Locko mit Besteckung

Latenightlotto gibt’s im Karl mit René Gisler und dem «Thesaurus Rex», einem schwergewichtigen kommentierten Wörterbuch der Neologismen. Begonnen hat das Gemeinschaftsprojekt 2006 mit dem Blog „enzyglobe“, geendet hat es mit 16.000 Einträgen – nun ist es gedruckt im Gesunden Menschenversand erschienen. Und Lottospielen geht damit ganz einfach. Zwei Reihen mit fünf Wörtern aus dem guten Buch, der Spielleiter verliest Wort um Definition, wer einen Treffer hat, versinkt – äh, klebt einen Punkt. Und wer eine Reihe hat, gewinnt. Zur Nachahmung zu empfehlen!

Das Buch zum Spiel kostet 107 Franken.

© thesaurusrex.ch

Sprachwandel am Rämibühl

Im Rahmen von «Zürich liest» hat die Autorin Dragica Rajčić mit zwei Klassen des MNG Rämibühl zusammengearbeitet und mit den Schüler*innen über den Sprachwandel nachgedacht. Entstanden sind dabei sowohl kurze Texte als auch interaktive Ratespiele, an denen sich die Anwesenden nun probieren durften. Das Publikum, vor allem bestehend aus Verwandten der Schüler*innen, durfte an einem von vier Tischen Platz nehmen, die thematisch variierten. Nach einer kurzen Pause wurde dann gewechselt, wodurch man bedauerlicherweise zwei Tische verpasste.

Schüler*innen der Klassen 3c & 3f im Gespräch über den Sprachwandel

Dragica Rajčić unterrichtet «Literarisches Schreiben» am Literaturinstitut in Biel und vor genau einer Woche ist auch ihr neues Buch erschienen. Abgesehen von der kleinen Eigenwerbung stellte sich die kroatische Schriftstellerin nur kurz vor und überliess die Bühne dann den Schüler*innen.

Der Abend war sehr interaktiv gestaltet und die jungen Sprachforscher*innen führten gekonnt durch die Spiele und Diskussionen. Richtig langweilig bin ich mir vorgekommen, als ich fast keines der Jugendwörter aus verschiedenen Jahren kannte, deren Bedeutung wir erraten sollten. Während ich noch wusste, was ein «Smombie» für eine schlechte Angewohnheit hat (Smartphone-Zombie), konnte ich mir nur zusammenreimen, welcher Beschäftigung die Jugendlichen nachgegangen sind, wenn sie 2015 «rumoxidierten» oder 2011 «guttenbergten». Blieb der kleine Trost, dass all das ja längst wieder zum Schnee von gestern gehört.

Berge, Comics, Mittelmeer

Zum Buchort wird in diesen Tagen ganz Zürich, doch die literarischen Schauplätze verstecken sich zuweilen. Im Stadtkreis vier befinden sich auf wenigen Straßenzügen gleich eine ganze Menge von ihnen: Buchhandlungen, wie man sie nur in Büchern vermutet. Michael Guggenheimer und Heinz Egger haben es sich zur Aufgabe gemacht, in ihrem Blog buchort.ch besondere Buchhandlungen, Antiquariate, Bibliotheken und Lese-Cafés vorzustellen – in der Schweiz, Europa und darüber hinaus. Heute zeigen sie uns in einem Stadtspaziergang sechs der schönsten, speziellsten und geschichtsträchtigsten Buchläden direkt vor unserer Haustüre.

Gleich neben dem Stauffacher kann man zum Mittelmeer reisen. Die Buchhandlung mille et deux feuilles in der Glasmalergasse bietet Originale und Übersetzungen rund um dem mediterranen Raum. Sie birgt Schätze, die teilweise eigens über Kontakte und Importe hier landen. Die Artischocke im Logo ist nicht nur Motiv für den Namen, sondern steht auch sinnbildlich für die Mission des Ladens: Einladen zum Blättern rund um eine vielseitige Geografie, deren Herz in den letzten Jahren zum Schauplatz vieler Kriege und Schiffbrüche geworden ist.

Im Piz gibt’s alles rund um die Berge. Ihr 22-jähriges Bestehen feiert die Buchhandlung an diesem Tag. Der Inhaber Lieni Roffler ist ehemaliger Bergführer und Architekt und versammelt in seinem kleinen Laden Wanderkarten, Romane, Postkarten, Bildbände und Berglyrik. Auch er bemüht sich redlich um Importe aus aller Welt. Geschenke verpackt er in alte Landkarten und so bekommen auch wir zur Feier des Tages einen geografischen Umschlag mit einer Reliefkarte des Alpenraums.

Dass es solche monothematischen Buchhandlungen besonders heute nicht leicht haben, liegt auf der Hand. Geplant war auch ein Abstecher zu ZentRus, der russischen Buchhandlung, die mit Zürich eine lange Geschichten verbindet. Doch sie musste Ende August aus finanziellen Gründen schließen. Und so bleibt uns nur die Einsicht in das noch bestückte Schaufenster.

