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Editors at large I/24 

Was war, was kommt? Einmal im Quartal treffen sich Redaktorin Shantala Hummler und die beiden Buchjahr-Herausgeber Philipp Theisohn und Christoph Steier zum Gespräch. Heute über literarische Grossereignisse, Schwerfälliges über Schwergewichte, die Aufmerksamkeiten der aktuellen Kritikerinnengeneration und die Highlights der nächsten Saison.  

Von Redaktion
24. Januar 2024

Shantala Hummler (SH): Beginnen wir mit der Rückschau. Mit dem Schweizer Buchpreis, Zürich liest und der Poetikvorlesung im Zürcher Literaturhaus gab es gleich drei bedeutende Anlässe, um den Zustand der Schweizer Literatur live und in Farbe zu prüfen. Philipp, du warst in diesem Herbst an der Poetikvorlesung von Peter Stamm. Drei Abende, ein Thema?  

Philipp Theisohn (PT): Nun ja, zweierlei war’s schon. Zum einen liess sich deutlich das Projekt ausmachen, die Autofiktionsschraube – er lehnt den Begriff «Autofiktion» allerdings ab, was ich ganz erfrischend finde – nach dem Buch zum Film zum Buch noch einmal eine Windung höher zu drehen. Dementsprechend wurde der Komplex von In einer dunkelblauen Stunde und Wechselspiel dort wieder- und weitererzählt.  

Christoph Steier (CS): Und zweitens?  

PT: Zum anderen wartete Stamm mit einer poetologischen Grundthese auf, die für diejenigen, die mit Stamms Arbeiten vertraut sind und auch die Kontroverse um seine Zürcher Rede von 2015 verfolgt haben, nicht sehr überraschend kommt, aber zweifellos diskussionswürdig ist. Er sieht sich als Vertreter einer Poetik des absichtslosen «Findens», was impliziert, dass die Welt eben Plot und Symbolik bietet, man müsse sie eben nur richtig zu protokollieren verstehen. Demgegenüber steht dann eine «Poetik des Machens», da fiel dann auch wieder mal das Stichwort «Literaturinstitut»; Silvio Huonder hatte 2019 bereits ähnliche Gedanken diesbezüglich geäussert. Vielleicht kann man das in diesem Jahr nochmals vertiefen, die Poetikvorlesungen erscheinen ja auch im Druck und heissen dann «Eine Fantasie der Zeit». 

CS: Das sollten wir auf jeden Fall im Auge behalten. Zumal es mit den Bamberger Vorlesungen von 2014 ja bereits eine Folie gibt, an der sich mögliche Entwicklungen ablesen lassen. In dem Kontext aber die Frage: Gehen wir in der Schweiz zu nachlässig mit unseren «Grossen» um? Spielt da ein Ressentiment gegen Autor:innen als Marken, als festgelegte Rollenträger:innen hinein? Gibt man sich deshalb oft mit dem flüchtigen Blick auf die Saisonware zufrieden? Ich zumindest finde es häufig schwierig, in ein substantielles Gespräch über Leute wie Bärfuss, Leutenegger oder auch Mariella Mehr zu kommen.  

PT: Kann man, wie ich finde, doch sehr wohl. Die Schwierigkeit besteht bei den grossen Autorschaften halt da drin, dass man da über Werkpoetik sprechen, dementsprechend Gesamtkorpus und Entwicklung im Blick haben muss. Bei den genannten Drei – die jeweils komplett andere literarische Ansätze verfolgen – wäre das durchaus gewinnbringend zu leisten, auch und gerade mit helvetischer Sachlichkeit, die die Überhöhung von Autorpersönlichkeiten meidet und Literatur eher taxonomisch betrachtet.  

SH: Was wäre die Alternative?  

PT: Man müsste das Gespräch über Werkpoetik tatsächlich wieder mehr in die Öffentlichkeit bringen, dann würde auch die themen-, identitäts- und plotzentrierte Literaturberichterstattung, die letztlich belanglos ist, endlich wieder etwas in den Hintergrund treten. Meistens versucht man sich ja an solchen Grossinvestigationen nur noch in Form von Nachrufen – aber selbst die Nachrufe auf Ruth Schweikert im vergangenen Jahr blieben hier erstaunlich blass. Da sollten wir in diesem Jahr noch etwas Substanzielles nachreichen, denke ich.  

SH: Ein anderer Ort, an dem durchaus das Gesamtwerk im Fokus steht, ist für mich der Schweizer Buchpreis. Da gehört es ja gewissermassen zur Tradition, Autor*innen pars pro toto für ihr Gesamtwerk auszuzeichnen. Also wie 2012 Peter von Matt oder 2018 Peter Stamm. Mit Einschränkungen war dies 2009 bei Ilma Rakusa auch schon der Fall. Was mich je länger, je mehr irritiert ist, dass dem Buchpreis die Programmatik fehlt. Dient der Preis als ein Verkaufsbooster für den Buchhandel? Ist er ein Förderungsinstrument für Nachwuchsliterat*innen? Die Auszeichnung eines Oeuvres? Ein moral-politisches Statement? Der Schweizer Buchpreis – jedes Jahr ein anderer Preis? 

