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Aus der Vogelperspektive ins Herz der Schweiz

Nach dem grossen Erfolg des Debütromans gelingt es X Schneeberger mit dem zweiten Werk «suisseminiature» erneut, mehr Fragen als Antworten zu liefern. Der Roman nimmt uns mit auf eine literarische Erkundungsreise, die nicht nur geografisch, sondern vor allem auch historisch dem Kern der Schweizer Identität auf den Grund geht.

Von Jonas Bissig
8. Dezember 2023

Die Reise, von der suisseminiature erzählt, beginnt bei der titelgebenden Schweizer Miniaturlandschaft. Von dort aus folgen wir drei Figuren, die sich erst kürzlich wiedergefunden haben, bis ins Herz der Schweiz. Das Gotthardmassiv aushöhlende Réduit, das im drohenden Ernstfall des Zweiten Weltkriegs als Rückzugsort der Schweizer Armee gedient hätte, wird ihnen zu einem geheimen Versteck und zum Fluchtweg durch die Alpen. Vieles bleibt zunächst im Dunkeln, die Kontextinformationen werden den Lesenden nur in kleinen Portionen gereicht, was dem Roman von Beginn an eine steile Spannungskurve gibt: Wieso die Reise? Wer sind die Reisenden und was ist ihre Geschichte? Und weshalb und vor wem sind sie auf der Flucht?

Zur Person

X (Christoph) Schneeberger, geboren 1976 im Kanton Aargau, lebt heute in Bern. Studium am Institut für Literarisches Schreiben in Biel und Contemporary Arts Practice in Literature an der Hochschule der Künste Bern. Unter dem Namen X (Chloé) Noëme tritt er solo oder in Gruppen als Drag Queen und Diseuse auf. Für sein Romandebüt «Neon Pink & Blue» wurde er mit dem Schweizer Literaturpreis 2021 bedacht. Mit «suisseminiature» (2023) legt Schneebergers nun den zweiten Roman vor.
Foto: © Julien Chavaillaz

Alternate Covid-History

Das Freilichtmuseum Swissminiatur, eines der Top-Ausflugsziele im Tessin, bildet das Gravitationszentrum, das die Erzählung und ihr Kosmos umkreisen. Gespiegelt findet es sich auch in den essayistischen Kapiteleinleitungen, die jeweils einem Ausstellungsstück gewidmet sind und anekdotisch auf ihr Pendant in Originalgrösse verweisen. Modellanlage und ihr realer Bildgeber, die Schweiz, sind hier gleichermassen heruntergekommen und von den Folgen des Klimawandels zerstört. Fragmentarisch erfahren die Lesenden, wie es zu einem solchen Setting kommt, das sich von der Realität ausserhalb des Romans deutlich abhebt. Der Roman erzählt einen alternativen Verlauf der Corona-Pandemie und schreibt sich damit ein in ein traditionsreiches Subgenre des spekulativen Erzählens – deren bekanntester literarischer Vorläufer aus der Schweiz wohl Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten von Christian Kracht ist –, der sogenannten alternate history. Eine Vielzahl an Lockdowns brachten den Ruin, und die Schweiz hat sich zu einem autokratischen Terrorstaat gewandelt. Das, was übriggeblieben ist, wurde durch Kriege und Naturkatastrophen hinweggefegt.

«War einmal etwas wirklich schön?»

