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Gunst der Stunde

In Peter Stamms neuem Roman «In einer dunkelblauen Stunde» dokumentiert die Filmemacherin Andrea das Leben des berühmten Schweizer Schriftstellers Richard Wechsler. Von Künstler:innen und ihren Objekten hat Stamm schon oft gehandelt, wie geht die Sache dieses Mal aus?

Von Kora Schild

Alter Wein?

Das neueste Buch von Peter Stamm ist eine Geschichte über das Blaue, genauer eines Wassertropfens, der «zerfliessen könnte, wenn man ihn berührt». Eine Geschichte über Dinge, die man bloss spürt, aber nicht richtig benennen kann. Es handelt vom Unwissen, das immer mehr zu Wissen heranwächst, vom Unbewussten, das sich sukzessive an die Oberfläche bewegt und in eine fortwirkende Entwicklungsgeschichte der Ich-Erzählerin mündet. Wie wir es von Peter Stamm gewohnt sind, zerfliesst sein Buch ganz im Sinne des romantischen Ideals in eine Vermengung von Ich- und Aussenstrukturen, von Raum und Zeit. Ein paar Neuheiten sind aber doch zu vermerken. 

Zum Autor

Peter Stamm, geboren 1963, lebt in Winterthur. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt «Agnes» (1998) erschienen 8 weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» (ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018), «Das Archiv der Gefühle» (2021) und «In einer dunkelblauen Stunde» (2023), dessen werkpoetischen Kontext die im gleichen Jahr veröffentlichte Mockumentary «Wechselspiel» von Georg Isenmann und Arne Kohlmeyer bildet. Im November 2023 hatte Stamm die Zürcher Poetikdozentur inne.
Foto: © Gaby Gerster

Kunst der Gesellschaft 

Das Buch ist in drei Teile gegliedert, die subtile Etappenwechsel im Leben der Ich-Erzählerin porträtieren. So bildet das Buch eine in sich geschlossene Einheit, die von der Selbst-Suche der Ich-Erzählerin in der Auseinandersetzung mit ihrem Objekt, das immer mehr zum Subjekt wird, handelt. Am Ende bleibt kein einfaches Was, sondern ein irritierendes Wie. So konstatiert Wechsler an einer Stelle: «Grosse Kunst hinterlässt in uns Spuren, […] die Bilder und Texte mögen in der Erinnerung verblassen oder sich verändern, aber was sie mit uns gemacht haben, bleibt.» Gleichzeitig, und so neu zu entdecken, enthält das Buch eine sorgfältig eingeführte und stets humorvolle Gesellschaftskritik, so ist die Rede auch von Genderfragen, zu hinterfragenden Körperidealen und Poké Bowls, die vielleicht nicht ganz so nachhaltig sind, wie es die Klimajugend glauben möchte. 

Ungefähre Seelenlandschaften 

Das Buch öffnet wie schon Stamms bisherige Prosa einen nebligen Raum, durch den man sich vor- und zurückbewegen kann. Die klugen Fragen, die sich die Ich-Erzählerin immer wieder stellt, bilden einen Sog, aus dem man nicht mehr so schnell herausfindet. Paradigmatisch dafür ist Andreas Faszination für die blaue Stunde, den Zustand zwischen Schlafen und Wachen, den sie so liebt und der dem Buch, anknüpfend an Schillers Unterscheidung von Form- und Stofftrieb, den Titel gibt: «D]ie Freiheit zeigt sich nicht am Stoff, sie zeigt sich in der Gestaltung. Die Figuren sind austauschbar.»

Peter Stamm wird gerne vorgeworfen, in jedem seiner Bücher über alternde, weisse Männer zu schreiben, doch lässt sich dieser Vorwurf durchaus entkräftigen: So fragt sich die Ich-Erzählerin (hier eben eine Frau) am Ende des Romans: «Habe ich Richard berührt? Hat er mich berührt? Wer von uns ist Künstler, wer das Modell? Geht es gar nicht um ihn […], sondern um mich? Ist es von Anfang an nur um mich gegangen? Aber warum? Warum ausgerechnet um mich? Und gefällt mir dieser Gedanke, oder beunruhigt er mich, macht er mir Angst?» Damit knüpft Stamm an seinen Erstling Agnes an, der das intrikate Machtverhältnis von Schöpfung und Geschaffenem noch in der wohlbekannten Gender-Dichotomie von männlichem Autor und weiblichem Sujet verhandelt hatte. Das neue Buch erweitert diese Dyade zur Triade: Im Zentrum steht die aktive Rolle der Leser:innen, die die Geschichten von Autor:innen stark mitgestalten. Wir sind Bekannte, wir sind Freund:innen, wir sind Musen, wir sind Geschichtenfüller:innen. Ohne uns bliebe jede Seite zwar nicht unbeschrieben, aber doch merkwürdig in der Schwebe. Einer Schwebe, die Peter Stamms neuer Roman nachdrücklich als ebenjene blaue Stunde in Erinnerung ruft, die literarisch noch am ehesten darstellbar wird.  

Peter Stamm: In einer dunkelblauen Stunde. 256 Seiten. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 2023, ca. 34 Franken.