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Beispiel eines Verrats

Valentina Mira hat «X» geschrieben, nicht weil sie wollte, sondern weil sie es musste. Ein Text, der das Tabu «Vergewaltigung» ausspricht und es sowohl affektpoetisch wie gesellschaftspolitisch aufarbeitet.

Von Silvan Preisig
29. Dezember 2023

Als Valentina 17 Jahre alt ist, wird Sie während einer Party von einem neonazistischen Freund ihres Bruders vergewaltigt. Sie zerfällt in Bruchstücke, verliert sich in einem Strudel aus Schweigen, Schuldgefühlen, Scham und dem Wunsch zu verschwinden. Sie erstattet keine Anzeige, spricht mit niemandem, nicht einmal ihren Eltern. Einzig ihrem Bruder erzählt sie auf sein Drängen hin von der Vergewaltigung, doch der glaubt ihr nicht. Er schlägt sich auf die Seite des Vergewaltigers seiner Schwester und taucht im Sumpf der neofaschistischen Szene unter. Sieben Jahre lang haben sie keinen Kontakt.

Zur Autorin

Valentina Mira, geb. 1991 in Rom, studierte Jura. Geschrieben hat sie zuerst für den «Corriere della Sera», «Il manifesto und Il romanista». Heute ist Mira Publizistin, Übersetzerin aus dem Französischen sowie Mitautorin von «A parole nostre», der feministischen Rubrik der Zeitung «Il Fatto Quotidiano». «X» (2021) ist Valentina Miras erster Roman und wurde mit dem Premio Roberto Scialabba ausgezeichnet.
Foto: © Camillo Pasquarelli («Der Freitag»)

Omertà

X ist ein Roman in 36 Briefen, die Valentina sieben Jahre nach der Tat an ihren Bruder schreibt. X ist eine unbekannte Variable und der Versuch, einen Tatbestand, aber vor allem den traumatischen Gewaltakt und die Folgen zu bergreifen und zu verarbeiten. Sie schreibt weniger um eine Antwort bemüht, als um die Gleichung zu lösen. Und die Lösung beginnt beim Sprechen.

Auf dem Weg dahin kämpft sie gegen «Mauern, Stillschweigen, Omertà» – dem ungeschriebenen Gesetz der Schweigepflicht, bekannt aus der Mafia oder ähnlichen kriminellen Organisationen. Diesem folgen Bruder wie Täter und anfänglich auch die Betroffene. Als sie ihren Vergewaltiger zur Rede stellt, leugnet er die Tat und bezeichnet Valentina als Spinnerin. Auch der Bruder, der als einziger von der Vergewaltigung erfährt, möchte keine Details hören und entscheidet sich, im Sinne der Gemeinschaft, für den Frieden für alle und schweigt. Valentina erlebt somit eine Aktualisierung des Philomela-Mythos, demgemäss sexuelle Gewalt eine sekundäre Gewalt nach sich zieht. Zwei Spiralen wie DNA-Stränge ineinander verflochten – eine des Schweigens und eine der Gewalt –, beide ziehen sie nach unten.

Machtmissbrauch

Die Erzählerin Valentina ordnet die Geschehnisse ein – mal mehr mal weniger analytisch – und kann durch die zeitliche Distanz einen historischen und gesellschaftskritischen Blick einnehmen. Immer wieder deckt sie auf, wie struktureller Sexismus und Machtmissbrauch in einem patriarchalen System zusammenhängen. Dabei kommt sie weitestgehend ohne Diskurs-Schlagwörter aus, vielmehr ist die Sprache um Klarheit und Verständlichkeit bemüht. Als Valentina beschliesst, ihre Vergewaltigung doch bei der Polizei zu melden, spürt sie, dass die zermürbenden und retraumatisierenden Fragen des Polizisten ihre Mitschuld implizieren. Valentina vergleicht die Situation mit den jahrhundertealten, grausamen Prozessen gegen Frauen, die fälschlicherweise als Hexen angeklagt wurden. Der Polizist, der sie befragt, lädt sie anschliessend auf ein Date ein. Der Roman schafft eine schleichende Unheimlichkeit, indem er die Leser:innen dazu bringt, jeder neuen männlichen Figur mit Misstrauen zu begegnen. Keine begegnet Valentina ohne sexuelle Hintergedanken.

Ein ständiges Tauziehen zwischen Hoffnung und Aufgabe bestimmt den Rhythmus des Textes. Valentina bekommt eine Stelle als Redaktorin einer lokalen Zeitschrift. Ihr Vorgesetzter stellt sich als misogyner Manipulator heraus. Er macht sexistische Bemerkungen und zwingt sie, mit ihm zu schlafen, um nicht ihre Stelle zu verlieren. Diese Passagen über Machtmissbrauch in der männerdominierte Medien-und Kulturlandschaft sind besonders beklemmend. Sie erinnern uns an bekannte Fälle aus der Schweiz wie die Anschuldigungen gegen den ehemaligen Chefredaktor des «Magazins» Finn Canonica oder gegenwärtig den Vorwürfen sexuellen Belästigung und sexuellen Übergriffs gegen den ehemaligen «Republik»-Journalisten G. Valentina hat jedenfalls keine andere Wahl, ist ganz unten angekommen und verleibt sich all den Hass ungefiltert selbst ein. Sie wird ein Teil des Gewalt-Systems: «So muss sie stinken, die dunkle Seite. Nach benutztem Latex und der im Regal vergessenen Willensfreiheit, dort neben den Hoffnungen».

Sprache gegen Ohnmacht

Beeindruckend zeigt der Roman auf, wie Sprache sowohl Machtstrukturen manifestiert als auch aufbrechen kann. Durch die Innensicht der Erzählerin zieht er die Leser:innen hinein in einen Strudel der Selbstauflösung und hinterlässt Schrecken und Unbehagen, verstärkt durch direkte Verschränkungen von Erzählinstanz und Autorschaft. Man verzeiht so auch gerne die zum Teil abgegriffenen Metaphern, über die man beim Lesen stolpert.

Der Befreiungsakt ist schlussendlich nur möglich, wenn die Dinge beim Namen genannt werden. Das Sprechen als turning-point, die Wut nicht mehr gegen sich, sondern nach oben zu richten. Ein Widerstand, der auch physische Gewalt als Reaktion auf Unterdrückung und Demütigung zulässt. Die Selbsterkenntnis, dass Hass und Wut ein Antrieb sein können, ist ebenso Aufruf wie Drohung, den Teufelskreis des Schweigens zu durchbrechen und solidarisch zu sein. So adressiert Valentina in den Briefen an den Bruder mit einem «ihr» immer wieder auch die männliche Leserschaft. Der Roman überzeugt letztlich, weil er die Balance findet zwischen einer Nacherzählung einer prozesshaften Traumabewältigung und dem grösseren sozialen Kontext – zwischen Selbst-und Systemanalyse. Der sexistische Chefredakteur meint, «über Themen, die einem zu nahe gehen, kann man nicht gut schreiben». X widerlegt das eindrücklich.

Valentina Mira: X. Übers. v. Barbara Sauser. 216 Seiten. Zürich: Rotpunktverlag 2023, ca. 29 Franken.

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