KW18

Literarische Verwachsung

Zwei Geschwister erzählen mit einer einzigen Stimme vom Aufwachsen in der Schweiz als Kinder indischer Migranten. Ralph Tharayil legt mit «Nimm die Alpen weg» einen feingliedrigen Debütroman vor, der noch viel mehr zu bieten hat als eine klassische Coming-of-Age-Geschichte.

Von Larissa Waibel
5. Mai 2023

(Wie) aus einem Mund

«Wir hören Ma und / Pa. / Sie rufen uns, // Wir stellen uns stumm. Wir zupfen an den Halmen und beissen / uns / die Wimpern aus.»

Ein Geschwisterpaar, das unisono zu erzählen beginnt, steht am Anfang und am Ende dieser Geschichte. Das erzählende «Wir» benennt die Dinge und Menschen um es herum: Da sind Ma und Pa, die Eltern, die in der Fabrik respektive im Spital arbeiten oder zuhause schlafen, die sagen, dass sie nur für ihre Kinder leben, und die eine andere Sprache sprechen: «Ma und Pa sprechen immer ihre Sprache und wir unsere». Da sind die Velos, mit denen die Geschwister zur letzten Telefonzelle im Ort fahren, um Gespräch zu spielen. Da sind die Abfalldeponie, die Praxis des Zahnarztes und die Freund:innen in der Schule, die immerzu «woher kommt ihr» fragen?

Formal handelt es sich bei Nimm die Alpen weg um eine freie lyrische Form (obwohl auf dem Cover als «Roman» gekennzeichnet), um eine Art lyrische Prosa. Der Text ist luftig gesetzt mit viel Weissraum, was durchaus gut ist: Das gibt den sorgfältig gewählten Worten Tharayils den angemessenen Raum zur Entfaltung.

Zum Autor

Ralph Tharayil, geb. 1986 bei Basel, studierte Geschichte, Medien- und Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Zeitgleich begann er als Autor, Theaterschaffender und Musiker zu arbeiten. Tharayils literarische Arbeit umfasst Prosa und Lyrik, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde, u.a. mit dem Preis für Prosa beim 25. open mike. Mit «Nimm die Alpen weg» (2023) legt er sein Romandebüt vor. Ralph Tharayil lebt in Berlin.
Foto: © Malte Seidel

Erwachsenwerden ausserhalb der Zeit

Der Roman erzählt die Geschichte der Geschwister und ihrer Eltern seltsam zeitlos: Es gibt keinen festgelegten chronologischen Ablauf der Ereignisse und abgesehen von den Jahreszeiten, die manchmal im Text aufblitzen, gibt es darin auch keine sonstigen Zeitmarker. Das Geschwisterwir gibt in kurzen, reduzierten Notaten Erinnerungen wieder, wie sie im Nachhinein geformt werden: Es lässt sich eben meist nicht abschliessend sagen, wann genau etwas geschehen ist. Einzelne Erlebnisse vermischen sich zu einem einzigen oder vereinzelte Erinnerungsfetzen nehmen im Nachhinein viel Raum ein. Wie ein Puzzle fügen sich die einzelnen Episoden zur Geschichte einer Familie zusammen.

Durch die Zeilen dieses lyrischen Romans ziehen sich Themen und Ereignisse, die wie in einem Musikstück motivisch wiederkehren: die Migration und die unterschiedlichen Erfahrungen von Ma und Pa und dem erzählenden Wir, die Enge der Schweiz, welche die Kinder am eigenen Leib erfahren. Zwischen den Geschwistern und den Eltern gibt es eine feine aber klare Trennlinie, eine Grenze der Erfahrungen, die sich im Text mit schneidender Klarheit zeigt: Ma und Pa sind ständig «beider Arbeit beider Arbeit beider Arbeit», und wenn sie zuhause sind, schlägt sich ihre Strenge in tadelnden Worten oder im strafenden Bambusstock nieder. Die Eltern betonen bei jeder Gelegenheit, dass sie sich für ihre Kinder aufopfern, ihnen ein besseres Leben ermöglichen wollen: «Sie sagen stressstressstress / euretwegen / alles / für euch». Die Grenze zwischen Eltern und Kindern bringt die Geschwister nur noch näher zusammen, macht aus ihnen nicht nur eine erzählende, sondern auch eine erinnernde Einheit: Alles haben sie zusammen erlebt.

Feinfühlige Sprachartistik

Im Inhaltstext des Verlags wird Nimm die Alpen weg als Coming-of-Age-Geschichte betitelt. Diese Zuschreibung ist entschieden zu kurzgefasst. In diesem Debüt finden sich neben der Thematik des Heranwachsens und der unterschiedlichen Migrationsgeschichte von Eltern und Kindern eine Vielfalt von weiteren Themen, nicht zuletzt vor dem Horizont seiner Formsprache. Denn durch die Reduktion und die Verdichtung einer Sprache, bei der kein Strich zu viel oder zu wenig ist, öffnet sich ein umso weiteres Feld an möglichen Assoziationen, Lesarten von Bildern, Gefühlsnuancen. Und das alles, ohne dass der Text motivisch überladen wirkt. Nimm die Alpen weg ist nicht anklagend oder spitzfindig, sondern beobachtet ehrlich, benennt ganz fein und erzeugt dabei Sprachbilder, deren Notwendigkeit man sich vorher noch nicht bewusst war. Eine grosse Kunst.

 

Ralph Tharayil: Nimm die Alpen weg. 128 Seiten. Berlin: Voland & Quist 2023, ca. 32 Franken.