Von Nichtigkeiten zu grossen Abwesenden

In der letzten Veranstaltung des «NZZ Tag des Lesen» sollte es am Sonntagabend im Kosmos sowohl um gewichtige Autor*innen als auch um Neuentdeckungen gehen, wenn sich traditionsgemäss die drei NZZ-Redaktor*innen Claudia Mäder, Thomas Ribi und Martina Läubli über lesenswerte Bücher der Saison unterhalten und einen fachkundigen Gast in ihre Runde einladen. An diesem Abend ist das Philipp Theisohn, Literaturprofessor der Universität Zürich und Herausgeber des Schweizer Buchjahrs. Natürlich wurden die erhofften Leseempfehlungen ausgesprochen, aber es wurden auch grundlegendere Fragen diskutiert.

Der Elefant im Raum wurde gleich zu Beginn angesprochen, denn an diesem Buch kommt man zurzeit nicht vorbei. Die langersehnte Fortsetzung von Margaret Atwoods «Der Report der Magd» wurde nach 34 Jahren und einer erfolgreichen TV-Serie mit Spannung erwartet. «The Handmaid’s Tale» heisst der erste Band im Original und kann heute mit gutem Gewissen als «moderner Klassiker» bezeichnet werden. Die Erwartungen waren also gross und ebenso gross die spürbare Ernüchterung unter den Kritiker*innen. Atwoods neuer Roman «Die Zeuginnen» hält, so die einhellige Meinung, nicht, was sein Vorgänger verspricht. So ärgerte sich Claudia Mäder während der Lektüre immer wieder über die schwache Sprache und die schematische Erzählweise: «Der Text ist anspruchslos, langweilig und vor allem vorhersehbar.» Die Chance, zu zeigen, wie die gesellschaftlichen Strukturen des ersten Teils implodieren, werde verpasst. Es würden zwar alle offen gebliebenen Fragen beantwortet, aber dadurch ginge auch die Qualität der Dystopie verloren. Durch die starke Visualisierung und expliziten Erklärungen im Text dränge sich der Verdacht einer engen Verwobenheit zwischen Buch und TV-Serie auf. Dabei stelle sich die Frage, ob Literatur in Zukunft immer mehr nach dem Serienprinzip funktionieren werde. Philipp Theisohn beobachtet diese Entwicklung bereits seit einiger Zeit, allerdings lernen die Serien wie «Game of Thrones» auch von der Literatur und funktionieren nach literarischen Prinzipien.

Als nächstes stand das Werk eines weitaus weniger bekannten Autors im Mittelpunkt. Bei «Nach Notat zu Bett» von Heinz Strunk handelt es sich um einen autofiktionalen Text. Der Ich-Erzähler Heinz ist ständig mit Projekten beschäftigt, die dann doch nie fertig werden. Sein Alltag, den er ein Jahr lang tagebuchartig festhält, ist geprägt von Ritualen und Nachbarn mit komischen Marotten. Während Heinz selber in Nichtigkeiten zu ertrinken droht, scheint man als Leser*in Gefahr zu laufen, demselben Schicksal zu erliegen, wenn Heinz beispielsweise jeden Abend minutiös seinen Google-Suchverlauf ausbuchstabiert. Hält man diesen unsäglichen Alltag zwischen Nichtigkeiten jedoch aus, stösst man auf tiefe, grundlegende Fragen und trifft mit Heinz auf einen Kulturkritiker, der sich von der Hochkultur bis zur «Trashkultur» alles anschaut und deshalb auch moralisch werden kann. Ein Buch, bei dem man sowohl lauthals lachen als auch über tiefere Dimensionen nachdenken kann.

Bachtyar Ali hingegen erzählt in «Perwanas Abend» die Geschichte zweier Schwestern. In der Stadt ist kein Platz für junge Frauen, ihre Träume, Talente und besonders nicht für ihre Liebe. Väter, Brüder und Hüterinnen des Glaubens machen ein erfülltes Leben unmöglich. So verschwindet eine nach der anderen mit ihrem Geliebten ins Tal der Liebe. Perwanas Schwester Khandan bleibt jedoch zurück und muss nun die Konsequenzen für Perwanas Verschwinden tragen. Dieser Text schwankt zwischen dem Gefühl aus Tausendundeine Nacht und einer unerhörten Brutalität, die schonungslos geschildert wird. Bestimmt kein leichter, aber dafür umso lesenswerterer Text, so sind sich die Redner*innen einig, den man bestimmt auch ein zweites Mal gerne liest, um alle Allegorien und eindrücklichen Bilder auf sich wirken zu lassen.

