LEBENSLÄNGLICH

Im Publikum ist weder ein Räuspern noch die geringste Bewegung zu bemerken, als Lisbeth Herger im Sozialarchiv von den Schicksalen der beiden ehemaligen Heimkinder Diana Bach (*1948) und Robi Minder (*1949) erzählt. In höchster Stille hören wir ihren Ausführungen zu und sind dabei fassungslose, traurige und zugleich bewundernde Zuhörer.

Diana Bach und Robi Minder verbrachten ihre Kindheit in den 1950er-Jahren im streng religiös geführten Kinderheim Villa Wiesengrund. Dieser Ort, alles andere als Geborgenheit und Wärme spendend, erschwert das Leben der beiden Protagonisten enorm. Ihr Alltag ist geprägt von Angst, Willkür und Gewalt. Posttraumatische Belastungsstörungen begleiten sie bis heute. Fünf Jahrzehnte später treffen die beiden bei Archivrecherchen wieder aufeinander, beginnen miteinander zu schreiben und beschliessen dann gemeinsam, ihre Vergangenheit nach aussen zu tragen. Sie stossen auf die Autorin Lisbeth Herger, die sich beruflich dem biographischen Schreiben widmet, und bitten Sie, ihre Geschichte auf der Grundlage von zahlreichen Akten, Mailverkehr und mündlichen Erzählungen aufzuschreiben.

Es entsteht ein unglaublich ehrliches, berührendes Buch, in dem in einem ersten Teil von der Vergangenheit berichtet wird und in einem zweiten Teil anhand des heutigen Briefwechsels die lebenslänglichen Folgen aufzeigt sowie Fragen nach Wiedergutmachung verhandelt werden. Es ist bewundernswert, wie die beiden Persönlichkeiten den Schritt nach aussen gewagt haben und ein dunkles Kapitel der Schweizer Vergangenheit sichtbar machen. Bei der Lesung sind auch sie anwesend und bieten den Erzählungen mutig das Gesicht.

Rühmenswert ist auch die Herangehensweise der Autorin, die sich durch Berge von Akten gekämpft und umfangreiche Recherche betrieben hat, um ein möglichst treues Bild der beiden abgeben zu können. Dabei berichtet sie sachlich und bleibt nahe bei den Fakten. Trotzdem schafft sie es mit ihrer ruhigen Sprache, die Grausamkeit, den Schmerz und die Melancholie bemerkenswert nachzuzeichnen, ohne dabei beim Lesenden nur Mitleid erzeugen zu wollen. Lisbet Herger hat eine unglaubliche Gabe, sich in die Geschichten der ehemaligen Heimkinder hineinzuversetzen und ihnen mit grossem Respekt Gehör zu verleihen.

Für uns bei Zürich liest:
Anja Schmitter

Anja Schmitter freut sich auf ein thematisch sehr durchmischtes und spannendes Zürich liest.

Am Donnerstag besucht sie das sogar theater, wo Dominic Oppliger seinen Roman Acht schtumpfo züri präsentiert. Anscheinend soll der Spoken Word Künstler sein Werk in einem rasanten Tempo vortragen – Anja Schmitter hält sich fest und ist gespannt zu erfahren, was denn alles 8h von Zürich entfernt ist.

Am Freitag geht’s dann ins Sozialarchiv, wo das neue Buch von Lisbeth Herger vorgestellt wird. Die Autorin bearbeitet darin den Briefwechsel zwischen zwei ehemaligen Heimkindern. Es geht um die Fragen von Trauma, Spätfolgen und Wiedergutmachung.
Danach folgt mit Matto Kämpfs neuestem Buch Tante Leguan ein (vermutlich) etwas lockererer Tagesabschluss: Kämpf präsentiert im Helsinki. Mit Musik.

Am Sonntag besucht Anja Schmitter eine Matinee im Karl der Grosse, welche der Biographie der ersten Schweizer Stewardess gewidmet ist. Anja Schmitter freut sich jetzt schon auf das Flugzeug-Frühstück (laut Homepage soll es, anders als der Name sagt, ein Gourmet-Zmorge sein) und darauf, mehr über den „Engel der Lüfte“ zu erfahren.
Nach einer kurzen Siesta geht’s dann wieder ins sogar theater zu einer weiteren Spoken Word-Veranstaltung. Diese hat die Beziehung zwischen dem Kosovo und der Schweiz zum Thema und ist, dank albanischen Texten, auch ein bisschen der fünften, inoffiziellen Landessprache der Schweiz gewidmet.

Anja Schmitter studiert Germanistik und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich.

Für uns bei «Zürich liest»:
Wanda Seiler

Fürs Schweizer Buchjahr zum ersten Mal bei Zürich liest 2018 mit dabei, ist Wanda Seiler gespannt, was die gegenwärtige Literaturszene zu bieten hat.

Dafür stürzt sie sich am Mittwochabend in eine Begegnung mit Motti Wolkenbruch und erhascht dabei gleichzeitig einen Blick auf die aktuelle Schweizer Filmindustrie. Freitags ist es mit Fiktion vorbei: Mit einem Briefwechsel zwischen zwei ehemaligen Heimkindern widmet sich Wanda Seiler der Frage nach Wiedergutmachung. Im Anschluss verfolgt sie die Biografie der starken Künstlerfrau auf der ehemaligen 50er-Note und rundet ihr Wochenende Sonntags mit einer weiteren pionierhaften Frauenposition ab: der ersten Stewardess der Swissair. Besonders gespannt ist sie auch auf die geschmierten Brote aus der GateGourmet-Küche. Keep you updated!

Wanda Seiler studiert Kunstgeschichte und Germanistik an der Universität Zürich. Nebst dem Studium arbeitet sie als kuratorische Assistenz im Kunsthaus Glarus.