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Der Beiläufige

Am 30. November 2023 hielt Peter Stamm im Literaturhaus Zürich die dritte und letzte seiner Poetikvorlesungen unter dem Titel «Vom Machen und vom Finden». Anlass genug, nochmals einen Blick auf Stamms jüngsten Roman «In einer dunkelblauen Stunde» zu werfen - und über eine Poetik nachzudenken, deren Kernattitüde darin besteht, sich wegzudrehen.

Von Philipp Theisohn
1. Dezember 2023

Zu jenen spärlichen Abstrakta, die der Poetik Peter Stamms gerecht werden könnten – er selbst vermeidet diese tunlichst –, wäre sicherlich das der Beiläufigkeit zu zählen. Beiläufigkeit, emphatisch verstanden: Literatur ist das, was im Schatten des Absichtsvollen sich ereignet. Wer erzählt, weil er die Welt verändern, etwas «bewegen» will, der macht sich etwas vor. Was nicht heisst, dass man die Welt nicht verändern wollen soll oder darf. Für Stamm steht dieser Wille aber jenseits des Schreibens. Schreiben, das zeugt andere Welten, was, wie der Autor in seiner Zürcher Rede von 2015 konstatiert hat, «nicht wenig» ist: «aber es gibt wohl kaum einen Autor, der sich nicht schon geschämt hat, nicht viel zur realen Welt beizutragen.»

In dieser Begleitexistenz des Realen, im «Zur-Seite-Sprechen» versteht sich Stamms Prosa als beiläufig; sie ‹läuft nebenbei› und das klingt erstmal böse, klingt nach Belanglosigkeit. In weiterer Hinsicht aber geht es dabei um eine ganz andere Frage als um die nach literarischer Wirksamkeit und literarischem Engagement.  Geklärt wird in Peter Stamms Werk, wird auch in seinem jüngsten Roman In einer dunkelblauen Stunde vielmehr, was von der Realität übrigbleibt, wenn man sie in Literatur überführt. Richard Wechsler, der gleichsam unserer Welt entrückte Wiedergänger seines Autors, erteilt diesbezüglich knappe Auskunft: «Man sollte keine Bücher über etwas schreiben», dekretiert er, «jedenfalls keine Romane.»

Nicht über etwas schreiben

Wie kann man sich das vorstellen, eine Literatur, deren Maxime es ist, «nicht über etwas» zu schreiben? Zunächst einmal zur Differenzierung: «nicht über etwas» zu schreiben, heisst keinesfalls, «über nichts» zu schreiben. (Denn nichts wäre immerhin auch schon wieder etwas.) Man wird Wechslers Mahnung anders deuten müssen: Bücher, die «über etwas» geschrieben sind, werden von einer Absicht angetrieben. Sie wissen schon, wo sie hinwollen, haben einen Plan, der schon da ist, bevor das Schreiben einsetzt. Anders gesagt: Solche Bücher verstehen sich als Kommentare oder als Wunscherfüllungsmaschinen einer Wirklichkeit, der das in ihnen Ausgebreitete gar nicht angehören kann. Sie unterwerfen den Text somit einer Logik, die ihm eigentlich fremd wäre – aber was wäre das für eine Logik? Was unterscheidet unsere Welt von einer Welt, in der die Literatur sich selbst überlassen wäre?

Auch hier weiss der Roman Antwort, wird diese auch nicht vom Schriftsteller Wechsler, sondern von der Dokumentarfilmerin Andrea bereitgehalten, die dessen verschwommenes Leben ins Bild setzen soll: «Zu viele Geschichten überall, alle gleich gebaut, Plot Point eins, Plot Point zwei, Auflösung. Jede verdammte Autowerbung erzählt schon eine Geschichte. Das Paradies wäre der Ort, an den es keine Geschichten gibt.»