Den Schluss machte der neue Roman «Eine Familie» der Schweizer Autorin Pascale Kramer, mit welchem sie erneut beweist, dass sie «eine Meisterin der feinen Zwischentöne ist». Die Familie kommt zur Geburt des Enkelkindes in Bordeaux zusammen, doch alles scheint sich nur um eines zu drehen, um den, der nicht da ist. Romain, der älteste Bruder, ist stark alkoholkrank und trank sich bereits als Jugendlicher ins Koma. Alle Hilfsversuche der Familie scheitern. Der Text ist in fünf Kapitel gegliedert, die alle aus der Perspektive eines anderen Familienmitglieds geschrieben sind. Bei Kramers Liebe fürs Detail ist es wenig überraschend, dass man beim Lesen aufmerksam hinschauen sollte, wenn man herausfinden will, wieso eigentlich immer alle nur von Romain sprechen. Ist er am Ende sogar das Glied, das die Familie zusammenhält? So fasst Philipp Theisohn zusammen: «Bei diesem Roman handelt es sich um eine Deckgeschichte, und die Aufgabe des Lesers ist es, die Decke zu lüften.»

Orangensaftmaschine trifft auf Albert Einstein: Illu-Battle

Diesen Sonntag treffen sich zum ersten Mal die Illustrator*innen des Bolo-Klubs, um sich im Karl der Grosse zu messen. Der Polo-Klub wurde zum Anlass der Bilderbuchmesse in Bologna gegründet (daher der Name) und ist eine Gruppe von Illustrator*innen, die sich gegenseitig bei der Entwicklung ihrer ersten Bilderbücher unterstützen. Der Innenraum des Restaurants ist restlos gefüllt und das ist auch gut so, denn was wäre ein richtiges Battle ohne lautstarkes Publikum. Die Köpfe in den hinteren Reihen schweifen entsprechend rastlos von links nach rechts, um einen Blick auf die beiden Bildschirme zu erhaschen, auf denen die Illustrationen live mitzuverfolgen sind.

Die Spielregeln sind simpel. Es gibt vier Runden à drei Begriffen. Gespielt wird in Teams. Das Team, das durch seine Illustrationen die heftigere Reaktion beim Publikum erreicht, gewinnt und kommt eine Runde weiter. Dann wird noch mal gezeichnet, um den zweiten und ersten Platz.

Die Stifte sind gespitzt, die Finger gelockert und schon kann die erste Runde beginnen. Gezeichnet werden Begriffe aus dem Publikum. Immer zwei Begriffe pro Runde, die innerhalb von drei Minuten zu einer Illustration kombiniert werden.

Immer wieder bemerkt eine Zuschauerin erstaunt: «Drü Minute sind eigentlich no lang, gäll?» Während Traudl Bünger nach der ersten Runde anerkennend bemerkt: «Wenn ich diese Illustrationen so betrachte, würde ich sagen, man sass zwei Tage daran.» Tatsächlich, es ist faszinierend welch kleine Kunstwerke im Dreiminuten-Takt produziert werden.

Es entstehen Illustrationen zu Wortpaaren wie «Schnecke und Mangacharakter», «Stehaufmännchen und Stillschweigen», «Elefant und Kreativität», «Orangensaftmaschine und Albert Einstein», aber auch politischeren Stichwörter wie «Klimajugend und pubertierende Teenager», «Kolibri und Feministin» und «Zürcher Politik (Grüne) und Rap». Es ist offensichtlich: Die Wahlen in Zürich beschäftigen nach wie vor.

Die Autorin und Literaturkritikerin Traudl Bünger führte mit viel Witz durch das Battle und kommentierte das Geschehen, während Martin Walker, der Festivaldirektor von «Zürich liest», die anspruchsvolle Aufgabe hatte, die Punkte nach Lautstärke des Publikums zu vergeben. Und laut war es!

Am Ende zieht Martin Walker Bilanz: «Diese neue Format für ‹Zürich liest› war ein voller Erfolg und ich verspreche Ihnen, dass wir das nächstes Jahr wiederholen.» Und wir können es bereits jetzt kaum erwarten, wenn es wieder heisst: An die Stifte, fertig, los!

Zuhause beim Verlag des Jahres

Am Freitag öffnete der Rotpunktverlag seine Verlagsräume in der «Hellmi». Bereits zum zweiten Mal nach 2011 durfte die Auszeichnung zum «Verlag des Jahres 2019», der vom Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband vergeben wird, gefeiert werden.

Wahrscheinlich nicht zuletzt deshalb standen die Besucher*innen dicht gedrängt Schulter an Schulter um den grossen Tisch, auf dem sich das aktuelle Programm des Verlages präsentierte. Ein Besucherrekord durfte verbucht werden.

Die einzelnen Schritte vom Manuskript zum Buch wurden vom sechsköpfigen, ausschliesslich weiblichen Team kurz erläutert, worauf eine spontane Abstimmung über erste Entwürfe für einen neuen Buchumschlag folgte.

