KW22
Rebel Girls
Martina Clavadetschers zweiter Roman ist ein Schauermärchen über starke Frauen und dystopische Zukunftsaussichten, das nicht zuletzt durch sein raffiniertes narratives Arrangement besticht.
Die Erfindung des Ungehorsams erzählt von drei aussergewöhnlichen Frauen. Iris lebt in einem Penthouse in Manhattan und verbringt ihre Zeit gerne bei Dinnerpartys. Immer wieder denkt sie sich neue Geschichten für ihre Gäste aus und erzählt eines Abends von ihrer Halbschwester Ling. Jene ist Arbeiterin einer Sexpuppenfabrik in China und wirkt teilweise genauso verkrampft wie die Puppen, die durch ihre Hände gleiten, wenn sie sie auf Mängel kontrolliert. Und schliesslich gibt es noch Ada, ein mathematisches Genie, die sich im England des 19. Jahrhunderts ihrer Mutter widersetzt und ihren Träumen nachgeht. Lange bevor der erste Computer entstand, hat sie deren Idee vorweggenommen, indem sie zusammen mit Charles Babbage eine Maschine entwickelte, die zu komplizierten Rechnungen fähig war. Bereits zum zweiten Mal greift Clavadetscher damit die historische Figur Ada Lovelace auf.
Lügen lernen und Filme schauen
Auf den ersten Blick lässt sich zwischen diesen drei Figuren nur schwer einen gemeinsamen Nenner finden. Doch Martina Clavadetscher findet ein raffiniertes Motiv, um ihre Gemeinsamkeiten hervorzuheben und zu einer Geschichte zu verknüpfen: den Algorithmus. So träumte Ada Lovelace bereits als kleines Mädchen von Maschinen und der Vorstellung fliegen zu können. Zwar gelang es nie, wie ein Vogel in die Luft aufzusteigen, dafür gelang ihr ein informationstechnologischer Durchbruch – Ada Lovelace schrieb das erste Computerprogramm in der Geschichte. Dank Babbages und ihren Berechnungen verfolgen Internetplattformen heute unsere Klicks und sprechen Puppenköpfe wie Menschen mit uns. Letzteres soll die neue Generation von Puppen in der chinesischen Fabrik auch können. Ling hilft der unbekannten Arbeiterin, die Fortschritte des Trainings aufzuzeichnen und verliert dabei mit dem geregelten Alltag ihre starre Hülle. Als das Programm gelernt hat zu lügen, sitzt irgendwann Ada neben Ling auf dem Sofa und sie schauen gemeinsam den Filmklassiker Paradise Express. Der darin thematisierte Freizeitpark Adventureland wird schliesslich zum Sehnsuchtsort von Ling und Iris.
Wer hat das Ungehorsame erfunden?
Die Suche nach dem Ungehorsamen führt folglich auf den direkten Pfad der Lüge: Ada belügt ihre Mutter, indem sie vorgibt das «Ungeheuerliche» in ihrem Kopf zu zügeln; Ling lernt zu lügen und beschliesst ihren eigenen Arbeitsort zu beklauen, während Iris lügt, wenn sie erzählt, wie sie den Freizeitpark aus Paradise Express besucht habe und dabei ganz vielen Menschen begegnet sei, die aussahen wie Fanny Lee aus dem Film. Die neue Generation der Puppen wiederum lernt zu lügen, denn das ist menschlich. Die Erfindung des Ungehorsams hinterlässt einen in einem guten Sinne aufgewühlt. Die präzise und detailverliebte Sprache lässt die Begeisterung der Autorin fürs Schreiben deutlich spürbar werden. Nie wirkt sie angestrengt oder ermüdend, sondern hält gerade durch die verschiedenen Sichtweisen der Protagonistinnen die Spannung und den Lesefluss aufrecht. So ist Martina Clavadetscher mit ihrem neuen Roman ein Schauermärchen gelungen, das durch geschickt verknüpfte Geschichten besticht.
Martina Clavadetscher: Die Erfindung des Ungehorsams. 288 Seiten. Zürich: Unionsverlag 2021, ca. 30 Franken.