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«Wir sollten uns aus den Fesseln des Absoluten befreien.»

Anfang des Jahres erschien Christian Hallers Novelle «Sich lichtende Nebel», in deren Zentrum eine Anekdote des Physikers Werner Heisenberg steht, die die Entdeckung der Unschärferelation erzählerisch begründet. Das Buchjahr traf Christian Haller zu einem Gespräch über die Sprache der Naturwissenschaften und der Philosophie, den Nutzen der Literatur - und über absolute Wahrheit.

Von Redaktion
12. Juli 2023

Christian Haller: Was hat Sie an der Heisenberg-Anekdote derart fasziniert, dass Sie diese zum Ausgangspunkt Ihrer neuesten Novelle gemacht haben?

Was mich beschäftigt hat, ist die Tatsache, dass am Ausgangspunkt einer weltverändernden Entdeckung, eine einfache, alltägliche Beobachtung stehen kann. Da sitzt nun einer, kommt von Diskussionen und Überlegungen über ein bestimmtes physikalisches Problem und will eigentlich nur einen Moment der Ruhe, einen Moment der Kühlung, einen Moment zum Durchatmen und macht dann diese Beobachtung. Etwas berührt ihn, er kann es aber zunächst nicht verorten. Er weiss nur, dass es irgendetwas mit dem Problem zu tun hat, über das er mit seinem Mentor diskutiert hat. Was genau das ist, weiss er noch nicht und das interessiert ihn in diesem Moment auch nicht. Und trotzdem, dieses Gefühl sinkt tiefer und setzt sich als ein Keim im Unbewussten fest, wo es zu wirken beginnt.

Sie haben zuerst Philosophie studiert, bevor sie sich später mit der Zoologie den Naturwissenschaften gewidmet haben. Was hat Sie zu diesem Fachwechsel bewogen?

Ja, ich habe zwei Semester Philosophie in Zürich gehört und gemerkt, dass mir die Sprache und Terminologie fremd bleiben. Dagegen ist die Sprache der Naturwissenschaft knapper und benennt die Sachverhalte möglichst klar und einfach. Sie ist konkret und bemüht sich – wie ich es in meinem Schreiben versuche – den möglichst präzisen Ausdruck zu finden. In der Naturwissenschaft entwirft man eine Hypothese und versucht sie experimentell zu bestätigen. Vergleichsweise ist ein erster Textentwurf für mich ebenfalls eine Art Hypothese, die ich durch Arbeit zu bestätigen suche, in dem ich den Text möglichst nahe an die ursprüngliche Vision heranführe.

Sie sagen, dass die Sprache der Naturwissenschaft eine exakte Sprache ist. Wurde diese Exaktheit aber durch die Heisenbergsche Unschärferelation nicht genau aufgehoben?

Mathematik ist exakt, unsere Sprache ist es nie. Die neuen Erkenntnisse der Physik, zum Teil auch der Biologie, entziehen sich der Sprache. Sie sind mit unserer Sprache nicht mehr «sagbar». Sie können nur noch mathematisch ausgedrückt werden. Und eben das ist das Problem, das mich jedoch fasziniert. Heisenberg hat gesagt, wir müssten alles tun, um unsere Erkenntnisse auch in die Sprache zu bringen. Doch wie bringen wir etwas in die Sprache, das sich ihr entzieht, zumal man die Quantenphysik nicht verstehen kann. John von Neumann hat gesagt: Wenn Sie jemanden treffen, der behauptet, er verstehe die Quantenphysik, dann können Sie sicher sein, dass er keine Ahnung davon hat. Als Heisenberg Niels Bohr fragte, wie man sie denn verstehen könne, antwortete Bohr, indem wir das Verstehen neu verstehen.

Was ist der Nutzen der Literatur?

Die Literatur ist in ihrem Kern nutzlos. Das macht sie gefährlich, weil sie sich nicht vereinnahmen lässt. Sobald sie einen Nutzen erfüllt, ist sie vom Machtapparat absorbierbar. Wenn sie politische Literatur machen, dann ist sie Teil des politischen Diskurses und manipulierbar. Wenn sie religiöse oder ideologische Literatur schreiben, ist diese sofort in ein Feld der Nützlichkeit und der Absichten integriert. Dies führt aus der Sicht der Macht zu einer Verharmlosung, was in ihrem Sinne wünschbar ist. Diktatoren hassen die Literatur gerade deshalb, weil sie nicht verwaltbar ist. Sie steht auf der Seite des Schöpferischen, das sich der Verwaltbarkeit entzieht. Machtsysteme sind starr, abgeschlossen und unschöpferisch. Deshalb gibt es den Übergriff der Macht auf das Schöpferische, ein Versuch sich des Schöpferischen zu bemächtigen. Meiner Ansicht nach müssen wir die Nutzlosigkeit wie einen Goldschatz hüten. Das macht die Literatur gefährlich und immunisiert sie gegen jegliche Art der Vereinnahmung.

