KW29

Die Narben der Schrift. Gespräch mit Anna Stern

Anna Stern

Bei den diesjährigen Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt hat Anna Stern für ihren Text «Warten auf Ava» den 3sat-Preis erhalten. Das Buchjahr sprach mit der Autorin über Jurys und Rätsel, über Max Frisch - und über das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Literatur.

Von Redaktion Buchjahr
19. Juli 2018

Anna, zunächst noch einmal herzliche Gratulation. Zur Sache: Kannst Du uns sagen, warum Du für den Wettbewerb gerade diesen Text ausgewählt hast?

Tatsächlich ist der Text Teil eines entstehenden Romans. Die Idee war, aus diesem Roman etwas vorab am Wettbewerb zu lesen, um ihn bekannt zu machen. Den vorliegenden Abschnitt habe ich ausgewählt, weil ich fand, dass er in sich thematisch relativ geschlossen ist. Er eignete sich daher für mein Vorhaben. Dagegen mischen sich im ersten Teil des Romans zwei Stimmen, die in unterschiedliche zeitliche Richtungen gehen, und dies teilweise in sehr kurzen Abschnitten – das hätte es noch schwieriger gemacht, den Ausschnitt verständlich zu machen, als dies beim vorliegenden Ausschnitt offenbar der Fall war.

Du hast also einen Ausschnitt aus dem entstehenden Roman ausgewählt und diesen Ausschnitt nicht noch bearbeitet im Hinblick auf die Lesung?

Doch, der Text ist zusammengeschnitten aus zwei Kapiteln: «Warten auf Ava» spielt in einem Krankenhaus, und die Sequenz im Krankenhaus ist im Roman länger. Das Ende habe ich weggeschnitten.

Ein Teil der Jury hat in der ersten Runde den Zugang zu diesem Text nach eigener Aussage noch nicht gefunden.

Ein Kritikpunkt war ja, dass zu viele Personen auftauchen für so einen kurzen Textabschnitt. Ich fand diese Kritik eigentlich schwer nachvollziehbar, denn die Juroren hören den Text ja nicht zum ersten Mal, wenn ich ihn lese, sondern sie haben ihn vor sich. Bei einem anderen Text, der gelesen wurde, fingen sie an, Beziehungsgeflechte aufzuzeichnen, und mir schien, dass man das hier ja auch hätte tun können. Was ich von einer Kritik immer erwarte – und gerade in einem solchen Forum – ist, dass sie begründet wird: Wenn ich ein Statement mache, etwa zu einem wissenschaftliche Thema, muss ich ja auch Beweise anführen oder zumindest Hinweise darauf geben, wie ich das herleite. Und wenn ein Juror in seiner Kapazität als Juror einfach nur sagt «es interessiert mich nicht», ist das für mich eine Aussage, die fehl am Platz ist.

Zur Autorin

Anna Stern, 1990 in Rorschach geboren, wohnt in Zürich und studiert Umweltnaturwissenschaften an der ETH Zürich. Sterns Debüt «Schneestill» erschien 2014 im Salis Verlag, seitdem erschienen von ihr drei weitere Romane und ein Erzählband. 2015 erhielt Stern vom Amt für Kultur des Kantons St. Gallen einen Werkbeitrag für den Roman «Der Gutachter» zugesprochen. 2020 wurde ihr für den Roman «das alles hier, jetzt» der Schweizer Buchpreis verliehen.
Foto: © A. Gstettenhofer

Im Interview nach der Preisverleihung hast Du selbst gesagt, es gebe möglicherweise «Rätsel» in diesem Text…

Ich denke, wer sich mit meinen bisher erschienenen Texten befasst hat, weiss: Ich habe nicht den Anspruch, nicht die Tendenz und nicht den Wunsch, in meinen Texten alles zu erklären. Vielmehr mag ich selbst Texte, in denen ich mich als Leser mit meiner eigenen Geschichte, meinen eigenen Erfahrungen auseinandersetzen muss, und ich schreibe auch so, oder ich habe den Wunsch, so zu schreiben. Es erstaunte mich daher, dass ein Gremium, das sich am Eröffnungsabend als ‹Elitejury der deutschsprachigen Literatur› bezeichnet hat, sich weigerte, auf einen Text einzugehen, nur weil er gewisse Rätsel offeriert.

