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Für Seka

Gräber ziehen sich motivisch vom ersten Satz an durch Mina Havas Debütroman «Für Seka». Während des Bosnienkriegs wurden im Jahr 1992 Tausende Bosniaken und Kroaten in einem Gefangenenlager in der Bergarbeiterstadt Omarska festgehalten, gefoltert und ermordet. In Omarska, dem Ort, wo die Grossmutter der Protagonistin Seka lebt, setzt die Geschichte an.

Von Stephanie Caminada
16. Oktober 2023

Sekas Vater ist im Bosnienkrieg in die Schweiz geflüchtet, scheint ihm aber nicht wirklich entkommen zu sein. Die Vergangenheit wirkt sich auf die Familie aus, die er mit Sekas Mutter gründet, der Vater wird gewalttätig. Seka bricht den Kontakt zu ihm ab, doch sie lebt fortan in Angst um die Mutter und den Bruder. Dieser Bruch hinterlässt bei Seka eine bleibende Lücke, die in ihr eine Suche nach der eigenen Herkunft und Identität in Gang setzt. Angetrieben wird sie dabei nicht zuletzt davon, eine Erklärung für die Gewalt des Vaters zu finden, für den sich das Versprechen auf ein besseres Leben in der Schweiz nicht eingelöst hat, «dem der Einfluss auf die Welt entglitt».

Zur Autorin

Mina Hava, geb. 1998, studierte Globalgeschichte und Wissenschaftsforschung an der ETH in Zürich sowie Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. «Für Seka» ist ihr Debütroman.

Diese Suche führt sie nach Omarska, wo heute nichts mehr an die Kriegsgeschehnisse der 90er Jahre erinnert. Sowohl das Gefangenenlager als auch die Verbrechen verschwanden aus Gedächtnis und Geschichte, wie Seka feststellen muss. «Es war, als habe man lediglich nach Aufzeichnungen zu suchen, um zu verstehen, dass die eigene Geschichte über keine Archive verfügte». Das Ausgraben erhält sodann eine doppelte Bedeutung, indem es Zweifaches leistet: das Material auf die mögliche Bedeutung für das eigene Leben «abzuklopfen» und es gleichzeitig «auf mögliche oder erfundene Verbindungen zu befragen». Seka wird so selbst zur Archivarin und trägt Dokumente zusammen, etwa im Schweizerischen Bundesarchiv oder in einer Hütte vor imposantem Bergpanorama im Berner Oberland, der Kulisse, die vor vierzig Jahren die Saisoniers sahen.

Typographisch abgesetzt versammelt der Roman Einträge und Schnipsel aus dutzenden Dateien, Dokumenten, Briefen, Sprachaufnahmen von Sekas Grossmutter, Beschreibungen von Fotografien aus dem Fotoalbum der Mutter und Videoausschnitten, wobei der fragmentarische Bau dem Text den skizzenartigen Charakter eines Notizbuches verleiht. Diese Anordnung gibt einen eigenen Lesetakt vor, der von einer nüchternen Distanz im Erzählton getragen wird. Eine kausale Kette kann das Erzählte in dieser Form gewiss nicht bilden, vielmehr hat man eine systematische Auslegung unzähliger sorgfältig recherchierter und ineinander verwobener Quellen und Informationen vorliegen. Während die programmatische Unübersichtlichkeit bisweilen ins Ziellose abzudriften droht, unterstreicht sie gleichzeitig die fundamentale Unmöglichkeit einer historischen Übersicht. So treten Verbindungslinien manchmal deutlicher, manchmal weniger klar hervor und bleiben mitunter auch nach wiederholtem Lesen verborgen. Einzelne Unklarheiten sind aber vernachlässigbar, verdichtet sich doch nach und nach das Bild zu einem grösseren Ganzen, das strukturelle Parallelen zwischen den jugoslawischen Gastarbeitern in der Schweiz und Fluchtbewegungen andernorts, etwa den japanischen Arbeiterinnen auf Hawaii, herzustellen vermag. Es zeigt die raumzeitliche Kontinuität der Migrationsbewegungen, des Erbes der Kolonialzeit, der Fremdbestimmung durch nationale und hegemoniale Bestrebungen, der Ausbeutung von Menschen und der Natur, in Omarska, Lateinamerika, Afrika bis in die Schweiz.

Zusammengehalten werden diese scheinbar lose aneinandergereihten Ereignisse allein von dem Bestreben, einen Bezug zu schaffen. Historische Recherchen und Rückblenden in die familiäre Vergangenheit werden dabei immer wieder von Einblendungen ganz persönlicher Erlebnisse wie Liebschaften, der ersten Monatsblutung oder der Untersuchung von Knoten in Sekas Brust durchbrochen, «als schiebe sich der Körper bei den Forschungen immer irgendwo dazwischen». Der Roman kann deshalb auch als ein Versuch der Befreiung des weiblichen Körpers gelesen werden, der durch gesellschaftliche Fremdeinflüsse reguliert und kontrolliert wird. Das Schwimmen ist dabei ein weiteres Leitmotiv und zieht sich als emanzipatorische Metapher durch den Text. Durch die Schwimmbewegungen des Körpers wird zudem ein neuer Raum erzeugt, angefüllt von Handlungsabfolgen, die schliesslich eingebunden sind in ein Element, das beweglich und flüssig ist und sich dergestalt jeglicher Festsetzung entzieht. Gewässer, das Meer in Bosnien, der See in der Schweiz, sind im Roman deshalb auch Orte der Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis, ein Handlungsraum, indem sich ihr Körper bewegt, durch den sie die Welt erfährt.

Die unzähligen literarischen Referenzen, wie etwa zu Anne Carson oder die Songzeilen von bosnischen Musikerinnen, heben ausserdem die Bedeutung eines literarischen Kanons sowie der Geschichtsschreibung hervor, in die sich «Für Seka» einzureihen sucht. Wie der Name «Seka» – zu Deutsch «Schwester» – andeutet, ist der Roman wohl nicht zuletzt auch der Versuch, eine Verschwisterung mit anderen Frauengeschichten und ihren Erzählerinnen zu erwirken. Dabei wird explizit gemacht, dass Geschichte(n) immer wörtliche Texturen, sprich Fabrikate sind: «Nichts war natürlich. Nichts den Dingen immanent. Jede Bedeutung hergestellt.» Als Archiv eines Ich ist «Für Seka» ein gelungener literarische Versuch, ohne Anspruch auf Deutungshoheit Geschehenes und Verdrängtes aus dem Vergessen zu heben und in die Gegenwart einzulassen.

Mina Hava: Für Seka. 278 Seiten. Berlin: Suhrkamp 2023, ca. 32 Franken.

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