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Brüder, zur Sonne!

Die Verleihung des Schweizer Buchpreises am 19. November rückt näher. Zeit und Grund genug für das Buchjahr, sich die Performance der Nominierten einmal genauer anzuschauen. Welche Themen trenden, wo sind die Frauen und die Autofiktion, wer lässt wen alt aussehen, hat das Publikum schon Präferenzen, und vielleicht sogar Recht?

Von Redaktion
2. November 2023

Stell dir vor, es steht nur eine Frau auf der Liste, und die hat keine Zeit. So geschehen bei der traditionellen Freitags-Lesung der Nominierten für den Schweizer Buchpreis im Rahmen von Zürich liest am 27. Oktober. Sarah Elena Müller, verdientermassen nominiert für ihr mediengeschichtlich informiertes Debüt Bild ohne Mädchen, hat es an diesem Freitagabend nicht auf die Bühne des Zürcher Literaturhauses geschafft. So ist der Titel ihres Romans an diesem Abend – fast – Programm. Denn zu den vier Nominierten Christian Haller, Demian Lienhard, Adam Schwarz und Mattias Zschokke gesellt sich immerhin Isabelle Vonlanthen als Moderation, begleitet wie so oft von Martin Zingg. Um das Bühnengeschehen übersichtlich zu halten, hat man sich für zwei Pas de deux entschieden. Wo schon gendermässig nicht viel zu drehen ist, setzt man auf die Kombination von alt und jung. Doch die wird an diesem Abend noch auf eher kuriose Weise ins Wanken geraten. Aber der Reihe nach.

Den Anfang machen Demian Lienhard und Christian Haller. Letzterer, vor allem mit seinen autofiktionalen Grossprojekten und seinem immensen Stilbewusstsein zur stillen Instanz der Schweizer Prosalandschaft gereift, ist in diesem Jahr mit einer für sein weit ausgreifendes, vom langen epischen Atem getragenes Oeuvre eher untypischen Novelle nominiert. Die kleine Heisenberg-Spekulation, flankiert noch vom luziden Licht-Essay Blitzgewitter, trägt den Titel Sich lichtende Nebel und ist jeder Auszeichnung würdig, wenn auch in diesem Fall wohl eher pars pro toto für ein Werk, das auch unabhängig vom aktuellen Wirbel bleiben wird. Neben Hallers geistreichem, hellwachen und fast jugendlichen Esprit erfreut sein Vergnügen am eigenen Vortrag, der in einem unscheinbaren Dialog subtil neue Schichten freispielt. Ein Meister vieler Klassen, der sehr genau weiss, wovon er spricht und auf welche Weise, und dies seinem Publikum auch ganz unangestrengt zu vermitteln versteht.

Mit seinem jungen Kollegen Demian Lienhard teilt Haller nicht nur die Liebe zur Archäologie, sondern auch die Aargauer Herkunft. Die ist dem für seinen Zweitling Mr. Goebbels Jazz Band Nominierten allerdings weniger die Rede wert als seine Berner Vorfahren, die wie sein Protagonist ebenfalls wegen Hochverrats geköpft worden seien. Das wiederum ist Jahrhunderte her, gehört aber wie alle Bernensia wohl zu Lienhards Inszenierung als Meisterschüler Christian Krachts. Heute Abend aber gibt der Schüler eher den Lehrer und sich selbst dabei alle Mühe, die unübersehbaren Parallelen zu Christian Krachts Die Toten durch ein – um in der dargebotenen Diktion zu bleiben – furioses Lesefeuerwerkspektakel zu überspielen. Oxford-Englisch, Berliner Schnauze, Slapstick-Szenen, Lautmalereien und 1940er Jahre-Zeitkolorit gibt es à discretion, das Publikum dankt es nach anfänglichem Staunen zunehmend mit Lachern. Wie spätestens im Gespräch deutlich wird, hat Lienhard sich trotz des schweren Themas der von Goebbels für Propaganda-Zwecke eingespannten, selbst von Verfolgung bedrohten Jazzer ganz bewusst für die heitere Gangart entschieden. Man muss diese Entscheidung, die das Schwankhafte nicht immer umschiffen kann, nicht vorbehaltlos teilen, um die ästhetische Konsequenz und Fabulierfreude dieses Autors beeindruckt zur Kenntnis zu nehmen. Dass seine Performance dort,  wo sie sich ihrer Klaviatur allzu forschfröhlich bediente, etwas Onkelhaftes bekam, das Christian Hallers schlanke Prosa alles andere als alt aussehen liess, gehörte somit zu den feineren Ironien eines Abends, der im Gegensatz zu früheren Jahrgängen um Wechsel der Ton- und Gangart nicht verlegen war. Anerkennung gebührt dabei auch den Moderator:innen, die diese Wechsel routiniert einleiteten oder auch im Rahmen hielten.