Wider den Geschichtenzwang

Eine bemerkenswerte Umkehrung vollzieht sich hier: «Geschichte», das bezeichnet keinesfalls die Handlungsstrukturen, die man einer erfundenen Welt zuschreibt, einem Roman, einer Novelle, einer Erzählung, einem Film, also jenen Reichen, in denen wir uns Erlösung von der Ödnis des Alltags erwarten. «Geschichte» ist vielmehr der Dauerzustand unserer Welterfahrung: Unentwegt leben wir in Geschichten und in der Erwartungshaltung, Geschichten zu erleben, in ihnen eine Rolle zu spielen, Teil eines Plots zu sein. Nur das, was sich in Geschichten überführen lässt, besitzt noch Erlebniswert, ja, wird überhaupt erlebt, und so wünscht sich auch Andrea, die Fremde des Heimatortes Richard Wechslers erleben, sich anverwandeln zu können; ja, sie fragt sich, «wie es sich anfühlen würde, wenn mir das alles vertraut wäre, diese Straßen, diese Häuser, die Menschen, ein Gewebe von Geschichten und Erinnerungen.»

Zum Autor

Peter Stamm, geboren 1963, lebt in Winterthur. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt «Agnes» (1998) erschienen 8 weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» (ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018), «Das Archiv der Gefühle» (2021) und «In einer dunkelblauen Stunde» (2023), dessen werkpoetischen Kontext die im gleichen Jahr veröffentlichte Mockumentary «Wechselspiel» von Georg Isenmann und Arne Kohlmeyer bildet. Im November 2023 hatte Stamm die Zürcher Poetikdozentur inne.
Foto: © Gaby Gerster

Erst dieser allerorten waltende Zwang zur Geschichte lässt verständlich werden, was Peter Stamms Erzählen im Innersten bewegt: Es ist der Exorzismus des Verfertigens, die Austreibung der Dramaturgie. Dasjenige, was Stamm – man konnte es bereits lesen – als die Kunst des «Machens» ansieht, eine Kunst, der nichts zustösst, weil sie ein «Konzept» hat, das sie vor allen Zufällen beschützt. Eine Kunst, die immer zum Punkt kommt, immer ein Ende hat, also genau das Gegenteil von dem, was die Sätze Richard Wechslers auszeichnet, die genauso vorzeitig abbrechen wie die Dreharbeiten, die seine Person einzukreisen versuchen. Genau genommen liesse sich In einer dunkelblauen Stunde auch als eine Lektion in Sachen Kunst begreifen: Hier ein Filmprojekt, das eben vor allem Projekt ist, also ‹Vorwurf›; ein Versuch, der Welt Erzählstrukturen einzuschreiben, sie mit Schnitten, Close Ups, Kamerafahrten zu narrativieren. Dort hingegen, vor der Kamera: ein Mensch, der gerade diese Geschichtsschreiberei dem eigenen Dasein fernhält und seine Biographie mit Pessoa durch «Geburt und Todestag» ausreichend bestimmt sieht. Wechsler ist kein Macher; er macht sich höchstens davon, stirbt seinen Geschichtenjägern vor der Linse weg, so wie es immer seine «Lösung in jeder unangenehmen oder schwierigen Situation» gewesen ist, wegzugehen.

Weggehen – Stamms Verschwinder

Dieser Hang zum ‹Weggehen› ist den Figuren in Peter Stamms Erzählkosmos inhärent. Die Zöllnerin Kathrine in Ungefähre Landschaft verschwindet aus dem Leben des grossen Lügners, der ihr Ehemann ist bzw. war; nicht allerdings, ohne den Hinterbliebenen vorher noch die Nachricht «Ihr werdet mich nicht finden» zu hinterlassen. Kathrine treibt es bis ins nördlichste Norwegen, Thomas in Weit über das Land, den vielleicht radikalsten, nämlich ganz grundlosen Weggeher in Stamms Oeuvre zieht es hingegen durch die Thurgauer Agglomeration ins Gebirge hinein. Auch der Schriftsteller Christoph in Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt kann sich nicht einfach nur trennen, sondern muss natürlich auch verschwinden, umhervagabundieren – und nimmt dabei aus der Welt, die er hinterlässt, alles mit, was mit ihm verbunden war, so dass er bei seiner Rückkehr die eigene biographische Spur, die eigene Geschichte, nicht zuletzt seinen Erstlings- und einzigen Roman nicht mehr wiederzufinden vermag.

