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Die Auferstehung der Frau

Eine alte feministische Frage wird neugestellt: Wie kommt es, dass eine junge Frau und Mutter sich in ein dunkles Zimmer zurückzieht und weder isst noch spricht? Diese Frage geht auf Betty Friedans «problem that has no name» zurück und wird in Laura Vogts drittem Roman «Die liegende Frau» neu verhandelt, der eine überraschend poetische Antwort darauf findet.

Von Eleonora Wicki
23. Februar 2024

Wer ist Nora und warum hat sie sich von der Welt abgewandt? Das fragen sich ihre beiden Freundinnen Romi und Szibilla, die sich auf eine Reise begeben um Nora aufzusuchen. Die liegt in ihrem ehemaligen Kinderzimmer im Rheintal und hat ihre Tochter der eigenen Mutter überlassen. Da Nora nicht auf die Besuche der beiden reagiert, verbringen die Freundinnen ihre Zeit damit, im Orbit der liegenden Frau zu kreisen und vor dem Hintergrund dieser weiblichen Entsagung von der Welt sich selbst zu befragen: Wer sind wir, was tun wir, was wünschen wir? Und warum?

Zur Autorin

Laura Vogt, geboren 1989 in Teufen (AR), absolvierte nach einigen Semestern in Kulturwissenschaften den Studiengang «Literarisches Schreiben» am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. 2016 debütierte Vogt als Autorin mit dem Roman «So einfach war es also zu gehen». Nebst Prosa verfasst sie Lyrik, Dramatik wie auch journalistische Beiträge. Zudem ist sie als Schriftdolmetscherin, Texterin und Mentorin tätig. Mit «Die liegende Frau» (2023) hat Vogt ihren dritten Roman veröffentlicht. Laura Vogt lebt im Kanton St. Gallen.

Die Frage nach dem richtigen Frauenleben

Als Romanfiguren repräsentieren die beiden Freundinnen zwei zunächst konträre Vorstellungen davon, was ein gutes (Frauen)leben ausmacht: Szibilla, die Antinatalistin, ist der festen Überzeugung, Beziehungen stünden der Freiheit entgegen und das Ziel müsse ein menschenfreier Planet sein. Romi hingegen hat ein Kind zu Hause beim Partner gelassen und trägt ein zweites aus. Dazu hat sie soeben einen weiteren Mann kennengelernt und will, was herkömmlich ‹Familie› genannt wird, neu definieren, indem sie sich mit einer «Verwischung der Bedeutung von Worten; Monogamie, Liebe, Familie, wir» auseinandersetzt.

Anhand der gegensätzlichen Lebensentwürfe findet in den Dialogen eine Diskussion rund um die Gegenpole Abhängigkeit vs. Freiheit, Egoismus vs. Altruismus, Tradition vs. Emanzipation statt. Immer jedoch geht es im Kern dieser Themen um die Frage der emanzipierten Frau. Die unterschiedlichen Lebensentscheidungen werden entsprechend der Vorstellungen darüber getroffen, wo das selbstbestimmteste Frauenleben zu finden sei. Dabei werfen die Frauen sich gegenseitig vor, nur vermeintlich emanzipiert zu sein: «Sprichst darüber, als würdest du was Neues kreieren. Moderne Familienbande? Polyamorie? Mehrfachabhängigkeit nenne ich das!» – Das grosse Verdienst der Erzählung liegt darin, im Dialogischen und durch die verschiedenen Innenperspektiven die gegeneinander geführten Konzepte nicht primär in ihrer Unvereinbarkeit auszustellen, sondern nebeneinander aufzufächern und als Gleichwertige anschaubar zu machen.

