So gar nicht «nicht schlecht»: Lesung von Thomas Meyer

Ich bin eigentlich 20 Minuten zu früh dran, muss mich jedoch, nachdem ich das Obergeschoss des Micasa Pop-up Stores erreicht habe, mit einem Blick auf die Uhr noch einmal absichern. Ich fühle mich, als wäre ich 20 Minuten zu spät. Der umfunktionierte Teil der Verkaufsfläche ist rappelvoll. Die 50 weissen Klappstühle sind längst besetzt und so wird die ungewöhnliche Location der Lesung am Samstagmorgen zu einem Glücksgriff. Wo sonst könnte man auf der Suche nach Sitzgelegenheiten besser fündig werden als in einem Möbelgeschäft? Kurzerhand schaffen die Organisierenden Sitzsäcke, Hocker, mehr Stühle heran, einige Zuhörende dürfen sogar auf einem Bett lümmeln. Vorne in der Ecke steht ein blaues Sofa – noch mit Preisschild versehen. Thomas Meyer nimmt, farblich passend zum Sofa gekleidet, pünktlich um 11 Uhr auf besagtem Sofa Platz. Vor lauter Menschenköpfen vor mir kann ich Meyer kaum noch sehen und muss den Hals recken, um doch noch einen Blick auf ihn zu erhaschen, was jedoch meinem Vergnügen keinesfalls einen Abbruch tun wird.

Er habe etwas getan, was seinem Autorenego nicht gut tue, meint Meyer zu Beginn. Er habe nämlich auf Amazon Rezensionen zu seinem neuen Buch «Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin» gelesen und liest sogleich ein – natürlich nicht positiv ausfallendes – Exemplar vor.

Darauf rekapituliert er kurz den Ausgang des ersten «Motti-Romans». Er hole «Motti nun nach sieben Jahren (Meyer veröffentlichte den ersten Wolkenbruch-Roman 2012) wieder aus seinem Hotelzimmer», in welches Motti sich am Ende des ersten Buches geflüchtet hatte.* Nun beginnt Meyer die Lesung. Von dem Motti, der zu Beginn des ersten Buches illustriert wurde, ist gewiss nicht mehr viel übrig. So wenig nämlich, dass sich dieser kaum mehr im Spiegel wiederzuerkennen vermag. Nach dem Bruch mit seiner jüdischen Familie (in einer jüdischen Zeitung entdeckt Motti sogar seine eigene Todesanzeige), stellt sich ihm nun ein Herr Namens Gideon Hirsch vor, welcher ihn in die Gruppe der «verlorenen Söhne Israels» aufnehmen möchte. Obwohl Motti überrumpelt und skeptisch ist, wird er, ehe er sich versieht, Orangenfarmer in Tel Aviv. Und das ist erst der Anfang…

Thomas Meyer liest jeweils mehrere Seiten am Stück, erzählt dazwischen zusammenfassend, was passiert und setzt an einem späteren Zeitpunkt im Buch wieder an. Anders als beim ersten Buch verfügt der neue Roman über zwei, zu verschiedenen Zeiten angesiedelte Erzählstränge. Einer davon schildert natürlich Mottis Weg, in dem seine Mame nicht fehlen darf, auch wenn er mit seiner Familie zuvor gebrochen hat. Eine nach wie vor streitlustige Dame, die am besten weiss, wie Matzenknödel zubereitet werden und sich darüber lautstark mit «Schoschanna», dem jüdischen Pendant zu Alexa, streiten kann.

Das Publikum ist an diesem Samstag hervorragend aufgelegt, lacht durch die gesamte Lesung hindurch viel und auch ich muss immer wieder schmunzeln. Dazu kommt, dass Meyers Lese- und Erzählstil schlicht fabelhaft sind. Seine Stimme ist kräftig, erfüllt das gesamte Obergeschoss, Intonation und Stimmfarbe sind ruhig und mitreissend zugleich. Und so gelingt es ihm, sowohl Motti als auch dessen Mame (mit ihren nicht selten geäusserten Kraftausdrücken) so authentisch zu illustrieren, dass ich mich keineswegs darüber wundere, dass er das zum Roman dazugehörige Hörbuch ebenfalls selbst liest.

Nachdem Meyer nach 45 Minuten die letzte Passage liest – wobei er den Ausgang selbstverständlich nicht verrät – fühle ich bereits so sehr mit Motti mit, dass ich sofort das Ende erfahren will. Zum Abschluss hat Thomas Meyer sich etwas besonderes überlegt: Er liest einige Begriffe aus Meyers kleinem Taschenlexikon (seinem eigenen Taschenlexikon) vor. Darin hat er über 150 verschiedene Begriffe neu und scharfsinnig pointiert definiert. «Nicht schlecht» definiert er so beispielsweise als «schlecht».

Ich werde die Lesung definitiv weder als «nicht schlecht» noch «schlecht» (wobei dies ja das Gleiche zu sein scheint) in Erinnerung behalten und bin nach diesem Morgen definitiv bekennender Thomas-Meyer-Fan.

*Die erzählte Zeit im Roman umfasst jedoch keinen Unterbruch von sieben Jahren. Der Übergang ist nahezu nahtlos.

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