Damit steht die Literatur aber entgegengesetzt zu den Naturwissenschaften, die zweckgerichtet sind.

Für die Grundlagenforschung trifft dies nicht zu, die primär der Erkenntnis und keinem verwertbaren Nutzen oder Zweck dient. Doch besteht, vor allem in der westlichen Kultur, die Tendenz, alles einem Sinn und Zweck unterzuordnen. Diese Tendenz betrifft jedes Gebiet, die Philosophie genauso wie die Naturwissenschaft, und wird in unserer Gesellschaft verstärkt durch die Unterordnung von jeglichem und allem unter die Ökonomie. Alles soll einen Nutzen und Zweck haben, vor allem aber rentieren. Trotzdem gibt es auch in der Naturwissenschaft noch Dinge, wie beispielsweise in der Astrophysik die Untersuchung von Neutrinos, die nicht wirklich nützlich sind, deren Erforschung jedoch Milliardenbeträge verschlingen. Sobald ein Ergebnis jedoch vorliegt, kommen die Verwerter. So kann es geschehen, dass am Ende einer Erforschung des Atomkerns Waffensysteme stehen, die einzig zur Zerstörung eingesetzt werden.

Zum Autor

Christian Haller wurde 1943 in Brugg geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler Instituts an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Aus seinem umfangreichen Erzählwerk sticht nicht zuletzt die dreiteilige Autofiktion «Die verborgenen Ufer» (2015), «Das unaufhaltsame Fliessen» (2017) und «Flussabwärts gegen den Strom» (2020) hervor. Jüngst erschienen der Essay «Blitzgewitter» und die Novelle «Sich lichtende Nebel» (beide 2023). Haller lebt als Schriftsteller in Laufenburg.
Foto: © Toni Suter und Tanja Dorendorf

Welche Auswirkungen hat die Entdeckung der Unschärfe auf uns heute?

Alles ist heute sehr relativ. Das gab es früher nicht. Die Dinge waren an feste Werte gebunden, das Geld an den Goldstandard, Verhaltensweisen an die Moral und christliche Ethik. Das ist heute nicht mehr so. Wir bekommen es beispielsweise mit Fake News zu tun und erfahren, dass die Wahrheit nicht mehr genau definierbar ist, wir es viel eher mit Wahrscheinlichkeiten zu tun haben. Der Begriff der absoluten Wahrheit, die etwas postuliert, das unabhängig von unserer Wahrnehmung existiert, war natürlich versichernd, einfach, auch etwas bequem, doch den gibt es nicht mehr.

Entsteht mit dem Übergang vom Absoluten zum Relativen ein Trauma?

Der Verlust absoluter Werte ist für viele Menschen heute verstörend. Deshalb möchten sie zurück in eine Zeit der Fraglosigkeit. Diesem Bedürfnis dienen all die rückgewandten politischen Bewegungen, die ein Weltbild propagieren, das ihrer Ansicht nach heil ist und noch alle die verabschiedeten Werte kennt. Bewegungen, die sich eine Zeit wünschen, in der die Gesellschaft nicht durchmischt ist mit Leuten, die «das Fremde» in unser Land hereintragen. Eine Welt also, die es so nie gegeben hat. Doch noch ein anderer Aspekt befördert die Unsicherheit und Ängstlichkeit. Wir alle spüren, dass Werte verloren gehen, wichtige, auch sehr fein gearbeitete Werte. Ganze Gedankengebäude brechen weg, die auf der Ewigkeit gebaut schienen. Das schafft Unsicherheit. Was kommt anstelle von dem, was verschwindet? Die Antwort kennen einzig die Verführer.

Sollten wir dem Verlust des Absoluten nachtrauern?

Nein, wir sollten uns aus den Fesseln des Absoluten befreien. Ich denke, dass man sich vom Beispiel der Physik inspirieren lassen kann. Es ist ja nicht so, dass das, was ein Newton an Gesetzen herausgefunden hat, durch die Quantenphysik falsch geworden wäre. Sie gelten immer noch, allerdings eingeschränkt und nicht mehr universell. Sie gelten für unsere Menschenwelt, und es ist auch sinnvoll, dass sie für uns gelten. Andererseits aber zeigen uns die Forschungsergebnisse der letzten hundert Jahre, dass ausserhalb unserer eingeschränkten Wahrnehmung ganz andere Gesetze bestehen und auch das, was wir wahrnehmen, keine Tatsächlichkeit im Sinne des 19. Jahrhunderts hat, sondern ein Konstrukt ist, das wir fortwährend weiterentwickeln. Wir sind Dichter unserer Welt und erzählen die Geschichte unserer Lebens, in dem wir es leben, befreit von starren Vorgaben und bestrebt, ein gutes Ende zu finden.

Das Gespräch führte Emir Gicic. / Foto: © T + T Fotografie (Toni Suter + Tanja Dorendorf)

 

Christian Haller: Sich lichtende Nebel. 128 Seiten. München: Luchterhand 2023, ca. 30 Franken.