Perspektiven am Rande

Während die nuancenreiche Innensicht bei den Hauptfiguren dazu gereicht, die Ambivalenz der verhandelten Problematiken aufrechtzuerhalten, beschränken sich die aus der Ich-Perspektive der Nebenfiguren erzählten Stellen im Roman auf wenige Seiten und fallen dagegen eher oberflächlich aus. So vermag etwa die Darstellung von Noras Mutter nicht, ihrem Charakter die notwendige Tiefe zu verleihen; ihre Gedanken bestätigen bloss die Vorurteile, die Noras Freundinnen in Bezug auf diese Frau (und Mütter der vorangehenden Generation insgesamt) haben. Damit verpasst es der Roman, eine übergenerationelle Perspektive einzuholen und die Rolle der Mütter differenzierter zu beleuchten, was in Bezug auf die Reflexion um weibliche Selbstbestimmung ganz zentral wäre. Fraglich bleibt denn auch, inwiefern die zwei knapp umrissenen männlichen Nebenfiguren dem Anliegen des Romans zuarbeiten, da sie in dieser Form eher überflüssig wirken. Hier hätte man sich mehr Mut gewünscht, denn ein Buch, das die Perspektive von Frauen als sein zentrales Sujet wählt, dürfte das auch erzählerisch konsequent umsetzen.

Warum liegt sie?

Die Frage, wie frau den eigenen Bedürfnissen gerecht werden und selbstbestimmt leben kann, ist der Katalysator für die narrative Kreisbewegung um die «liegende Frau». Es wird nie klar ausgesprochen, warum Nora liegt. Romi meint, sie sei krank. Noras Mutter meint, sie brauche etwas Ruhe. Szibilla ist der Überzeugung, Nora befinde sich in einem emanzipatorischen Transformationsprozess: «Diesmal ist das Down vielleicht etwas ausgeprägter. Nora ist daran, sich gewisse Dinge klarzumachen. Unabhängiger zu werden.» Die von Romi gestellte Frage, wovor Nora sich zurückziehe, wird zur Leitfrage des Buches. Was sind die Anmassungen der (vielleicht schweizerischen, möglicherweise auch westlichen) Welt an eine junge Frau in ihren Endzwanzigern? In den Suchmanövern nach Antworten auf diese Frage streifen die Freundinnen Biografisches, das eng mit Strukturellem zusammenhängt. Väter, die die Familie verlassen und Mütter, die kritisieren und kontrollieren: Die biografische Aufarbeitung deutet bei allen Protagonistinnen auf Familiengeschichten hin, in denen Freiheit und Abhängigkeit zwischen den Geschlechtern nicht gleich verteilt und zu wenig reflektiert sind. Von diesen Geschichten wollen sich die drei Frauen auf je unterschiedliche Art und Weise lösen.

Neue Mythen braucht die Frau

Als die liegende Frau am Ende der Erzählung endlich spricht, sind es keine Belanglosigkeiten, die sie von sich gibt. Die Auferstehung Noras wird prophetisch inszeniert: Sie verkündet die grosse Idee, die Welt narrativ neu zu erfinden und macht sich sogleich an deren Verwirklichung. Im Neuerzählen soll die mythische Dimension gesellschaftlicher Narrative nicht nur offenbar, sondern auch veränderbar werden. «Was heisst schon ‹Wirklichkeit› in einem Mythos […] Ich nehme mir die Freiheit, das alles neu zu erzählen.» Damit kündigt Nora das Mittel für die endgültige Emanzipation der Frau an: Das Verändern, das Neukreieren von Narrativen. Und gibt auch gleich das Programm des Textes selbst preis: Die Erzählung stellt insgesamt eine Aufarbeitung der aktuellen Situation der Frau dar, die im Verlauf des Romans von verschiedenen Seiten betrachtet, reflektiert und sprachlich zu fassen versucht wird, was als erster Schritt in Richtung eines neuen Narrativs gedeutet werden kann. Das Werk enthält jedoch eine weitere, vielleicht wichtigere Antwort auf das ungelöste ‹Problem, das keinen Namen hat›. Es ist das, was jenseits des Programmatischen im Werk entsteht und das, was der liegenden Frau ermöglicht, wiederaufzustehen, zu sprechen und gehört zu werden: Eine Frauenfreundschaft von ungebrochener Solidarität, die alle Widersprüchlichkeiten aushält.

Laura Vogt: Die liegende Frau. 320 Seiten. Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2023, ca. 35 Franken.