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«Kunst ist eine Vertikale»

Am Mittwoch dieser Woche erscheint Dana Grigorceas neuer Roman «Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen». Im Buchjahr-Gespräch mit Philipp Theisohn sprach die Autorin über ihr jüngstes Werk, über das rettende Potenzial der Kunst – und über das Faszinosum des Stummfilms.

Von Redaktion Buchjahr
26. Februar 2024

Um gleich zur Sache zu kommen: Es gibt eine Stelle in diesem Roman, an der die Rahmenerzählerin, die Schriftstellerin Dora, darüber sinniert, aus welchem Grund sie eigentlich schreibt, was der Zweck ihres Tuns ist. Sie gelangt zur Überlegung: «Denn warum noch Kunst, wenn nicht, um darin das Böse untergehen zu lassen?» Nun ist das Böse in Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen doch auffällig unsichtbar. In welchem Verhältnis steht denn der neue Roman zu seinem zweifelsfrei infernalen Vorgänger Die nicht sterben?

Ich möchte mich mit jedem Buch neu erfinden. Schon als ich Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen (2018) begonnen habe, hatte ich Angst, mich dem Einfluss des Vorgängers [Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit, Red.] nicht entziehen zu können, mich zu wiederholen und zur Karikatur meines Erfolgs zu werden. Ich habe dem getrotzt, man kann mich als Autorin über diesen Text nicht zwingend identifizieren, meine Biographie erschliesst da nichts. Nun gibt es aber dennoch zweifelsfrei Kontinuitäten in meinem Werk, und, um auf die Frage zu antworten: In Die nicht sterben ging es um die Frage, wie man die konzentrische Ausbreitung des Bösen eindämmen kann, wie man diesen schweren Stein, einmal ins Wasser geworfen, wieder heben kann. Der Roman hatte seine Antwort darauf: Es ist die Kunst, die den Stein heben kann, es ist die Kunst, die die Hauptfigur – eine Malerin – rettet, sie in der Dunkelheit nach dem Licht suchen lässt. In Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen wird diese Frage nun weitergeführt und neu gestellt: Was macht die Kunst mit uns, wozu befähigt sie uns? Macht sie uns zu «sozialeren» Wesen?

Was soll das bedeuten, «sozialere Wesen»?

Sagen wir es so: Die Antwort auf jene Frage nach dem Untergang des Bösen in der Kunst ist eine andere Frage, die ebenfalls von Dora formuliert wird: «Inwiefern speist sich die Kunst aus dem Leben – und was gibt die Kunst dem Leben zurück?»

Das wird jetzt hier aber kein Gespräch über Autofiktion, oder?

Nein, es geht hier ja um ein ganz konkretes Problem. Dora hat ein Schreibstipendium in Ligurien, sie hat aber auch einen Sohn, der mitfahren muss und für den sie eigens ein Kindermädchen engagiert. Zum Schreiben kommt sie trotzdem vor lauter Familie kaum, ständig sucht sie nach den Leerstellen im Tagesablauf, in denen es möglich wäre. Im Gegensatz zu der von ihr bewunderten Künstlerfigur Constantin Avis, dem Protagonisten ihres Romans, führt sie kein Leben in der Bohème. Sie ist tatsächlich ein Mensch unserer Zeit, der nach dem direkten Nutzen der Kunst fragt – und den auch der Gedanke umtreibt, dass das eigene Leben, das «gute Leben» im Zweifel durch die Kunst zerstört wird. Daran anschließend: Schärft die Kunst meinen Blick für das Gute und Schöne? Befähigt sie mich, besser zu leben?

Stellt sich die Frage nicht der Figur Constantin Avis auch?

Ja, und sie findet eine eigene, ihr angemessene Antwort. Constantin, in dem übrigens der grosse Bildhauer Constantin Brâncuși wieder aufscheint, muss lange mit einem Stein leben, um zu erhorchen, was aus der Materie befreit werden muss.

Damit tritt die Figur gleichwohl der amerikanischen Moderne, der Unterhaltungsindustrie der 1920er und 1930er Jahre gegenüber, die von ihm verlangt, keine Figuren aus dem Onyxgestein zu befreien, sondern umgekehrt für einen Filmdreh eine Figur im Pappemaché zu «versteinern», Pseudoskulpturen zu schaffen.

Das ist der Konflikt des Künstlerdaseins: Formbewusstsein gegen Marktbewusstsein, Prinzipientreue gegen Aufmerksamkeitsökonomie.