Einen solchen Schwenk galt es auch zu vollziehen zwischen Goebbels’ Jazzband und Adam Schwarz’ Zukunftsmusik in Glitsch. Das Kreuzfahrtschiff als dystopischer Nichtort ist seit David Foster Wallace ein sicherer Hafen, der sympathische Bülacher versteht es allerdings durchaus ambitioniert noch einmal auf Reisen zu schicken. Durch die Reflektorfigur seines Jedermanns Léon, der erst Freundin und Kabine und schliesslich hinter den Kulissen der Albtraumfabrik zunehmend die Fassung verliert, hält sich der 2017 mit seinem kontrafaktischen Grossroman Das Fleisch der Welt recht eindrücklich Gestartete in angenehmer Distanz zur wohlfeilen Konsumkritik. Die befürchteten, in Ermangelung eigener Anschauung nur angelesener Satirespitzen in Richtung wehrloser Pappkameraden sucht man im Buch meist vergeblich. Verlässt aber eben auch nirgends die Wohlfühlzone spätmodernen Unbehagens, das selbst recht nicht in die Gänge kommen muss und mag. Klimakrise, Postkolonialismus, Kapitalismus, Verblendungszusammenhang, Massenverblödung, Klassismus, alles fünf vor zwölf, aber das Orchester spielt ja noch und mit dem Fuss zu wippen wird ja noch erlaubt sein. Dass sich Ökokritik und die Anekdote, nur vom ablehnenden Stipendienbescheid des Aargauer Kuratoriums an einer eigenen Recherchekreuzfahrt gehindert worden zu sein, nicht bruchlos aufeinander abbilden lassen, ging Schwarz wohl erst beim Erzählen auf, machte ihn als fabulierfreudigen Sympathieträger ohne linientreue Agenda aber nur authentischer. So geht Schwarz zwar nur mit Aussenseiterchancen ins Rennen, dürfte hier aber nicht seine letzte Rund eim Schweizer Literaturbetrieb gedreht haben.

Nicht auf der letzten, wohl aber wie Christian Haller längst auf der erweiterten Ehrenrunde unterwegs ist Matthias Zschokke. Sein lakonisches, zur nonchalanten Mühelosigkeit perfektioniertes Parlando mag man genug nicht rühmen, und es braucht keinen Büchnerpreis und auch keinen Schweizer Buchpreis und auch keine Zeilen wie diese, um in Zschokke den Robert Walser unserer Tage zu erkennen. Schön wäre es allerdings schon, würde die Ernte noch in absehbaren Zeiten für den lange in Berlin Lebenden eingefahren. Für Ruhm und Nachruhm ist alles gesagt und getan – von Zschokkes Seite aus. Seit über vier Jahrzehnten, genauer seit dem Erscheinen von Max im Jahr 1982, hat Zschokke gerade im Absehen von jeglicher literarischer Mode einige der drängendsten Themen und ihnen korrespondieren Schreibweisen ästhetisch gültig erschlossen: Das reicht von ambivalenter Identität über die Ränder der Form unter den medienökologischen Bedingungen der digitalen Moderne, vom Ethos literarischer Existenz über die Prekarität des Heiteren und vice versa bis hin zur zuletzt in Der graue Peter wieder aufgenommenen Frage nach sozialen Schablonen und individuellem Erleben. Ein grosses, bei aller formalen Geschlossenheit offenes und komplexes Werk, dessen Güte vielleicht davon noch bestätigt wird, dass Zschokke es nicht triumphierend zu repräsentieren vermag und dies auch gar nicht erst versucht. Sind doch die genannten Schlagwörter Abstraktionen, die im Werk in der und aus der textuellen Fläche überhaupt erst entwickelt werden und diese, wie ihr Autor auch, im Grunde nur ungern verlassen. Die Geschichte wird Zschokke ins Recht setzen, sein Werk braucht die genannten Preise nicht, ihrem Autor seien sie von Herzen gegönnt. Wie den drei anderen anwesenden Autoren und der abwesenden Autorin auch; jedes der fünf nominierten Bücher ist geprägt von einer genuin literarischen, nicht verlustfrei in andere Medien und Diskurse übersetzbaren Stimme. So war es war an diesem Abend in Zürich die jugendliche Verve der beiden älteren, ihrer je eigenen Poetologie schon lange und unbeirrbar verpflichteten Autoren, die nicht nur die Jury, sondern auch die jüngeren, auch in diesem Jahr nicht nominierten Kolleginnen und Kollegen darin bestärken dürfte, die Zukunft des literarischen Schreibens nicht ausserhalb desselben zu suchen.

Zum sechzehnten Mal vergibt der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband SBVV zusammen mit LiteraturBasel den Schweizer Buchpreis. Die Preisverleihung findet am 19. Novemberm, um 11 Uhr im Theater Basel statt.

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