In Deinem Text tragen einige Personen auffällige Namen, z.B. Swann oder Faber; zudem wird auf Dickens und Franz Wright verwiesen – und der Text selbst trägt den Titel «Warten auf Ava». Geht es in diesem Text um die Frage, wie Literatur entsteht?

Nein, – nun, also das liegt natürlich dann auch in der Interpretation des Lesers. Meine Intention war es, zu erreichen, dass der Leser sich mit der Frage befasst, wie man mit einer Situation umgeht, in der eine Person, die man kannte und gern hatte, im Koma liegt und man nicht weiss, wie es weitergeht: Wacht sie auf, wacht sie nicht auf, eine gewisse Hilflosigkeit, eine gewisse Trauer vielleicht bereits, und die Frage, wie man das verarbeiten kann. Die literarischen Referenzen, die vielleicht nicht einmal unbedingt immer bewusst oder mit Wunsch gesetzt worden sind, werden im Roman selbst aufgeklärt, zumindest einige davon, weil sie eben auch Bezüge haben zu anderen Stellen im Roman.

Der Text arbeitet intensiv mit Hinweisen und Anspielungen, doch der Leser kann ja nicht immer alle Quellen präsent haben. Dass z.B. der Absturz des Weltkriegsbombers bei Beinn Eighe im Jahr 1951 tatsächlich passiert ist, kann man nicht ohne weiteres wissen. Geht man diesem Hinweis aber nach, dann erfährt man, dass es dort tatsächlich bis heute ein Trümmerfeld gibt…

…ich sehe die Referenzen nicht nur als Rätselaufgaben für den Leser, sondern ich hoffe, dass der Text auch lesbar ist, ohne dass man weiss, dass das wirklich geschehen ist. Ich denke, wenn man den Hinweisen, die ich sehr bewusst einbaue, nachgeht, kann sich vielleicht noch eine zusätzliche Dimension ergeben, eine zusätzliche Ebene auftun. Ich habe selbst teilweise einen germanistischen Background, und für jemanden, der auf diesem Gebiet ebenfalls bewandert ist, sind die Anspielungen leicht zu erschliessen. Ein anderer Leser dagegen konzentriert sich vielleicht eher auf die Handlung und nicht auf das, was sich hinter den Worten eigentlich versteckt.

In «Warten auf Ava» geht es um einen beschädigten Körper und zugleich um eine Seele, die beschädigt ist, durch den Streit mit dem Partner über das Kind, das vielleicht zuerst von ihm nicht gewollt war. Auch in Deinem ersten Roman «Schneestill» und im Erzählband «Beim Auftauchen der Himmel» sind Narben, Verletzungen, Prothesen, Krankenhaus- und Psychiatrieaufenthalte häufige Motive. Was hat die körperliche Erinnerung zu tun mit dem Schreiben?

Ich glaube, das Schreiben ist zum grossen Teil auch ein Erinnerungsprozess, bei dem ich Eindrücke und Beobachtungen, Gerüche oder Gespräche erinnere und neu verwebe. Diese Empfindungen und Sinneswahrnehmungen – Schmecken, Hören, Sehen – kann die Narbe konzentriert auffangen, weil eine Narbe ein Zeugnis ist von dem, was ich gehört, gesehen, geschmeckt habe im Moment, als mir die entsprechende Wunde zugefügt wurde. Ich denke, bei vielen meiner Figuren entsteht der im Text verhandelte Konflikt dadurch, dass sie sich von der eigenen Vergangenheit loslösen möchten. Ich denke, dass eine Narbe etwas ist, was an das frühere Ich, an das eigene Erleben erinnert und so immer einen unauslöschbaren und unleugbaren Zusammenhang darstellt zwischen dem Jetzt und dem Früheren.