Der angekündigte Überraschungsgast war Marianne Sax, die Buchhändlerin aus Frauenfeld, die seit Juli das Amt als Präsidentin des Verwaltungsrates vom Rotpunktverlag innehat. Aus ihrer Heimat überraschte sie immerhin mit einem Korb thurgauischer Äpfel. Diese wurden als Entschädigung für die angekündigte, aber leider gar nicht stattfindende Lesung akzeptiert und bildeten somit das rote I-Tüpfelchen einer Veranstaltung, die gerne mehr aus ihren Möglichkeiten hätte machen dürfen.

Sprachwandel am Rämibühl

Im Rahmen von «Zürich liest» hat die Autorin Dragica Rajčić mit zwei Klassen des MNG Rämibühl zusammengearbeitet und mit den Schüler*innen über den Sprachwandel nachgedacht. Entstanden sind dabei sowohl kurze Texte als auch interaktive Ratespiele, an denen sich die Anwesenden nun probieren durften. Das Publikum, vor allem bestehend aus Verwandten der Schüler*innen, durfte an einem von vier Tischen Platz nehmen, die thematisch variierten. Nach einer kurzen Pause wurde dann gewechselt, wodurch man bedauerlicherweise zwei Tische verpasste.

Schüler*innen der Klassen 3c & 3f im Gespräch über den Sprachwandel

Dragica Rajčić unterrichtet «Literarisches Schreiben» am Literaturinstitut in Biel und vor genau einer Woche ist auch ihr neues Buch erschienen. Abgesehen von der kleinen Eigenwerbung stellte sich die kroatische Schriftstellerin nur kurz vor und überliess die Bühne dann den Schüler*innen.

Der Abend war sehr interaktiv gestaltet und die jungen Sprachforscher*innen führten gekonnt durch die Spiele und Diskussionen. Richtig langweilig bin ich mir vorgekommen, als ich fast keines der Jugendwörter aus verschiedenen Jahren kannte, deren Bedeutung wir erraten sollten. Während ich noch wusste, was ein «Smombie» für eine schlechte Angewohnheit hat (Smartphone-Zombie), konnte ich mir nur zusammenreimen, welcher Beschäftigung die Jugendlichen nachgegangen sind, wenn sie 2015 «rumoxidierten» oder 2011 «guttenbergten». Blieb der kleine Trost, dass all das ja längst wieder zum Schnee von gestern gehört.

Mit freiem Geist und einer Portion Stille

… starteten Michelle und ich am Mittwochabend mit einer Runde Yoga ins diesjährige Zürich liest.

Ein Literaturfestival gerade nicht mit Literatur zu starten – ein Widerspruch? Wenn es nach Ben Rakidzija geht, nicht. Durch 30 Minuten Silent Flow, einen freien Yoga-Stil, haben wir nun einen freien Kopf und sind perfekt auf die vielen neuen Eindrücke und Informationen der nächsten Tage vorbereitet.

Bleibt nur noch zu hoffen, dass wir auch selbst das ein oder andere Mal daran denken, eine gerade Körperhaltung einzunehmen und kurz tief einzuatmen, um dem Kopf eine kleine Pause zu gönnen. Besonders in der Welt des Denkens und des Bücherwälzens ist es wichtig, die umherirrenden Gedanken auch einmal fortzuschieben.

Den Abend beendet Ben Rakidzija mit wenigen Worten, die uns zum Nachdenken anregen sollen. Bei «Zürich liest» steht dieses Jahr das Thema Sein und Schein im Zentrum. Beim Yoga gehe es jedoch vielmehr um das Gegensatzpaar Sein und Haben. Es gehe für einmal nicht darum etwas zu haben oder mit einer Yoga-Position etwas zu erreichen. Man möge einfach sein.

Michelle Holz und Laura Barberio

Für uns bei «Zürich liest»: Laura Barberio

Ist sie nun wirklich schon zum dritten Mal dabei? Darf sie sich erneut ins Treiben von «Zürich liest» mischen, oder trügt der Schein? Sein oder Schein lautet bekanntlich das diesjährige Motto, von dem Laura Barberio sich gerne inspirieren lässt. Beispielsweise indem sie mit Thomas Strässle über die «Erfindung der Wahrheit» nachdenkt.

Sie freut sich darauf, einen Blick hinter die Kulissen des Rotpunktverlags zu werfen und sich mit Demian Lienhard auf eine Tramfahrt durch Zürich zu begeben. Auch mit dem Sprachwandel wird sie sich beschäftigen und dabei abtauchen in die Tiefen des Grimmschen Wörterbuchs und lauschen, wenn Gymischüler*innen sich mit diesem Thema beschäftigen.

Ganz besonders freut sie sich jedoch auf eine Reise in ihre Kindheit. Die kleine Raupe Nimmersatt feiert Geburtstag und wird 50 Jahre alt. 

Vom literarischen Terzett der NZZ erhofft sie sich einen lustvollen, gerne auch bissigen Abschluss, um mit ein paar neuen Buchempfehlungen den Heimweg anzutreten.