Zur Autorin

Dana Grigorcea, geboren 1979 in Bukarest, studierte Deutsche und Niederländische Philologie in Bukarest und Brüssel. Mit einem Auszug aus dem Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» wurde Dana Grigorcea in Klagenfurt beim Ingeborg Bachmann-­Wettbewerb 2015 mit dem 3sat-­Preis ausgezeichnet. Für ihren 2021 erschienenen Roman «Die nicht sterben» war Grigorcea für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde mit einem der Schweizer Literaturpreise ausgezeichnet.
Foto: © Lea Meienberg.

Und, wenn ich den Text richtig deute: Auch das Letztere hat ein Leben, aus dem Kunst gemacht wird. Die Pappemachéskulptur besteht unter ihrer Haut ja aus den Werbeanzeigen alter Zeitungen.

In der Tat, auch das ist Leben für die Kunst – und das ist nicht einmal abwertend zu verstehen. Man muss ja den Romankontext sehen: Die Skulptur wird filmisch inszeniert, sie versteinert die weibliche Hauptrolle eines Films, die Schauspielerin Alba Fantoni.

Einen Stummfilmstar.

Genau. Ich bin stummfilmbegeistert seit meiner Zeit als Simultanübersetzerin im Kunstkino in Bukarest, obwohl oder gerade weil es da kaum etwas zum Übersetzen gab. Der Stummfilm erinnert uns an eine Zeit, in der man die Gesichter neu entdeckt hat, die Nahaufnahme kultiviert hat, die Mimik so ungeheuer wichtig wurde, dass die Menschen beim Verlassen des Kinos die Mimik zitieren konnten. Das gibt es heute nicht mehr.

Alba Fantoni – das «weisse Phantom» – ist also die Königin eines im Sterben begriffenen Reiches, deren Statue aus einem Verfallsprodukt des frühen 20. Jahrhunderts verklebt wird.

Sie ist eine Silhouette, eine Schwarzweissfigur: hier Alba, da Onyx. Sie repräsentiert das Flüchtige, das sich entziehende und herangewehte Glück. Namen spielen bei mir ja ohnehin immer eine grosse Rolle. Doras Sohn …

…. heisst sicher nicht zufällig Loris, wie der junge Hofmannsthal …

… genau. Aber auch das Kindermädchen Macedonia, italienisch für «Fruchtsalat», ist eine poetologische Figur. Sie mischt alle Sprachen, irrt mit ihrer Grammatik immer im Nebel herum und kann sich trotzdem scheinbar überall verständigen. Es bleibt ein Mysterium, was sie eigentlich sagen möchte – während die Schriftstellerin, die sie angestellt hat, alle Wörter erst einmal auf ihre Bedeutung abklopfen muss. Macedonia ist natürlich auch eine gewisse Autoprojektion meinerseits, eine Figur mit einer osteuropäischen Geschichte, die aber die Autorin Dora nicht weiter interessiert.

Ist diese Absage programmatisch?

Ja. Herkunft spielt in meinem Roman eine wichtige Rolle, insofern, als sie gar keine Rolle spielt. Sie interessiert nicht, weil Kunst transzendiert, weil sie die Geschlechter, die Orte, die Zeiten transzendiert.

Da würde ich doch ein Fragezeichen setzen wollen. Zeigt nicht gerade das amerikanische Abenteuer des Constantin Avis, der in dieser Hinsicht dann ja auch ein Wiedergänger von Kafkas Karl Rossmann ist, dass der Kunst Grenzen gesetzt sind, dass sie auch Kontinente kennt?

Das ist sicher richtig, immerhin dreht sich der grosse legalistische Konflikt des Romans ja um die Frage, ob Kunst eine Ware ist, die man verzollen muss – oder ob sie eben Kunst ist. Zugleich aber ist das ein Konflikt, der auch Verständigung bedeutet: Der europäische Bildhauer macht dem amerikanischen Staat einen Prozess, den er gewinnt. Die Vogelskulptur ist kein Gebrauchsgegenstand, sondern eben: Gestalt, ein Vogel, der nun, einmal als Kunstwerk anerkannt, die Kontinentalgrenze zollfrei überfliegen darf. Da sind wir dann wieder beim Thema: In meinem Roman trifft man auf Künstler – Constantin und Dora – die sich in ihrem Schaffen nicht durch Herkunft eingrenzen lassen wollen, die die Begabung besitzen, in allem das zutiefst Vertraute zu sehen. Die Spannung zwischen Bekanntem und Unbekanntem verstehen sie als Inspiration. Für Dora, die sich vorstellt, wie es wäre, in Ligurien wirklich zu leben, wirkt diese Spannung literarisch befruchtend, sie spielt mit diesen Grenzen.

