Cabin crew welcomes you on board!

Zwei Damen in blauen Deux-Pièces gleiten durch das Publikum. Sie verteilen Frühstücks-Boxen und Filter-Kaffee. Die Sitzreihen sind eng und die Beinfreiheit eingeschränkt, doch die beiden Damen meistern die Schwierigkeit bravourös, irgendwann hat jeder Gast eine schwarze Schachtel auf den Knien und einen dampfenden Einwegbecher in der Hand.
Neugierig öffnen wir die Box, betrachten das sogenannte Gourmet-Frühstück, und das Flugzeug-Feeling ist perfekt: alles nett arrangiert, drei Brötchen, ein bisschen Käse, ein bisschen Fleisch, Fruchtsalat und ein Müsli-Topf, dessen Zuckergehalt bestimmt dem sonderbaren Geschmackempfinden über den Wolken angepasst ist. Unser Magen macht schon Loopings, doch wenn wir aus dem Fenster schauen, sehen wir nicht die Welt von oben, sondern den Innenhof des Festivalzentrum Karl der Grosse. Wir befinden uns an der Lesung von Pascale Marder zu ihrem neusten Buch «Nelly Diener. Engel der Lüfte».

Die Nelly, erfahren wir dann, die erste Stewardess der Schweiz, sei der ehemaligen Marketing-Mitarbeiterin der Swissair und heutigen Autorin Pascale Marder schon immer durch den Kopf geflogen. Die hübschen Fotos der jungen Dame – mit Serviertablett in der Hand, kokettem Lächeln im Gesicht und vor einem Flugzeug posierend – seien nämlich in den Swissair-Büros überall präsent gewesen. So hat Pascale Marder eines Tages den Entschluss gefasst, mehr über den berühmten Engel der Lüfte herauszufinden und hat nach langen Recherchen Nelly Dieners Biographie verfasst.

Aus dieser liest sie nun vor, während die Besucher sich über ihre Frühstücksboxen hermachen. Leider geht dabei, zumindest für die hinteren Reihen, der Grossteil des Gesagten im plötzlichen Tumult unter, denn die Verpackungen rascheln, die Menschen murmeln («Mmh fein, sogar es Zöpfli»), und die beiden Service-Damen werden immer wieder in die engen Reihen gerufen und nach einem Extra-Rähmli gefragt.

Doch viele Gäste scheint das nicht zu stören, gewisse Turbulenzen gehören beim Fliegen nun mal dazu und wenn man den Kopf etwas reckt, erkennt man immerhin die Bilder auf der Powerpoint-Präsentation. Da sind viele alte Maschinen zu sehen. Pascale Marder, von Haus aus Historikerin, zeichnet einen interessanten Überblick über die Verhältnisse im Flugbetrieb der 1930er Jahren: die Curtis Condor war beispielsweise gar noch aus Holz gezimmert.

Als mit der allgemeinen Sättigung langsam wieder Ruhe einkehrt, können wir endlich wieder besser verstehen, was die Autorin erzählt, doch da ist die Lesung dann  leider auch gleich zu Ende.

Mit vielen neuen Facts zu den Anfängen der Schweizer Flugbranche verlassen wir den Raum und klammern unser kaum gegessenes „Gourmet“-Flugzeug-Frühstück unterm Arm –  irgendein WG-Kollege wird sich daran schon noch köstlich amüsieren.

 

LEBENSLÄNGLICH

Im Publikum ist weder ein Räuspern noch die geringste Bewegung zu bemerken, als Lisbeth Herger im Sozialarchiv von den Schicksalen der beiden ehemaligen Heimkinder Diana Bach (*1948) und Robi Minder (*1949) erzählt. In höchster Stille hören wir ihren Ausführungen zu und sind dabei fassungslose, traurige und zugleich bewundernde Zuhörer.

Diana Bach und Robi Minder verbrachten ihre Kindheit in den 1950er-Jahren im streng religiös geführten Kinderheim Villa Wiesengrund. Dieser Ort, alles andere als Geborgenheit und Wärme spendend, erschwert das Leben der beiden Protagonisten enorm. Ihr Alltag ist geprägt von Angst, Willkür und Gewalt. Posttraumatische Belastungsstörungen begleiten sie bis heute. Fünf Jahrzehnte später treffen die beiden bei Archivrecherchen wieder aufeinander, beginnen miteinander zu schreiben und beschliessen dann gemeinsam, ihre Vergangenheit nach aussen zu tragen. Sie stossen auf die Autorin Lisbeth Herger, die sich beruflich dem biographischen Schreiben widmet, und bitten Sie, ihre Geschichte auf der Grundlage von zahlreichen Akten, Mailverkehr und mündlichen Erzählungen aufzuschreiben.

Es entsteht ein unglaublich ehrliches, berührendes Buch, in dem in einem ersten Teil von der Vergangenheit berichtet wird und in einem zweiten Teil anhand des heutigen Briefwechsels die lebenslänglichen Folgen aufzeigt sowie Fragen nach Wiedergutmachung verhandelt werden. Es ist bewundernswert, wie die beiden Persönlichkeiten den Schritt nach aussen gewagt haben und ein dunkles Kapitel der Schweizer Vergangenheit sichtbar machen. Bei der Lesung sind auch sie anwesend und bieten den Erzählungen mutig das Gesicht.

