KW46

Wie immer, nie mehr so

Anna Stern

«Es gibt die Worte nicht, die du bräuchtest.» Gerade deswegen stellt sich Anna Stern in ihrem vierten Roman «das alles hier, jetzt» der Aufgabe, auf eine neue, sehr eigene Weise von Tod und Trauer zu erzählen. Ihr Experiment wird mit dem Schweizer Buchpreis 2020 belohnt.

Von Julia Sutter
9. November 2020

No Future

Wie redet man über das Unsagbare? Wo sind Erinnerungen zu verorten? Was wird aus dem Ich, wenn das Du verscheidet? Mit diesen Fragen setzt sich Anna Sterns jüngster Roman das alles hier, jetzt auseinander. Es ist ein Buch der Gegensätze: Leben und Tod, Ich und Andere, Jetzt und Früher, das Einzelne und der Zusammenhang. Die Grenzen dazwischen verschwimmen für die Erzählfigur in ihrer Trauer. Der hinterbliebene Freundeskreis verfällt aus Angst, dass die Vergangenheit entgleitet und die Erinnerungen überschrieben werden, in eine Lähmung. Der einzige Weg, die Lücke in ihrer Mitte zu füllen, führt die Trauernden auf den Friedhof. Dort graben sie die Urne ihrer verstorbenen Freundin aus und fahren anschliessend mit einem geklauten Wagen ans Meer, um die Asche zu befreien und den Geist der Freundin loszuwerden.

Zur Autorin

Anna Stern, 1990 in Rorschach geboren, wohnt in Zürich und studiert Umweltnaturwissenschaften an der ETH Zürich. Sterns Debüt «Schneestill» erschien 2014 im Salis Verlag, seitdem erschienen von ihr drei weitere Romane und ein Erzählband. 2015 erhielt Stern vom Amt für Kultur des Kantons St. Gallen einen Werkbeitrag für den Roman «Der Gutachter» zugesprochen. 2020 wurde ihr für den Roman «das alles hier, jetzt» der Schweizer Buchpreis verliehen.
Foto: © A. Gstettenhofer

Vergangenheit und Gegenwart haben in Sterns Roman zwar bereits begonnen – fortgeführt werden können sie aber nur bruchstückweise. Und die Zukunft fehlt ganz. An die Stelle eines Kontinuums von geschlossenen Handlungssträngen treten Wahrnehmung und Gefühle. Auf das Leben bezogen bedeutet das: Der Sinn liegt im Beisammensein.

In Fetzen

Für diesen Sachverhalt findet Stern eine eigene, treffende Sprache. Ihre Schilderungen sind sehr lebhaft und die Lektüre wird durch die detailreiche Beschreibung von nackten Fusssohlen, Kälte, Schmerz oder dem Geruch verbrannten Schlangenbrots zur synästhetischen Erfahrung. Charakteristisch für den Roman sind die zahlreichen Leerstellen. Wörter fehlen und Sätze enden abrupt: «du bräuchtest nur den arm auszustrecken, um.», fertig. Oder: «als sei nicht. als ob.» So verwandeln sich Aussagen in Fragmente, die Erwartungen enttäuschen, Lücken aufreissen, manchmal zu Sinnlosigkeit führen und den Satz für immer offenlassen. Trauer und Tod greifen auf die Sprache über und dem Erzählen sterben allmählich die Worte ab. Entrissen wurde das «Was wäre, wenn…?» und das «morgen». Das Leben der trauernden Protagonisten spiegelt sich in den Satzfetzen, die bisweilen wie Schluchzer klingen: «deine gedanken laufen gegen eine wand. ananke hat hier. ihr habt hier. einst.»

Erzählen im Dazwischen

In formaler Hinsicht zeichnet sich der Roman durch ein innovatives Notationssystem aus: Die Jetztzeit steht jeweils auf der linken Buchseite und ist eher kurz gefasst. Die Vergangenheit, in der sich die Erzählfigur an gemeinsame Erlebnisse erinnert, befindet sich rechts. Die Erinnerungen, grau gedruckt, nehmen so die Gestalt eines Schattens an. Zwischen den beiden Erzählsträngen klafft eine Lücke – der Tod einer geliebten Vertrauten. Die vielen leeren Stellen auf den Buchseiten visualisieren diesen Verlust sowie auch den Kampf der Protagonistin, dieses Nichts zu füllen. Wie die Erzählfigur, die sich ständig in die Vergangenheit flüchtet, so muss sich auch der Leser immer wieder zurückerinnern, denn die zwei Erzählstränge unterbrechen sich gegenseitig und gehen nicht nahtlos ineinander über.

Stern spielt mit einer weiteren Grenze, indem sie das Geschlecht ihrer Figuren offenlässt. Bis zum Ende bleibt unklar, ob die Erzählfigur oder ihre Freunde weiblich oder männlich sind. Phantasienamen wie Egg, Ash, Vienna und Eden geben ebenfalls keinen Aufschluss. Der Übergang vom Ich zum Du wird bereits auf den ersten Seiten schwammig: Ihre Namen schenken sich die Freunde gegenseitig. Die Erzählfigur erhält den Namen Ichor, worin ihr «Ich» steckt – ihre Identität entsteht erst durch den Anderen. Das alles hier, jetzt stellt somit nicht nur Geschlechterkategorien in Frage, sondern macht diese Verunsicherung wiederum fruchtbar, um die innige Beziehung zwischen den Figuren zu veranschaulichen.

Der Roman wagt das Unmögliche: angesichts der fehlenden Worte angemessen über Trauer zu sprechen. Anna Stern zeigt eindrücklich, wie ein Ich sich selbst verliert, wenn das Du verstirbt und wie Sprache schwindet, wenn eine geliebte Person aus dem Leben scheidet. Im Spannungsfeld von Erinnern und Vergessen, nicht sprechen können und hervorsprudelnden Worten, Ohnmacht und Ausbruch aus der Enge ergibt sich ein Text, der gelungen vorführt, was ihn beschäftigt.

Anna Stern: das alles hier, jetzt. 248 Seiten. Zürich: Elster & Salis 2020, 24 Franken.

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