bin ich zwar nicht ganz direkte Zielgruppe der Bibliothek, zur Führung, die im Rahmen von „Zürich liest“ angeboten wird, werde ich aber trotzdem freundlich begrüsst. Nach und nach trudeln die übrigen Interessierten ein. Ein bunt durchmischtes Grüppchen tummelt sich bald im kleinen Eingangsbereich.

Eine Bibliothek ohne Leser*innen?

Unser Rundgang startet im Herzstück, der Bibliothek. Doch irgendwas fehlt. Die Bücher? Nein, die sind – wenn auch in etwas ungewohnter Form – vorhanden. Was fehlt, sind die in Bücher schmökernden Bibliotheksbesucher*innen. „Die SBS ist eine Versandbibliothek“, klärt Henrike Strehler, die uns begleitet, auf. Die Bücher gelangen per Blindenpost zu den Kunden. Die Kunden, das sind Menschen mit einer Sehbehinderung oder ganz einfach alle, denen der Lesegenuss durch gesundheitliche Einschränkungen verwehrt bleibt. Warum die SBS als Versandbibliothek organisiert ist, wird schnell veranschaulicht. Milena Mosers „Hinter diesen blauen Bergen“ liegt drei Mal vor uns auf dem Tisch. Als Original – ein schmales Buch, das in jede Handtasche passt. Im Grossdruck-Format, für das man wohl eher einen geräumigen Rucksack braucht. Und schliesslich in drei dicken Bänden, voll mit Braille-Schrift bedruckten Seiten, die wohl niemand hin und her schleppen will.

Ich höre, also lese ich

Nach diesem aufschlussreichen Einstieg wandern wir einen Stock höher ins Hörbuch-Studio. Die SDS bietet nämlich nicht nur Bücher und Musiknoten in Braille-Schrift, Grossdruckbücher, Spiele und E-Books an, sondern produziert auch eigene Hörbücher. Sechs Aufnahmeleiter kümmern sich um rund 100 Sprecher*innen, die das geschriebene Wort vertonen. Einige von ihnen können wir live bei ihrer Arbeit beobachten. In kleinen Studios sitzen sie hinter ihren Mikrofonen und lesen fleissig vor. Die kurzen Hörproben, die wir erhaschen, klingen vielversprechend.

Braille für Dummies

Als Abschluss dürfen wir einen Blick in die hausinterne Druckerei werfen. Wir erfahren, wie die Braille-Schrift funktioniert, sehen, wie man eine geografische Karte für Blinde lesbar machen kann und betrachten Beispiele, wie mit passendem Material Blinde und Sehende gemeinsam lesen können. Wir schauen einer Braille-Druckmaschine bei der Arbeit zu und dürfen schliesslich selbst in die Tasten hauen und unseren Namen in der berühmten Punkte-Schrift auf Papier verewigen.

Mit einem Goodie-Bag der SBS ausgerüstet und voll von neuen Eindrücken aus einer mir sonst fernen Welt gehts zurück in die Innenstadt. Zürich wird sicher bis Sonntag und (hoffentlich) noch lange Zeit lesen. Dass man dies nicht nur mit den Augen tun kann, hat der heutige Nachmittag eindrucksvoll bewiesen.