CS: Sehe ich ähnlich. Ist natürlich schade für ein hervorragendes Buch wie Sarah Elena Müllers Bild ohne Mädchen, aber die Zeit dieser Autorin wird noch kommen. Aber immerhin, wenn Hallers autofiktionales Lebenswerk damit endlich die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient, geht dieser Preis für mich in Ordnung. Was in gleichem Masse für Matthias Zschokke gegolten hätte. Zwei Autoren, die ausgerechnet mit einem Nebenwerk ins Blitzlicht geschickt werden, da bleibt bei aller Freude über die späte Anerkennung ein fader Nebengeschmack. Zu prüfen wäre, ob dem Schweizer Buchpreis die breitenwirksamen Autor:innen mit ästhetischem Anspruch ausgehen? Dorothee Elmiger und Dana Grigorcea wären noch im Rennen, Julia Weber, Judith Keller und Gianna Molinari werden sicher auch noch nachlegen.

PT: Es ist notabene ein Preis des Buchhandels und dementsprechend ist immer ein gewisses Risiko da, dass das Argument der Verkäuflichkeit das Argument der literarästhetischen Güte schlägt. Diesen Streit gibt es in jeder und um jede Jury, die solche Preise verleiht. Beim Deutschen Buchpreis kommt die Debatte ja auch regelmässig wieder.  

CS: Woran liegt’s? 

PT: Der Schweizer Buchpreis – und ich sage das mit aller Vorsicht – hat halt das Problem, dass der Produzentenmarkt, der für ihn in Frage kommt, nicht allzu gross ist. Dementsprechend kann man den Eindruck gewinnen, dass das Szenario, dass seine Erfinder damals im Blick hatten – ein jährliches Monsters of Rock der Deutschschweizer Literatur mit mindestens zwei typenhaft konträren Topshots, um die dann wochenlang gestritten wird –, längst einer Routine gewichen ist, bei der es dann eine sehr kleine Gruppe an Verdienten und Noch-Unausgezeichneten gibt, die den Preis auch tragen können. Und dann eine etwas grössere Gruppe mit einem oder zwei Büchern, für die eine Nominierung auf der Shortlist dann etwas Renommee und Sichtbarkeit bringt, was so ein bisschen Geschmack von Stipendium hat. Und dann fällt die Verteilung meist erwartungsgemäss aus. 

SH: Martina Clavadetscher oder Anna Stern fallen aus diesem Raster aber raus, oder?  

PT: Ausnahmen wie Anna Stern 2020 bestätigen die Regel. Vielleicht muss man die Erwartungshaltung da auch einfach mal senken, die Schweiz funktioniert diesbezüglich effektiv anders. Die Schweizer Literaturpreise entsprechen unserer Rezeptionsmentalität meines Erachtens viel mehr. Das ist dann zwar nicht sonderlich spektakulär, aber dafür solidarisch. Um aber einen Satz noch zu Christian Haller zu sagen: Völlig verdienter Träger des Schweizer Buchpreises, er hat ja vergangenes Jahr sogar zwei starke – und doch schmale – Bücher vorgelegt, die man auch gut miteinander lesen kann. Haller ist ein selten wacher Geist, stets offen für Neues, geht immer noch auf Expedition – und hat wirklich einen prägnanten und wiedererkennbaren Stil.  

CS: Apropos wiedererkennbarer Stil, wie sieht es denn auf der Seite unserer Kritiker:innen aus? Zum Prinzip des Buchjahrs gehört es ja, möglichst viele Stimmen möglichst unvoreingenommen zu Wort kommen zu lassen. Was interessiert den aktuellen Jahrgang unserer Kritiker:innen, was fällt unter den Tisch?  

SH: Mir fällt auf, dass die Studierenden sich vor allem für Literatur interessieren, die gesellschaftspolitische Fragen aufgreifen. Bücher wie die Debüts «Für Seka» von Mina Hava und Ralph Tharayils «Nimm die Alpen weg» oder auch Anna Ospelts «Frühe Pflanzung» hätten wir gleich mehrfach rezensieren können, so gross war die Nachfrage. Ohne jetzt den literarischen Wert dieser Texte oder auch die Relevanz identitätspolitischer und post-migrantischer Themen in Frage stellen zu wollen, ist es doch nicht einfach selbsterklärend, was hier passiert.  

PT: Dann musst du es uns erklären. 