Im Piz gibt’s alles rund um den Berg.

In direkter Nachbarschaft besuchen wir das Haus der Bibel und die Comicbuchhandlung Analph, die neben deutschen und englischen Comics und Graphic Novels alles bietet, was Fans haben wollen: Figuren, Plakate und antiquarische Ausgaben. Ihr Name spielt mit dem Vorurteil, mit denen der Comic und seine Leser*innen konfrontiert sind, nämlich Analphabeten zu sein. Und dass der Comic mehr kann, zeigt diese breite Auswahl in der Tat.

Die Comicbuchhandlung Analph

Nicht fehlen darf schließlich die Buchhandlung im Volkshaus, in deren „Katakombe“ viele geschichtsträchtige Lesungen stattgefunden haben. 1927 als Genossenschaft gegründet, hat sie ein besonderes linkspolitisches Profil. Neben Literatur und Politik findet sich hier alles zur Psychoanalyse – und auch dem Fußball ist ein eigenes Regal gewidmet. 1948 las Bert Brecht zu seinem 50. Geburtstag drei Gedichte vor, und auch Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Mascha Kaléko sind nur einige Stimmen, die hier hörbar geworden sind.

Zum Stöbern bleibt am heutigen Abend nur wenig Zeit. Also kommen wir ein andermal wieder. Und wer Lust hat auf mehr: Der buchort.ch bietet über 200 weitere Porträts spannender Literaturorte an, die es noch zu entdecken gilt.

Nur Mehl, Salz und Wasser und Worte

Das sogar Theater erzählt mit «Soldat Kertész!» die grausam wunderliche Geschichte eines jungen Mannes, der vom Motorrad und aus der Sprache gefallen ist. Das Stück fordert aber kein Mitleid, sondern Verantwortung.

Zoltán steht, noch bevor das Publikum sich gesetzt hat und das Licht gedimmt wird, steif mit dem Gesicht vor der Wand. Im ausgebeulten Wollpullover wirkt er dürr, sein Blick fällt starr durch die Wand. Dann beginnt er zu erzählen, ohne eine Bewegung, dafür in überbetontem Bühnendeutsch, das jedes «O» weit aufmacht und mit jedem «F» die Luft zerschneidet. Zoltán erzählt, wie er vom Bäckermeister verprügelt wurde, nur weil er die frische Hefe bemängelte. Wie ihm davon ein derart starkes «Schläfenflattern» blieb, dass er «wie ein Mehlsack» vom Motorrad fiel, als sein Vater ihn abholte. Da sei er «blöd» geworden, und seither verstehe ihn niemand mehr so richtig.

Der Sturz hat Zoltán irgendwo neben die Sprache verrückt, von wo aus er sie neugierig betrachtet und in einzelne Buchstaben zerteilt. Dann steht der «König der Kreuzworträtsel» verloren irgendwo auf der Bühne mit hängenden Armen und versucht, die harten Worte der anderen zu V-E-R-S-T-E-H-E-N. Den Wunsch seiner Eltern, dass er, der «zwischen den Schenkeln eine Blume statt einen Schwanz» habe, ein Mann werde. Die widersinnigen Befehle seiner Vorgesetzten im Militär. Aber Zoltán hat alle Sprachspiele verlernt, bewegt sich auf der wörtlichsten aller Ebenen ganz nah an der Sprache der anderen, aber nie in ihr drin. 

Folgerichtig hören wir von Zoltáns Welt auch nur von Zoltán, treffsicher gespielt von Jonas Gygax. Die sprachliche Isolierung, bereits in der künstlichen Prononcierung materialisiert, findet auch körperlich statt. Gygax steht meist wie hingestellt irgendwo im Raum, ohne auf sein Umfeld zu reagieren. Mittig ein blosser Tisch, rechts noch ein portabler Backofen. Die fast leere Bühne teilt sich Gygax nur mit einem stummen Robert Baranowski, der in gutmütiger Ruhe vor sich hin backt. Die disparaten Bewegungen entfernen die zwei voneinander, sodass sie sich nur in kurzen Momenten finden. Diese häufen sich allerdings, sobald wir in Zoltáns Partner seinen dickleibigen, schüchternen Freund Jenő erkennen. Der versteht ihn zwar auch nicht wirklich, anerkennt aber seinen Appell an einen Dialog und nähert sich ihm im Stück auf nicht-sprachlicher Ebene an. So kulminiert das Freundschaftsglück im gemeinsamen Zöpfeln des Teigs. Schade nur, dass die Rolle nicht wirklich zu Baranowski passen will und viel zu eindimensional wirkt. 