Dieses dystopisch gemalte Bild einer unbestimmten Zukunft könnte dazu verleiten, nostalgisch über eine rosigere Vergangenheit zu sinnieren. Stattdessen stellen die Romanfiguren die Frage nach Schein und Sein: «War einmal etwas wirklich schön? Abgesehen von den Fassaden, der Kulisse? Und schön für wen?» Auf diese Weise wird etwa die Beschreibung der suburbanen Einfamilienhaus-Idylle der 80er-Jahre aus der Kindheit der Erzählinstanz aufgebrochen und damit offengelegt, dass eine solche vermeintlich paradiesische Vision der Schweiz keine Andersheit duldet. Das Misstrauen gegenüber der Gay-Community infolge der AIDS-Pandemie führt zu einem Hassmord an den im Grunde geschätzten schwulen Mitbürgern und dem adoptierten «Zigeunermädchen» muss ihre fremde Identität ausgetrieben und helvetisiert werden. Mithilfe der Erzählinstanz und der direkten Figurenreden, die die Geschichte durchkreuzen, gerät so allmählich der Mythos einer neutralen, freiheitsliebenden Schweiz ins Wanken. Vom Blindenfleck gegenüber Nazis in den eigenen Reihen über zwielichtige Machenschaften des Schweizer Geheimdienstes im Fichen-Skandal bis zur Unterstützung des Apartheid-Staates Südafrika – Schneeberger gelingt es auf raffinierte Art, alles auf einen Nenner zu bringen: «Heil dir Helvetia.»

Aus der Perspektive des Modells

Dabei gelingt es dem Roman, nicht monokausal zu moralisieren. Ambivalenzen werden offen gelegt und Opfer- und Täterrollen nicht deutlich zugeordnet, sondern vielmehr aufeinander hin geöffnet. So beispielsweise, wenn es um die Verhandlung von kolonialen Strukturen im Zusammenhang mit dem Zugang zu AIDS-Medikamenten geht: «Auf Privilegien zu verzichten, ist das Privileg der Priviligierten». Indes dient Swissminiatur nicht nur als Kulisse und thematischer Knotenpunkt, sondern bietet auch die Perspektive, von der aus der Blick retrospektiv auf die Schweiz gerichtet wird. Der Einstiegsschauplatz dient dazu, die Schweiz als den persönlichen Lebensraum der Lesenden zu vergessen und stattdessen aus der Vogelperspektive als Modell zu verstehen – ein Modell, das als das Schöne fokussierende Struktur die Realität vereinfachend abbildet, bei genauerer Betrachtung jedoch tiefe Risse in der Fassade zeigt. Sowie die Miniature-Modelle im Tessin verweist auch der Text auf eine Realität ausserhalb von sich selbst, die jedoch nicht in ihrer Vollständigkeit gefasst werden kann.

Erzählen gegen den Konsum

Schneebergers Textkomposition hält die Lesenden auf Trab. Das stete Hin und Her zwischen lexikonartigen Geschichtsbezügen, prosaischer Narration und Figurenrede, zusammen mit flinken Zeit- und Themensprüngen, die eine Wirrheit assoziativer Gedankengänge nachbilden, prägen den Schreibstil in suisseminiature. Den Roman lediglich als reines Genussmittel zu konsumieren, wird dadurch verunmöglicht. Gleichzeitig mahnt der Roman selbst, nicht als ein wissenschaftlicher Beitrag zur dunklen Seite der Schweizer Vergangenheit gelesen zu werden. Auch erzähltechnisch wird dem entgegengewirkt, indem der Text seine Figuren die eigene Komposition reflexiv kommentieren lässt, um so den konstruktiven Charakter und die Fiktivität des Textes hervorzuheben, so etwa mit einem Verweis auf seinen Wiederholungscharakter: «Sind wir hier eigentlich in einem heruntergeschriebenen Mängel-Exemplar? Gratuliere! Nur einem Bestseller gereicht es zur Ehre einer Publikation in Fehldrucken. Oder beginnst du immer wieder mal von Anfang an? Ich komme mir vor wie in einem Loop.»

Wie bereits in Neon Pink & Blue rückt schliesslich also das Erzählen selbst in den Vordergrund. Dieses Mal als das Sichtbarmachende, Aufdeckende und somit als eine Verarbeitung und Weiterentwicklung ermöglichende Komponente. Im Erzählen liegt der Hoffnungsschimmer angesichts einer dunklen Vergangenheit und einer noch düsteren Zukunft: «Wir haben etwas zu erzählen, Campiç.»

X Schneeberger: suisseminiature. 284 Seiten. Biel: Verlag die Brotsuppe 2023, ca. 33 Franken.

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