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Literarische Erschütterungen

2020 gewann Anna Stern mit «das alles hier, jetzt» den Schweizer Buchpreis. In ihrem neuen Buch «blau der wind, schwarz die nacht» treibt die Autorin und promovierte Biologin ihre Poetik des Traumas nun auf die Spitze.

Von Selina Widmer
15. Januar 2024

Das Geniale an diesem Buch ist zugleich sein Problem: Es ist in jeglicher Hinsicht erschüttert. Diese für eine Trauma-Erzählung einzig richtige, lückenartige Form ist verwirrend und erschwert es, die Geschichte als Ganzes zu verstehen. Verschärft wird diese Erzählform durch eine Verwirrung der Realitätsebenen, die konsequent einer Ununterscheidbarkeit von Traum und Realität zuarbeitet. Dies kommt vor allem in der Schilderung der Figur Alva und den Textstellen zum Tragen, wo man Notizen von ihr zu lesen bekommt. Alva ist die Patientin einer weiteren Figur, die eine wichtige Rolle spielt: Hannah. Sie arbeitet als Ärztin in einem Krankenhaus, wo Alva eines Tages auftaucht. Schnell wird klar, dass sie in die Psychiatrie eingewiesen werden sollte. Da Alva das nicht möchte, nimmt Hannah sich ihrer an und stellt ihr verbotenerweise bei sich zuhause ein Zimmer zur Verfügung.

Zur Autorin

Anna Stern, 1990 in Rorschach geboren, wohnt in Zürich und studiert Umweltnaturwissenschaften an der ETH Zürich. Sterns Debüt «Schneestill» erschien 2014 im Salis Verlag, seitdem erschienen von ihr drei weitere Romane und ein Erzählband. 2015 erhielt Stern vom Amt für Kultur des Kantons St. Gallen einen Werkbeitrag für den Roman «Der Gutachter» zugesprochen. 2020 wurde ihr für den Roman «das alles hier, jetzt» der Schweizer Buchpreis verliehen.
Foto: © A. Gstettenhofer

Natur- und andere Katastrophen

Neben Alva und Hannah gibt es eine Vielzahl an weiteren Figuren und Erzählsträngen: Da sind zum Beispiel Sarah und Daniel, die ihr Kind verloren haben, da ist Florentin, der plötzlich auftaucht und bei der Waldarbeit hilft, und seine Frau Maria, die zurückgezogen im Keller lebt. Und dann ist da Lukas, Hannahs Exmann, der abgeschottet von der Aussenwelt stundenlang einen Livestream über Bären in Alaska schaut. Die seitenlangen Naturbeschreibungen und Schilderungen des Chatverlaufs zwischen den Zuschauenden veranschaulichen Lukas’ Zustand zwar wunderbar, ohne ihn auf einen Begriff zu bringen, verstanden hat man ihn jedoch schon nach der zweiten Seite. Den idyllischen Naturszenarien aus der Fernsehdoku stellt blau der wind, schwarz die nacht folglich ein Negativbild zur Seite, das eine dystopische, von Klimaveränderungen gezeichnete Welt zeigt. Der wiederkehrende Satz «es gibt nichts mehr» ist stoisches Mantra und Unheilsverkündung gleichermassen.

Poetische Bruchstücke

Obwohl extreme Situationen und Geschichten erzählt werden, ist eine drastische Ästhetik keine Option. Das wiederum ist typisch für das narrative Prinzip des Traumas. Zwar ist von einem «kackjahr» die Rede und davon, dass «alles vor die hunde» geht, doch die Katastrophen selbst werden weder benannt noch auserzählt. Mittels elliptischer Satzstrukturen wie «und man kann sich fragen. man könnte meinen.» spinnt das Buch den poetischen Stil weiter, den Stern in das alles hier, jetzt als ihre rhetorisches Kennzeichen etabliert hatte. Das Nichtbenennen macht die Dinge schliesslich nicht ertragbarer, sondern zeugt von der paradoxalen Ausgangslage, dass die Erzählung eigentlich nicht erzählt werden kann.

Neue Töne

Nicht nur hinsichtlich der Vielfalt an Figuren und Themen nimmt sich das Buch grosse Freiheiten heraus, auch in Stil und Ton bespielt der Text eine grosszügige Bandbreite. Wie schon in ihrem letzten Buch spielt Anna Stern in der neuen Erzählung mit formalen Eigenschaften: Die Kleinschreibung zieht sie konsistent durch und abschnittweise ist die Schrift schwächer gedruckt. Die neue Erzählung übertrifft die letzte aber in ihrer Stilvielfalt: Zu nüchternen Beschreibungen und fieberhaften, traumartigen Passagen gesellen sich bisweilen sogar satirisch gefärbte Bemerkungen – es ist zum Beispiel von einem «schwimmrechtsausweis» die Rede.

Eines ist jedoch klar: blau der wind, schwarz die nacht ist keine Unterhaltungsliteratur und will es auch nicht sein. In Teilen langwierig und insgesamt sperrig, trifft es mit seiner Sperrigkeit und Bruchstückhaftigkeit aber gleich zwei Nerven: den der Zeit und des Traumaprinzips. Die Figuren stolpern durch eine Welt, die ihnen keinen Halt mehr bietet; erzählen lassen sich ihre Geschichten und Probleme entsprechend nur noch kohärenzfrei, zeigen lassen sich allein Momentaufnahmen und das permanente Kreisen um eine Leerstelle. Ob man das lesen möchte, sei dahingestellt. Tut man es aber, kommt man in den Genuss eines höchst poetischen Stück Literatur.

Anna Stern: blau der wind, schwarz die nacht. 344 Seiten. Zürich: lectorbooks 2023, ca. 32 Franken.

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