Regisseurin Ursina Greuel hat die die Inszenierung aufs Nötigste reduziert, um dem Text selbst soviel Platz wie möglich zu machen. Diese Entscheidung ist nachvollziehbar, bedenkt man die Vorgeschichte des Stoffes. Bereits vor fünf Jahren, und damit vor seiner Zeit als Protagonist im Roman Schildkrötensoldat, war Zoltán am Theater Basel zu sehen. Da wurde der Monolog aber stark dramatisiert, will heissen szenisch auf mehrere Figuren verteilt, was die Fabel zu eindeutig werden liess. Der Autorin selbst schien Literatur dazumal «geradezu unvereinbar mit dem Theater zu sein». Unter ihrer Mitarbeit hat der Stoff nun aber eine minimalistische Form gefunden, in der ihre formal vielschichtige Prosa nun auch gesprochen funktioniert. 

Aber warum soll man einen Stoff, der so gut als Roman funktioniert, überhaupt für die Bühne adaptieren? Nicht für den dramatischen Konflikt, wie es das Theater Basel versucht hat. Aber im Modus des Erzählens erscheinen die metaphorischen und sprichwörtlichen Elemente der Sprache, die Zoltán nicht als solche erkennen kann, wie märchenhafte Vorkommnisse seiner Welt. In diesem Zerrbild tritt uns unscheinbares Übel, das in geronnener Sprache normalisiert wurde, wieder klar in Erscheinung. Damit nimmt das Stück das Publikum in die Verantwortung, die explizite Appellation («Hören Sie überhaupt noch zu?») an unsere Ohren auch aus dem Theater rauszutragen. Denn letztendlich geht es Abonji neben der Ethik poetischer Verfahren auch immer um die Ethik wirklicher Handlungen. Jenő stirbt auf einem Marsch, weil niemand auf seine Bitten anzuhalten hört. Auf eben diese Art wurde der Schweizer Rekrut Pierre-Alain Monnet in den Tod getrieben. Nicht zu hören, heisst zu töten. Das versteht Zoltán von der Welt. 

Halten wir das noch 7 Milliarden Jahre durch?

Erwartungsfroh stehen wir vor den Türen des Kaufleuten, die für uns an diesem Abend die Türen zur Literatur-(Kritik-)Welt bedeuten. Schon lange schwelgen wir in Vorfreude auf „Zürich liest“, wo wir uns nach den Solothurner Literaturtagen wieder als Literaturkritiker*innen versuchen werden. Motiviert schnappen wir uns ein Glas Wein und mischen uns unter die Gäste, halten Ausschau nach den Grössen des Literaturbetriebs. Wir erhoffen uns von der festlichen Eröffnung des Festivals Inspiration und Motivation für die kommende Woche.

Unter dem Motto „Sein und Schein“ führt uns „Zürich liest“ in die Gegenwart und Zukunft der Literatur und des Erzählens: Mit der neusten VR-Technologie reisen wir durch virtuelle Räume, mit Christoph Keller und Marcel Hänggi in die Klimazukunft und mit den vier Nominierten des diesjährigen Buchpreises in einen Literaturbetrieb, in dem mehr und mehr weibliche Stimmen vertreten sind. Erwartungsvoll gehen wir also durch diese Tür, um uns von Denis Scheck, Steiner & Tingler und den Organisator*innen auf das Festival einstimmen zu lassen.

Zwei Stunden später verlassen wir das Kaufleuten durch ebendiese Tür, wider Erwarten etwas ernüchtert: Die Frage, die uns als „Literatur-Frischlinge“ noch auf dem Weg nach Hause nicht mehr aus dem Kopf geht, lautet: Wie geht es überhaupt weiter mit der Literatur und Literaturkritik? Oder um es in Philipp Tinglers Worten zu formulieren: Halten wir noch sieben Milliarden Jahre durch?

Die Literaturkritiker*innen Steiner & Tingler streiten sich vor Publikum über den Klassiker Mephisto von Klaus Mann und über Sally Rooneys „Gespräche unter Freunden“, das als Stimme der Millenial-Generation gilt. Obwohl Nicola Steiner das Buch vor Philipp Tinglers Angriffen zu verteidigen versucht, muss auch sie zugeben, dass sie zu dieser Lebenswelt keinen Zugang mehr hat. Obschon dieses Buch nur exemplarisch für die Gegenwartsliteratur diskutiert wird, scheint man in diesem Saal von der neuen Generation von Autor*innen nicht viel Grossartiges zu erwarten.

Denis Scheck spricht in seiner Festrede zwar zu Beginn noch wohlwollend von den vielfältigen Dialekten und Stimmen, die sich zur deutschsprachigen Literatur zusammenfügen. Jedoch scheint auch bei Scheck die Frage zu dominieren: Was ist von der Literatur und ihrer Kritik denn überhaupt noch übrig? Scheck findet Trost in der Gewissheit, dass in spätestens sieben Milliarden Jahren sowieso alles untergehen wird – gute wie schlechte Literatur; gute wie schlechte Literaturkritik.

Trotz scheinbarer Endzeitstimmung im Literatur-(Kritik-)Betrieb, sind doch sieben Milliarden Jahre noch eine lange Zeit – vor allem für Millenials wie uns – um die Literatur und ihre Kritik zu feiern. Begnügen wir uns vorerst mit den nächsten Tagen.

Livia Sutter und Andrina Zumbühl