KW14

Vom Geschichtenhunger

Die Autorin Özlem Çimen geht in ihrem Debütroman «Babas Schweigen» zurück zu ihren Wurzeln und erzählt die Geschichte ihrer Herkunft. Dabei stösst sie auf traurige Wahrheiten, über die in ihrer Familie lange Zeit geschwiegen wurde.

Von Marina Zwimpfer
4. April 2024

Fünfzehn Jahre nach dem Tod ihrer Grosseltern reist die Erzählerin Özlem Çimen zusammen mit ihrem Mann zurück in das anatolische Dorf Erzincan, das sich im Osten der Türkei befindet. Als Kind hat sie dort im Haus ihrer Grosseltern viele unbeschwerte Sommerferientage verbracht. Kapitelweise erzählt sie von den Erlebnissen in ihrer Heimat. Dabei bewegt sich der Roman auf drei verschiedenen Zeitebenen: In den neunziger Jahren streift Çimen zusammen mit ihren Cousins und Cousinen durch das idyllisch anmutende Dorf. Sie ziehen durch die ländliche Gegend, baden im nahegelegenen Fluss und essen die getrockneten Aprikosen von den Bäumen im Garten. Im Jahr 2013 besucht Çimen das Dorf als Erwachsene zusammen mit ihrem Ehemann Felix nach langer Zeit wieder und trifft ihre Verwandten. Ganz beiläufig erwähnt ihr Onkel in einem Gespräch, dass der Ort einst von Armenier: innen bewohnt war. Damit gerät ein Stein ins Rollen, denn plötzlich beginnt Çimen zu hinterfragen, wie ihre Grosseltern einst in das Dorf kamen und ob ihre Geschichte wohl mit dem Genozid an den Armenier: innen zusammenhängt. Schliesslich konfrontiert sie ihren Vater in der Gegenwart mit ihren Erkenntnissen.

Zur Autorin

Özlem Çimen, geboren 1981 in Luzern, lebt mit ihrer vierköpfigen Familie in Zug. 2012 schloss sie den Master in Education in Special Needs an der Pädagogischen Hochschule Luzern ab und ist als Heilpädagogin im Kanton Luzern tätig. «Babas Schweigen» ist Çimens Romandebüt.
Foto: © Ayşe Yavaş

Das Geschichtenerzählen ist ein Leitmotiv in Özlem Çimens Roman: Von den Geschichten der Grosseltern früher, die den Kindern zur Abschreckung dienten, den Geschichten der Erzählerin selbst über ihre Kindheitstage bis zu den Geschichten, die nicht erzählt werden und über die geschwiegen wird. «Kinder brauchen neben Brot und Milch Geschichten, um gross zu werden», stellt die Erzählerin in der Gegenwart in Angesicht des Geschichtenhungers ihrer zwei eigenen Kinder fest. Allerdings stellt sich die Frage, welche Geschichten: Sie selbst ist zwar mit vielen Geschichten aufgewachsen, allerdings bemerkt sie erst im Erwachsenenalter unversehens, dass Erzählungen über die Ursprünge des Dorfs und über ihre wahre Herkunft fehlen. Dennoch hat sie schon als Kind eine unerklärliche Melancholie bei den Dorfbewohner: innen bemerkt. Und trotz dem Bemühen um Schweigen drang schon damals durch die erzählten Sagen der Verwandten ein Funken der unausgesprochenen Wahrheit: Ihre Erzählungen von einem Kind beispielsweise, das im nahegelegenen Weiher ertrank oder vom Fluss Firat, der einst rot gefärbt gewesen sein soll, sind im Grundton düster und muten unheimlich an.

Tatsächlich zieht sich das im Roman thematisierte Schweigen über dieses dunkle Kapitel der Geschichte Anatoliens bis in die erzählte Gegenwart. Vom stark reflektierenden und vorausgreifenden Eingangskapitel einmal abgesehen überwiegen die harmlosen Kindheitserinnerungen, und die Gegenwart ist eher ein Reisebericht als eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Vergangenheit. Doch gerade damit gelingt es Çimen auf sensible Weise, das erwähnte Schweigen poetisch zu thematisieren und einen Reflexionsprozess in Gang zu setzen. Die erwähnten Gedankengänge im Eingangskapitel, die an bestimmten Stellen ins Bemühte zu kippen drohen, werden damit überflüssig. Stark hingegen sind Stellen, an denen der Text auf subtilere Weise auf Çimens Herkunftsgeschichte referiert: So findet die Erzählerin im Lauf des Romans heraus, dass der lateinische Name des Aprikosenbaums ‹prunus armeniaca› lautet. Dem Namen des Baums, der zuvor als einheimisch galt, ist die vielschichtige Vergangenheit der Region sowie ihre Verbindung zu Armenien eingeschrieben. Auf diese Weise gelingt es Özlem Çimen, die ostanatolische Landschaft metaphorisch mit ihrer Familiengeschichte zu verweben und ihre Wurzeln in einer Welt zu erzählen, die es noch immer gewohnt ist, zu schweigen.

Özlem Çimen: Babas Schweigen. 120 Seiten. Zürich: Limmat Verlag 2024, ca. 30 Franken.

Weitere Bücher