Auf einer mediengeschichtlichen Ebene – nochmals das Stichwort «Stummfilm» – wird dann aber ja doch die Bedingtheit dieser ästhetischen Herkunftsbefreiung reflektiert.

Wohl wahr: Alba Fantoni steht ja auch deswegen für den Stummfilm, weil sie ihre Filmkarriere als eine Fremde, eine Italienerin in den Vereinigten Staaten macht. In dem Moment, in dem der Tonfilm Einzug hält, in dem die Stimme, die korrekte Aussprache, überhaupt die Sprachfertigkeit aufgewertet wird, wird Herkunft auf einmal doch wieder ein Kriterium. Dann ist Alba Fantoni von einem Tag auf den anderen keine Künstlerin mehr, sie verliert ihre Kunst.

Also: Sie «verstummt»? Ein schönes Paradoxon.

Ja, wenn man berücksichtigt, dass das, was wir heute mit «Verstummen» in Verbindung bringen, nämlich das Nichtsprechen, eine historische Verformung darstellt. In der Stummfilmzeit ist Sprachlosigkeit ja gerade der Beginn von Kommunikation, das ist eine Zeit, in der filmische Gesten international verstanden wurden. Eine Zeit für die grossen Künstler – auf der Leinwand und davor. Die musikalische Untermalung des Films war ja ebenfalls enorm wichtig, man konnte einen Film mit dieser oder jener Begleitung sehen und nicht selten war die Qualität des Orchesters auch ausschlaggebend für die Entscheidung, einen Film hier oder dort zu sehen. Ein Kinobesuch ist in jener Zeit eine ungeheuer sinnliche, synästhetische Erfahrung, auch: eine einmalige Erfahrung, unwiederholbar, wie im Theater oder in der Oper.

Mit dem Tonfilm fokussiert sich dann alles auf die neuen technischen Möglichkeiten, das artistische Korsett wird enger, die Kabelführungen schränken die Bewegung ein, es muss immer Stille am Set herrschen – und eben: viele gute Schauspieler*innen verlieren ihre Kunst, weil ihre Stimmen nicht für den Tonfilm gemacht sind, oder weil sie eben nicht die Sprache sprechen, die benötigt wird. Erst der Tonfilm bringt die nationalen Exotismen hervor.

Wenn wir schon beim grossen Technikbashing sind: Die Geliebte Constantins, die Fotografin Lidy Maenz, versucht sich in der finalen Gerichtsszene des Romans an einer Kunstdefinition, indem sie den «Künstler» vom «Mechaniker» absetzt. Den Unterschied zwischen den beiden Typen sieht sie darin, dass der «Mechaniker» sich «das Objekt nicht vorstellen kann», an dem er arbeitet. Was heisst das?

In Bezug auf den Bildhauer erklärt es sich im Grunde selbst. Mit Blick auf den mediengeschichtlichen Ort des Romans lässt sich hierüber auch die Zäsur erklären, die mit dem Tonfilm einhergeht. Mit dem Tonfilm stiehlt sich die Mechanik ins Herz der filmischen Überwältigungsästhetik und befreit das Publikum von seiner imaginativen Eigenarbeit, indem es die Wahrnehmung von Wirklichkeit im Kino weiter naturalisiert. Wir verlernen darüber, uns Dinge «vorzustellen» und verlieren dabei einen Teil unserer Freiheit.

Ist die Literatur als abstrakteste aller Künste das Refugium dieser Freiheit?

Literatur bietet die grösste Freiheit, sie ist der grösste Spiegel, den man den Leuten vorsetzen kann. Sie eröffnet die weitesten Interpretationsräume und lässt sich im individuellen Rhythmus einer jeden Leserin aufnehmen. Das Lesen von Literatur bleibt ein hochprivates Erlebnis. Man vergisst das heutzutage und verklärt das immer wieder zu einem Gemeinschaftsereignis, aber es ist im Grunde unteilbar und intim. So intim, dass ich selbst beim Lesen des neuen Romans meines Mannes vergesse, dass er der Autor ist. Das Buch ist mein Buch, weil es mein Spiegel ist. Es ist sehr beglückend, den Autor nicht mitdenken zu müssen. Gerade, wenn es sich dabei um unangenehme Zeitgenossen oder Persönlichkeiten handelt.

