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Wenn Wörter zur Welt kommen

Die Vaduzerin Anna Ospelt hat mit «Frühe Pflanzung» eine poetische Reflexion über Geburt, Natur und das Muttersein geschrieben. Dabei lotet der Roman den literarischen Topos vom Schreiben als Geburt nicht nur thematisch aus, sondern kreiert daraus ein eigenwilliges Erzählprinzip.

Von Marina Zwimpfer
11. September 2023

Poetik des ‹zur Welt Kommens›

Anna Ospelt erzählt aus der Ich-Perspektive: Es ist Frühling und die Erzählerin, eine Schriftstellerin, erwartet ihr erstes Kind. Eine Blumenzwiebel wird in die Erde gepflanzt. Frische Eicheln fallen vom Baum ins Gras. Die Erzählerin nennt sie «Erzählkapseln», denn mit dem Spriessen der Pflanzen knospt auch Zeile um Zeile.
Der Roman schildert, wie das Kind im Mutterbauch wächst, bis es schliesslich zur Welt kommt. Die Erzählerin verbringt ihr erstes Jahr als Mutter. Gleichzeitig wie das Kind wächst rundherum die Natur – der anfängliche Frühling verwandelt sich in den Sommer; es wird Herbst, dann Winter. Und wiederum gleichzeitig wächst auch Anna Ospelts Roman. Es gelingt der Autorin auf Anhieb und in bemerkenswert feinfühliger Sprache, die verschiedenen Textebenen miteinander zu verknüpfen und in ihnen das Motiv des ‹zur Welt Kommens› mit all seinen Assoziationen auszuloten. Das bringt zum einen eigenwillige Naturbeobachtungen hervor, Gedanken zur anstehenden Geburt ihres Kindes und zum anderen Überlegungen darüber, was dies für ihr Schreiben bedeuten könnte.

Zur Autorin

Anna Ospelt, geboren 1987 in Vaduz. Studium der Soziologie, Medien- und Erziehungswissenschaften in Basel. Danach arbeitete sie als freie Lektorin, Übersetzerin und als Projektmanagerin an der Universität Liechtenstein. Seit 2011 veröffentlicht Ospelt Kurzgeschichten und Lyrik in Literaturmagazinen und Anthologien. 2015 erschien ihre journalistische Monografie «Sammelglück» mit Fotografien von Martin Walser, aus dem Teile ins Ungarische und Serbische übersetzt wurden. Für ihr literarisches Schreiben erhielt Ospelt zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt das Nature Writing-Stipendium der Stiftung Nantesbuch im Namen des Deutschen Preises für Nature Writing (2019). Anna Ospelt schreibt und lebt in Vaduz.
Foto: © Ayse Yavas

Prägnante Sprache

Ospelts zweiter Roman ist eine Mischform aus Lyrik und Prosa. Man erhält den Eindruck, als hätte die junge Autorin und Mutter alles, was sie während der Schwangerschaft geschrieben hat, auf kleinen Zetteln gesammelt und dann zu einem einzigen Text aneinandergereiht. Die kurzen Sätze und Abschnitte, aus denen der Roman besteht, sind jeweils von einem Gedankenstrich voneinander abgetrennt. Sie erinnern an Lichtenbergsche Aphorismen und haben in ihrer Kürze und Prägnanz gleichzeitig etwas Wissenschaftliches. Praegnans, das lateinische Wort für «schwanger», so leitet die Ich-Erzählerin schon zu Beginn des Romans ab, stehe schliesslich dafür, dass «etwas randvoll gefüllt sei, und zwar mit Sinn». Immer deutlicher wird, dass es hier also nicht nur um ein physisches Schwanger-Sein geht, sondern auch ein Gefüllt-Sein mit Worten und um das schöpferische Gebären von Texten.

Ein feministisches Plädoyer

Die ungewöhnliche Form von Frühe Pflanzung ist aber auch noch aus einem anderen Grund bedeutungsvoll: «Ich falte Wäsche. Ich falte die Zeilen aus Mangel an Zeit fürs Schreiben». Die knappen Erzähleinheiten sind Ausdruck des Zwiespalts, dem erwerbstätige Mütter stets ausgeliefert sind: Wie viel Platz zum Arbeiten dürfen sie sich nehmen, wie viel Freiraum, wie viel Zeit zum Schreiben? Beim Lesen hat man den Eindruck, dass diese Fragen im Verlauf des Texts zunehmend die Oberhand gewinnen. Nebst den eigenen Gedanken und Beobachtungen der Erzählerin werden immer häufiger fremde Zitate in den Text eingestreut – womöglich, um den Mangel an Schreibzeit und Geschriebenem auszugleichen? Inhaltlich beziehen sich alle auf die politische Frage, was das Muttersein in der Gesellschaft bedeutet und reichen von Grössen wie Virginia Woolfs viel zitiertem A room of one’s own – laut Woolf ist der eigene Raum eine von zwei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit auch Frauen herausragende Literatur produzieren können – bis zu Aussagen zeitgenössischer, feministischer Denkerinnen und aufstrebender Autorinnen der Gegenwart. Besonders schön und passend ist ein Zitat der Schweizer Autorin Julia Weber, die mit Die Vermengung letztes Jahr ebenfalls einen Roman über die diffizilen Verschränkung von Schreiben und Muttersein veröffentlicht hat, fast am Ende des Romans. Die Einlassung beschreibt das Kind als etwas, «[…] das in uns alles ausräumt und neu einrichtet». Das politische und feministische Plädoyer, welches hinter dieser Aussage steckt, ist auch in Anna Ospelts Roman verborgen: Es ist der Appell, sich neu einzurichten, die Sätze und Wörter, die mit der Geburt eines Kindes wachsen, neu zu ordnen, weiter zu schreiben. Ebendies demonstriert Frühe Pflanzung auf eindrückliche Art, in dem die Geburt bestimmt, wie Ospelts Text zur Welt kommt.

 

Anna Ospelt: Frühe Pflanzung. 96 Seiten. Zürich: Limmat Verlag 2023, ca. 28 Franken.

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