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Fernlesen

Sarah Elena Müllers erster Roman «Bild ohne Mädchen» nimmt uns mit auf einen Tauchgang in die finsteren Tiefen der Geschichte eines heranwachsenden Kindes, das seine Gewalterfahrungen mit phantastischen Bildern ummantelt und beweist darin sowohl analytische Scharfsicht als auch künstlerisches Feingefühl.

Von Rahel Staubli
6. Februar 2023

Sarah Elena Müller veröffentlicht mit Bild ohne Mädchen im Limmat Verlag ihren ersten Roman. Wie die Autorin bereits im Vorfeld ankündigte, handelt es sich dabei um «etwas ganz ganz anderes» als bei ihrem Kolumnen- bzw. Szenenband Culturstress. Endziit isch immer scho inbegriffe (2021). Die unterschiedlichen Texte verbindet jedoch ein Ringen um Sprache und Sprachlosigkeit, das mit einem scharfsichtigen und einprägsamen Erzählen einhergeht. Dass Sarah Elena Müller als Künstlerin nicht nur mit geschriebener Sprache, sondern multimedial mit gesprochenen Texten, Musik bis hin zu Virtual Reality arbeitet, drückt auch in Bild ohne Mädchen durch.

Zur Autorin

Sarah Elena Müller, geb. 1990 in Amden, lebt heute in Bern. Studium der Fine Arts an der HKB, danach Regieassistenz bei KMU Produktionen Tim Zulauf (2014-2018). Müller arbeitet als freischaffende Künstlerin in Musik, Literatur, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Sie erhielt mehrere Werkbeiträge und Stipendien, u.a. vom Kanton St. Gallen (2016) und der Stadt Bern (2017). 2021 erschien ihre Kolumnensammlung «Culturestress. Endziit isch immer scho inbegriffe.» in Buchform. Mit «Bild ohne Mädchen» (2023) legt Müller ihren ersten Roman vor.
Foto: © Laura Stevens

In Bildern sprechen

Der Roman handelt von einem (namenlosen) Kind, das häufig das Bett nässt, verschlossen wirkt, wenig spricht und sich – wenn es das denn tut – vorwiegend bildhaft ausdrückt: Beim Nachbarn Ege habe es einen Engel gesehen, der es seither begleite, und es selbst sei ein Pottwal. Die Schilderungen werden von seinen Eltern sowie anderen Erwachsenen in seinem Umfeld nicht verstanden, aber etwas scheint mit dem Kind «nicht gut» zu sein. Es gerät in eine Spirale der Pathologisierung, was die eigentliche Ursache für seine Verschlossenheit nicht nur verfehlt, sondern in der Entfremdung zusätzlich verdeckt. Weiterhin besucht das Kind regelmässig den Medientheoretiker sowie Filmemacher Ege und seine Frau. Im Gegensatz zu Daheim darf das Kind bei ihnen fernsehen und sich in die Welt der Bewegtbilder flüchten. Als das Kind dann vom Kindergarten in die Schule wechselt, wird es von seinen Klassengspändli gemobbt und verprügelt. Wiederum missverstehen die Eltern und das Umfeld seine Situation, einziger Rückzugsort des Kindes bleibt das Nachbarshaus.

Das Verstehen kommt zu spät

Das Kind wird zum Mädchen und zur jungen Frau. Mit seinem Heranwachsen entwickelt sich auch die Erzählperspektive, nach und nach klären sich die kindlichen Bilder und Zusammenhänge auf: Das Kind hat beim Nachbarn Ege tatsächlich einen Engel gesehen. Dieser war zwar trotzdem «nur» ein Bild, weil er auf einem Video im Fernseher erschien und in dem Sinne auch nichts «Reales» war. Allerdings wird der Engel, Eges Sohn, im Video sexuell missbraucht. Dasselbe widerfährt auch jahrelang dem Kind, ohne dass es dies mit anderen Worten hätte erzählen können. Ihm fehlen die Sprache und die Unterstützung der Erwachsenen, das Gesehene und Erlebte einzuordnen. Sie übersehen bzw. überhören die Hinweise des Kindes und verwechseln sie mit der kindlichen Einbildungskraft. Wie zusammenhängend und präzise die kindliche Geschichte vom Engel die gewaltsamen Geschehnisse und seine Hilflosigkeit wiedergeben, wird erst beim erneuten Lesen offensichtlich – also dann, wenn es schon zu spät ist. Der Roman endet mit einem lautlosen Knall, der die bilder- und perspektivenreiche Handlung implodieren lässt.

Das Imaginäre des Realen in literarischer Präzision

Bild ohne Mädchen von Sarah Elena Müller zeichnet sich durch eine beeindruckende wie bedrückende Sensibilität und Weitsicht im Hinblick auf die Darstellung von sexualisierter Gewalt an Kindern aus. Die Erzählkomposition wirkt dabei filmisch und erzeugt in der Überlagerung der verschiedenen Bilder und Perspektiven eine schmerzhaft deutliche Aufnahme davon, wie Gewalt an Kindern übersehen, verdeckt und verharmlost werden kann. Dabei zeugt die Erzählung von einer bemerkenswerten Affinität für die gesellschaftlichen Netze, durch dessen Maschen das Kind immer und immer wieder fällt. Mitverhandelt werden zudem ganz grundlegend die Auswirkungen von Medien wie dem Fernseher auf die Wahrnehmung, die die Differenz von Erlebtem, Gesehenem und Imaginiertem, von Erfindung und Realität(en) verwischen und damit in Frage stellen. Die Geschichte, genau wie die Starre des Fernsehers, die Bilder und Töne – einerlei ob fantasiert, projiziert oder erlebt –, lassen sie sich jedenfalls nicht einfach abschütteln.

Sarah Elena Müller: Bild ohne Mädchen. 208 Seiten. Zürich: Limmat Verlag 2023, ca. 30 Franken.

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