In Deinen Texten wird die Spannung zwischen Gegenwart und Vergangenheit häufig anhand des Themas Familienbeziehungen verhandelt; es geht um verstorbene, abwesende Eltern, um unklare Elternschaften und Identitäten: Welche Funktion hat die Literatur hier?

Ich glaube, die Literatur ist für mich eher ein Anstoss, über die eigene Situation nachzudenken: Das Schreiben ist ein Weg, auszutesten, welche Möglichkeiten es geben könnte, was sich anders abspielen könnte, wie ich eine Situation weiterspielen könnte. Der Leser, etwa in «Schneestill», erhält Einblick in das Leben von zwei Personen, die sich kennenlernen und sich gegenseitig ihr Leben erzählen. Die Frage, die sich dem Leser hier stellt, ist: Wie würde er sich verhalten, wenn er in der Situation einer dieser Figuren wäre. Daher möchte ich auch keine Lösung präsentieren in meinen Texten, weil der Leser dann diesen Schritt nicht selbst machen würde, sich zu fragen, wie er den richtigen Ausgang finden könnte. Als Kind besass ich ein Buch, bei dem am Ende die Seiten horizontal dreigeteilt waren: Man konnte sich die verschiedenen Ausgänge der Geschichte ansehen, und ich fand das sehr faszinierend. Denn es ist ja selten so, dass etwas ganz abgeschlossen ist, es gibt fast zu jedem Zeitpunkt verschiedene Auswege. Im Verlauf einer Geschichte gibt es bestimmte kritische Zeitpunkte, wo der Ausgang tatsächlich noch offen ist, und hier ist jeweils der Charakter einer Figur oder des Lesers entscheidend für den Fortgang. Als Autorin finde ich es reizvoller, die verschiedenen Ansichten der Leser darüber zu erfahren, wie die Geschichte ausgehen müsste, als dies vorzugeben.

Wichtig ist in Deinen Erzählungen offensichtlich das Fabulieren, das Erfinden; es fragt sich daher, ob die Texte – wie die Protagonistin in «Schneestill» – an «pseudologia phantastica» leiden: Ist dies das Wesen der Literatur, macht das sie aus?

Ja, das interessiert mich sehr stark. Ich geniesse es, wenn ich während der Zeit des Schreibens in ganz fremde Leben eintauchen kann. Auch wenn ich ein Buch lese, tauche ich gänzlich ein in diese Welt. Zuweilen entsteht bei mir das Gefühl, dass die Figuren im Buch realer sind als die, mit denen ich mich im Alltag beschäftige. Und es ist natürlich auch für mich toll, dass mir im Literarischen keine Grenzen gesetzt sind, ich kann meinen Protagonisten blaue Augen geben oder, wenn das dann doch nicht passt, sie grün sein lassen, ich kann Sachen erfinden, die so nicht existieren. Dies im Gegensatz zu meiner wissenschaftlichen Arbeit im Labor, bei der alles immer belegt werden muss. Wenn ich ein Resultat habe, muss ich wahrheitsgetreu darüber berichten und kann nicht einfach neue Fakten erfinden.

Ein zentrales Thema wäre demzufolge die Spannung zwischen Wissenschaftlichkeit, Rationalität und dem Fabulieren: Ein Thema, das ja auch das Werk Max Frischs, das im Namen «Faber» präsent ist, massgeblich bestimmt.

Ja, ich halte Frisch für einen der grossen Autoren nicht nur der Schweizer Literatur, sondern der deutschsprachigen Literatur der jüngeren Zeit. Ich erachte seine Texte als relevant, weil die Fragen, die sie aufwerfen, zeitlos sind, aktuell bleiben, und ich finde es schade, wenn heute viele Leute keine Ahnung mehr haben, wovon die Rede ist, wenn man vom «Homo Faber» spricht.

Da wir gerade über Schweizer Literatur sprechen: Liest Du Schweizer Gegenwartsliteratur? Und was könnte darunter überhaupt zu verstehen sein?