SH: Es scheint eine Tendenz zu geben, dass die Studierenden sich offenbar am ehesten zutrauen Bücher kritisch zu bewerten, die reflektieren, was sie aktuell beschäftigt oder aber medial an sie herangetragen wird. Jetzt kann man sich aber fragen, was das mit einer Literaturkritik macht, ob das ihre Auswahl- und Bewertungskriterien sein sollen, welche Sujets, aber auch ganze Gattungen und andere Zugänge ausschliesst. Oder noch drastischer: Ob in diesem Engagement nicht möglicherweise eine Scheu davor zum Ausdruck kommt, sich mit etwas auseinanderzusetzen, was gerade keine Konjunktur für sich behauptet oder ausserhalb der eigenen Alltagswelt liegt, also nochmal eine andere, vielleicht radikalere Fremdheit hat. Respektive könnte man hier ja schon auch eine Spiegelung oder Fortsetzung von moralisch-politischen Ansprüchen – Stichwort «Populärer Realismus» – sehen, die gesellschaftlich an die Literatur herangetragen werden. 

PT: Verstehe. Mit Blick auf den internationalen Markt ist das Ganze natürlich nicht ganz unproblematisch. Gab ja gerade vor ein paar Wochen in der «Süddeutschen» ein ganz interessantes Gespräch mit Thomas Meaney, der diese Fixierung als einen deutschen Anachronismus ausgemacht hat, der dafür sorgt, dass man die deutsche Literatur – im Vergleich etwa zur skandinavischen – international kaum noch wahrnimmt. Und ich fürchte auch manchmal, dass die Schweizer Literatur, die in mancher Hinsicht ja wesentlich avantgardistischer ist als die bundesdeutsche, in diesem Punkt sich noch im Nachholbedarf wähnt. Kann man natürlich machen, aber ist halt so, als würde man immer noch auf ein neues «Caught In The Act»-Album warten. Ich würde mir wünschen, dass wir stattdessen mal wieder einen stärkeren Fokus auf die Schweizer Lyrik legen. Können wir das mal machen? Ralph Dutli, zu dem eh mal langsam mehr zu sagen wäre, wird einen neuen Gedichtband im Februar bei Wallstein veröffentlichen. Das würde ich mir gerne anschauen. Im Übrigen, wenn wir schon bei Lyrik sind und gleich wieder nicht damit: Ich bin auch sehr gespannt auf Levin Westermanns ersten Roman Zugunruhe, der für März angekündigt ist. 

CS: Was kommt noch? Auf Carlo Leone Spillers Debütroman In Wahrheit war es schön bin ich gespannt. Nicht nur, weil Carlo Buchjahr-Alumnus ist, sondern weil mich der erste Leseeindruck durchaus freundlich befremdet zurückgelassen hat. Irgendwo zwischen Leif Randts Konzept des «post-pragmatic joy», dem ganz frühen Christian Kracht oder auch Matthias Zschokkes Max erzählt da ein betont argloser, aber zweifelsfrei doppelbödiger Erzähler vom Aufwachsen in einem Zürcher Niederdorf, das es in der geschilderten behüteten Kreativprosperität so heute ziemlich sicher nicht mehr gibt. Ganz wertungsfrei sehe ich da eine KI-Ästhetik am Werk, die alle Signifikanten recht unbekümmert auf eine Ebene zieht, was dann wiederum einen merkwürdig oberflächenspannungsfreien, aber nicht reizlosen Diskurs kreiert. A discuter! 

SH: Ich bin sehr gespannt auf den Erzählband von Fleur Jaeggy, Ich bin der Bruder von XX, der dieses Jahr in deutscher Übersetzung erscheint und den Auftakt zur Gesamtwerkausgabe bei Suhrkamp macht. Erschienen ist er vor zehn Jahren auf Italienisch, wurde mit dem Premio letterario internazionale Giuseppe Tomasi di Lampedusa ausgezeichnet und verspricht alles, was man sich von dieser gestandenen Virtuosin erhofft: surrealistische Miniaturen mit Schweizer Kulisse, die stets auf das existenziell Abgründige hin spielen und die mit nüchtern-analytischem Blick die Alltäglichkeit von Gewalt sezieren.  

PT: Das wäre ja sicher ein Fall für eine werkpoetische Analyse. Zeichnet sich da schon etwas ab? Ich bitte darum. 

SH: Was Jaeggys Schreiben, das programmatisch zwischen Leben und Literatur trennt, bisher eher fremd war – das ungefiltert Autobiographische –, hat mit diesem Band nun offenbar Eingang gefunden in ihr Erzählen. Eine Alterswerkserscheinung? Jedenfalls bemerkenswert. Ansonsten wurde der zweite Roman von Michelle Steinbeck angekündigt, Favorita, auf den wir gespannt sein können, der scheint mit einer originellen Mischung aus Goethes Italienreise und Virginie Despentes’ feministischem Revenge-Roadtrip Baise-moi aufzuwarten. Macht auf jeden Fall neugierig!