Wenn Peter Stamms Gestalten gehen, dann enden sie indessen nicht. Vielmehr beginnen ihre Erzählungen erst in diesem Moment – Erzählungen abseits der Geschichte und der Geschichten, eben: beiläufige Erzählungen. Den Weg, den all die Verschwindenden betreten, kennzeichnet vor allem eines: dass ihm keine Landkarte, keine abgesteckte Route zugrunde liegt. Wer weggeht, der verabschiedet sich auch von den Kalkülen seines bisherigen Lebens; er oder sie steuert es nicht länger, sondern lässt sich treiben – und nur auf diesem Weg gelangt er dann auch vom «Machen» zum «Finden». Finden aber kann bei Stamm nur, wer selbst nicht mehr gefunden werden kann. Nur jene, die den Ortungsdiensten dieser Welt gekündigt haben, erfahren sich neu im plötzlichen, absichtslosen Zusammenstoss mit den Dingen. Sie finden allerhand, die Verschollenen: Seen, Täler und Berge, Läden und Waren, scheinbar vertraute Orte und scheinbar vertraute Menschen, bisweilen Affären; nichts davon wirklich bindend, aber immerhin doch so bedeutsam, dass die Figuren an ihnen für einen Moment hängen bleiben, im Bewusstsein, das gefunden zu haben, wonach sie niemals gesucht haben.

Die Funde toter Schriftsteller

Kann man so dahinwandeln, kann man so erzählen, Romane schreiben? Peter Stamms Texte sind in dieser Hinsicht immer Wagnisse, und die Debatten, die sie umgeben, werden nicht selten von der Frage geleitet, ob die Expedition für diesmal geglückt oder gescheitert sei. Der Verfasser dieser Zeilen wäre nicht aufrichtig, würde er behaupten, selbst nicht schon ab und an in Zweifel gekommen zu sein, zumal diese Zweifel auch öffentlich dokumentiert sind. Indessen schmälert Kritik weder die poetische Konsequenz noch die Stilsicherheit dieses grossen erzählerischen Unterfangens, das immer wieder, von Roman zu Roman, von Neuem beginnt und stets auch Neues zu entdecken vermag.

So weiss auch In einer dunkelblauen Stunde mit einer Volte aufzuwarten, die man bei Stamm in dieser Form noch nicht gesehen hat. Denn auch Richard Wechslers Roman endet nicht mit seinem Verschwinden. Er mag nicht mehr unter den Lebenden weilen, doch macht auch ein toter Autor noch seine erzählerischen Funde. Beziehungsweise: Er lässt sie machen. Dass nach Wechslers Abgang und dem zusammengebrochenen Filmprojekt sich zwei Frauen – Andrea und Judith – zusammenfinden, sein verwaistes Haus in Paris aufsuchen, in seinem Bett schlafen, seine hinterlassene Bibliothek durchstöbern, die Notizen letzter Telefongespräche durchgehen, von ihren – empirisch gegründeten oder ungegründeten – Erinnerungen an ihr Beisammensein mit diesem Menschen heimgesucht werden, ja: in Andreas Fall auch selbst für einen Moment zu Richard werden und den Blick auf die von Richard träumende Judith werfen: Das alles ist das Werk eines Autors, der Leerstellen schafft, durch die hindurch andere sich aufmachen können zum Finden. Wir kennen ihn, diesen bläulichen Schemen.

 

Peter Stamm: In einer dunkelblauen Stunde. 256 Seiten. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 2023, ca. 33 Franken.

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