Schweizer Literatur definiert sich für mich durch Herkunft im weitesten Sinn, ich würde jeden Text eines/r in der Schweiz lebenden Autors/in als Teil der Schweizer Literatur bezeichnen. Es ist schön, wenn man es mit Mundartliteratur zu tun hat, die für mich genau so viel Wert besitzt wie hochdeutsche Texte und die manchmal vielleicht sogar gewisse Dinge besser reflektiert, einfach weil die Sprache anders benutzt wird, als wenn ich hochdeutsch schreibe und der Lektor findet, es gebe zu viele Helvetismen, man müsse sie eliminieren. Dadurch geht dann auch eine gewisse Dimension des Textes verloren. Um aber auf die erste Frage zu antworten: Schweizer Gegenwartsliteratur lese ich, aber auch zunehmend sehr viel englische und französische Literatur in der Originalsprache, weil ich bei der deutschsprachigen Texten immer die Tendenz habe zu korrigieren, mir zu sagen, dies und jenes würde ich anders formulieren. Das macht den Genuss dieser Literatur schwierig.

Wir wollen umgekehrt nochmals auf den ersten Teil Deiner Antwort zurückkommen: Du sprichst von Helvetismen, aber geht es nicht vielmehr um einen eigenen, distanzierteren und bewahrenswerten Zugang zur Schriftsprache Deutsch?

Ja, das ist schon der Fall. Ich habe das auch in Klagenfurt gemerkt, wo eben der Autor seinen Text vortragen muss. Bei uns Schweizer Autoren gab es zwischen dem geschriebenen und dem vorgetragenen Text, einfach wegen des Akzents, wegen der Betonung, eine gewisse Distanz: Hier wurde klar wurde, dass zwischen beidem ein Unterschied besteht. Wenn die deutschen Autoren ihren Text vorlasen, als wären sie Hörbuchsprecher, klang das für mich sehr glatt und bewundernswert und ich konnte vielleicht dem Vortrag so auch besser zuhören. Bei meiner Lesung, wenn man sie im Vergleich hört, ist die Herkunft klar erkennbar. Für mich besteht aber nie der Anspruch, dass ich den Akzent ganz weghaben möchte, weil er ein Teil meines Umgangs mit der Sprache ist.

Wie ist es denn mit der Figurensprache? Pedro Lenz sagt ja immer, er könne nicht z.B. einen Randständigen in Berlin als literarische Figur auftreten lassen, weil er einfach nicht wisse, wie diese Figur sprechen müsste. In Deinen Texten gibt es keine ausgeprägte Figurenrede?

Nein, es gibt nicht besonders viele Dialoge. Dazu kommt, und das bezieht sich nicht nur auf Dialoge, dass ich sehr stark durch Erleben meine Texte schaffe. Ich habe den Eindruck, wenn ich einen Text erfinde über etwas, zu dem ich selbst überhaupt keinen Bezug habe, wird es unecht. Ich hätte dann eine zu grosse Unsicherheit den Erfahrungen meiner Figuren gegenüber, als dass ich den Text wirklich vertreten könnte.

Welche literarischen Pläne hast Du jetzt, abgesehen vom erwähnten Roman?

Der Roman erscheint im Januar, wieder im Salis Verlag. Im Moment muss ich achtgeben, dass ich meine zwei parallelen Welten oder Leben – die Wissenschaft und die Literatur – so führen kann, dass beide nicht zu kurz kommen und ich selbst auch nicht. Aber ich arbeite tatsächlich an einem neuen Text, der noch etwas experimenteller und fragmentierter ist als der nun bald abzuschliessende Roman. Im nächsten Buch wird es um den Umgang mit Trauer gehen. Darüber wurde zwar bei der Diskussion über «Warten auf Ava» auch gesprochen, weil das in diesem Ausschnitt tatsächlich thematisiert wird, aber im gesamten Roman geht es im Grunde mehr um die Frage der Erinnerung, die Frage nach dem eigenen Ich: Wer bin ich im Verhältnis zu anderen?

Das Gespräch führte Stefanie Leuenberger.

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