Was hat es eigentlich mit dem Titel auf sich? Geht es denn um die Kunst als «Ungewicht»?

Es geht um die Wechselwirkung von Gewicht und Gewichtlosigkeit, das erlösende Gefühl, dass etwas Schweres leicht werden kann. Selbst das Monstrum einer 3000 Jahre alten Falkenskulptur, die am Ende des Romans hereingeschleppt wird, vermag zu schweben, wenn wir sie als Kunst erkennen.

Dass «das Schwere leicht werden kann»: Ist das nicht gerade auch ein Problem der zeitgenössischen Kulturvermittlung, diese Vorstellung, dass Kunst dasjenige ist, was alle Barrieren überwindet, was leichtgängig vermittelbar ist oder zumindest zu sein hat, wenn es in der Öffentlichkeit noch vorkommen soll?

In der Tat leiden wir gegenwärtig unter dieser Versteifung auf Themen und Identitäten, weil das eben leicht zu konsumieren und dementsprechend sendefähig ist. Man schielt nach einem vermeintlichen Publikumsgeschmack, nach Publikumserwartungen. Und vergisst dabei, dass man einen Bildungsauftrag hat. Die Wahrheit ist aber: Kunst ist eben nicht für alle offen. Kultur ist eine Vertikale.

Inwiefern?

Kunst ist ein Aufstreben. Sie ist da für die wenigen, die befähigt sind, sich beflügeln zu lassen. Übertragen auf meinen Roman: Kunst ist für die wenigen da, die die Bereitschaft aufbringen, sich in der Skulptur eines sich hinaufstreckenden Vogels zu spiegeln. Kunst ist eine Suche nach dem Eigenen im Anderen, ohne das Andere sich dabei zu unterwerfen. Wer das nicht versteht und überall nur nach schneller Identifikation oder «Relevanz» sucht, hat keinen Zugang zur echten Kunst.

Muss man diesen Zugang auch gesellschaftspolitisch, um nicht zu sagen: kulturpolitisch schützen?

Alain Claude Sulzer hat mich vor kurzem bei einer gemeinsamen Veranstaltung gefragt, ob ich nicht auch die Sorge hätte, dass die Säle immer leerer werden. Ich versuche, mich von dieser Sorge freizumachen. Als Künstlerin will ich nicht primär um die Gunst des Publikums buhlen. Es geht mir in der Literatur um die Suche nach dem originellen Ausdruck und die kühnen Pläne am Horizont.

Hat man es da nicht auch mit kondensierten Formen moralischer Erwartung gegenüber der Literatur zu tun?

Ich nehme die Tendenz wahr, dass nach dem gezückten Zeigefinger im Buch gesucht wird. So wird Kunst ja auch mittlerweile vermittelt: Was lernen wir daraus? Wozu? Welches Thema, welche Identität ist mit dem Werk verknüpft? Hashtaglektüren. Diese Fragen «was lernen wir daraus?» oder «was will uns die Autorin damit sagen?» sind mir noch sehr vertraut aus meiner Schulzeit im Kommunismus. Das hat mich schon als Kind nicht interessiert. Ich bin da immer egoistisch an Details hängengeblieben, die mir etwas gesagt, in mir etwas ausgelöst haben. Das Rauschen der Eiche, an der der Feind aufgehängt wurde, zum Beispiel. Kunst, die sich um den dünnen, knorrigen Zeigefinger aufbaut, existiert nur für den Moment und verschwindet schnell. Nur die Suche nach dem richtigen Ausdruck, nach der angemessenen Sinnlichkeit kann Werke schaffen, die auch Bestand haben.

Geht es nicht auch um das Recht der Kunst, missverständlich zu sein?

Unbedingt. Räume für die Leser*innen bleiben nur in der Verdichtung. Wer «Klartext» möchte, bleibt aussen vor, für den wird Literatur immer etwas Hermetisches sein. Aber um diesen Gedanken zu fassen, muss man sich Musse gönnen. Literatur braucht Musse. Ich muss nicht alles gleich erfassen wollen, Romane auf ein Ziel hin lesen. Klar wollen wir alle lernen, im Gespräch klug sein, schlagfertig werden. Aber sich mit einem Buch zurückzuziehen, in Gedanken zu schwelgen – das bringt die viel grössere Befriedigung.

Dana Grigorcea: Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen. 223 S. München: Penguin 2024, ca. 32 Franken.

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