Rühmenswert ist auch die Herangehensweise der Autorin, die sich durch Berge von Akten gekämpft und umfangreiche Recherche betrieben hat, um ein möglichst treues Bild der beiden abgeben zu können. Dabei berichtet sie sachlich und bleibt nahe bei den Fakten. Trotzdem schafft sie es mit ihrer ruhigen Sprache, die Grausamkeit, den Schmerz und die Melancholie bemerkenswert nachzuzeichnen, ohne dabei beim Lesenden nur Mitleid erzeugen zu wollen. Lisbet Herger hat eine unglaubliche Gabe, sich in die Geschichten der ehemaligen Heimkinder hineinzuversetzen und ihnen mit grossem Respekt Gehör zu verleihen.

WOLKENBRUCH ohne Blitz und Donner

Wolkensbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse wurde verfilmt. Nach dem gefeierten Erfolg des Debütromans von Thomas Meyer 2012 ist dies kaum verwunderlich. So war auch die Vorpremiere im Rahmen von „Zürich liest“ seit Wochen ausgebucht. Für mich gab es leider keinen Platz mehr, weshalb ich nur den zweiten Teil dieser Veranstaltung beurteilen kann. Dieser verlief entgegen meiner Annahme ohne Regisseur Michael Steiner und Hauptdarsteller Joel Basman, wodurch der Fokus nur noch auf das Buch zu liegen kam und der Film ausgeklammert wurde. Somit war es eine klassische Lesung des Autors Thomas Meyers aus seinem Erfolgsroman in der Buchhandlung Orell Füssli.

Nachdem sich Thomas Meyer gleich zu Beginn humorvoll über «schwachen» Applaus beschwerte und sein Buch zuhause vergessen hatte, wusste der Zuhörende, dieser Mann ist erfolgreich, hat schon zahlreiche Lesungen mit Wolkenbruchs wunderliche Reise… hinter sich und muss sich hier mit keiner Faser dem Publikum beweisen.
Zu Recht! Der Autor zeigte, dass er jede Zeile seines Romans inkorporiert hat und ihn dem Publikum spontan mit gekonnt ausgewählten Textstellen näherbringen kann. Anhand der Schlüsselstellen erzählte er vom jüdischen Motti Wolkenbruch, der an den Verkupplungsversuchen seiner „Mame“ mit einem jüdischen „Mejdl“ wenig Interesse zeigt. Stattdessen riecht der 23-jährige Motti die Freiheit und verliebt sich in seine Mitstudentin Laura. Das einzige Problem: als orthodoxer Jude ist jegliche körperliche Beziehung mit einer „Schikse“ (= nichtjüdische Frau) eine Sünde und daher strikt untersagt.

Thomas Meyer liest Mottis Reise mit viel dramaturgischem Gespür in der Stimme und sorgt vor allem mit der Nachahmung der jüdischen Mutter für Gelächter im Publikum. Das Erzähltheater unterbricht er hie und da mit humorvollem Wortspiel und Witz, sodass man sich teilweise beinahe an einer Comedyshow wähnt. Obschon dem Autor vor der Zuhörerschaft pudelwohl scheint, ist die Lesung nach kurzen 40 Minuten schon wieder vorbei. Als vertröstenden Ausblick deutet er auf die Weiterführung des Romans hin: Motti soll jüdischen Weltverschwörern zu Hilfe kommen. Wir sind gespannt.

Zum Abschluss nimmt Thomas Meyer die drei häufigsten ihm gestellten Fragen vorweg und liefert sogleich kurz und bündig die Antworten.

«Bin ich Jude?» – Ja, aber er sei nicht orthodox aufgewachsen.
«Ist der Roman autobiografisch?» – Ursprünglich sei es nicht seine Absicht gewesen und er hätte diese Frage verneint. Nachdem sich aber seine Mutter in der „Mame“ erkannt hat und ihn seine Therapeutin auf autobiografische Züge verwies, sei er sich dem nicht mehr so sicher.
«Wie reagieren orthodoxe Juden darauf?» – Ein richtig orthodoxer Jude gäbe in der Öffentlichkeit niemals zu, dieses Buch gelesen zu haben.

Interesse an weiteren Fragen aus dem Publikum zeigt er nicht. Dafür posiert er am Schluss liebend gerne für Fanfotos –  auch wir konnten nicht widerstehen.

Für uns bei «Zürich liest»:
Wanda Seiler

Fürs Schweizer Buchjahr zum ersten Mal bei Zürich liest 2018 mit dabei, ist Wanda Seiler gespannt, was die gegenwärtige Literaturszene zu bieten hat.

Dafür stürzt sie sich am Mittwochabend in eine Begegnung mit Motti Wolkenbruch und erhascht dabei gleichzeitig einen Blick auf die aktuelle Schweizer Filmindustrie. Freitags ist es mit Fiktion vorbei: Mit einem Briefwechsel zwischen zwei ehemaligen Heimkindern widmet sich Wanda Seiler der Frage nach Wiedergutmachung. Im Anschluss verfolgt sie die Biografie der starken Künstlerfrau auf der ehemaligen 50er-Note und rundet ihr Wochenende Sonntags mit einer weiteren pionierhaften Frauenposition ab: der ersten Stewardess der Swissair. Besonders gespannt ist sie auch auf die geschmierten Brote aus der GateGourmet-Küche. Keep you updated!

Wanda Seiler studiert Kunstgeschichte und Germanistik an der Universität Zürich. Nebst dem Studium arbeitet sie als kuratorische Assistenz im Kunsthaus Glarus.