Der Vorleser stiehlt die Show

Das Café Odeon ist an diesem Samstagmorgen bis auf den letzten Platz ausgebucht. 60 Besucherinnen und Besucher sitzen eng nebeneinander, nippen konzentriert an ihren Cappuccinos und frischen Orangensäften und bemühen sich sichtlich, das Frühstücks-Dickicht aus Gläsern, Tassen und Tellern auf den kleinen Bistro-Tischchen nicht umzustossen. Als Hauptakteure der Frühstücks-Matinee fungieren jedoch nicht die Frühstücksspeisen, sondern die neuentdeckten Romane von Ulrich Alexander Boschwitz «Der Reisende» und «Menschen nebem dem Leben», aus denen Schauspieler Thomas Sarbacher Textstellen vorlesen wird, und der Berliner Verleger Peter Graf.

Menschen neben dem Leben von Ulrich Alexander Boschwitz, Klett Cotta 2019

Im Grunde kennt man das Café Odeon ja eigentlich in keinem anderen Zustand als «gut besucht» und weiss um die lärmende Geräuschkulisse und die heikle Mission, nur schon einen Platz für zwei finden zu können. Die Idee, in dieser Kulisse eine Lesung abzuhalten, wirkt akustisch daher durchaus ambitioniert. Während Peter Graf einleitende Worte zum Autor verliert und die Hintergründe seiner literarischen Wiederentdeckung erklärt, ist das Publikum erstaunlich ruhig. Nur manchmal hört man das leise Scheppern einer etwas zu achtlos hingestellten Kaffeetasse oder ein Verschlucken, das sich in nonchalanten Räuspern tarnt. Die zwei Romane Ulrich Alexander Boschwitz‘ erschienen, als Deutschland unter dem NS-Regime stand. Er schrieb im Exil, wurde immer wieder ausgewiesen und schliesslich nach Australien in ein Internierungslager abgeschoben. Auf der Hinfahrt 1940 verscholl das Skript eines noch unveröffentlichten Romans. Auf der Rückfahrt nach England im Jahr 1942 wurde der Dampfer, auf dem sich Boschwitz und das Skript seines vierten und ebenfalls unveröffentlichten Romans befanden, torpediert und die beiden versanken tragischerweise in den Untiefen des Meeres. Dem frühen Tod des jungen Autors ist es geschuldet, dass die beiden im Exil erschienenen Romane und in Übersetzungen erstpublizierten „Menschen nebem dem Leben“ auf Schwedisch (Människor utanför, 1937) und „Der Reisende“ auf Englisch (The man who took trains, 1939) fast den ganzen Umfang seines literarischen Nachlasses ausmachen.

«Menschen nebem dem Leben» ist ein Berlinroman, der Ähnlichkeiten mit Alfred Döblins «Berlin Alexanderplatz«, Hans Falladas «Kleiner Mann – was nun?« und Irmgard Keuns «Das kunstseidene Mädchen» aufweist. Im Resonanzraum der Neuen Sachlichkeit trifft Boschwitz jedoch seinen eigenen Ton und einen lakonischen Humor, der einen sowohl zum Lachen bringt als auch immer ein wenig zerreisst. Es geht um Menschen, die aus der Gesellschaft herausgefallen sind und denen als einziger Lebensinhalt das Überleben bleibt. Der blinde Kriegsveteran Sonnenberg handelt mit Streichhölzern um seine Existenzsicherung, seine Frau ergötzt sich an Schaufenstern und tanzt im Lokal Freudenberg fremd, Kleinkriminelle träumen vom ganz grossen Coup und haben dann doch zu viel Angst, um ihn zu verwirklichen, das organisierte Verbrechen tarnt sich als Liederkranz und gutbetuchte Bibliotheksgänger investieren mit ihren Spenden nicht in die Armen, sondern in den Aushang ihres eigenen Edelmuts. «Man weiss so viel vom Unglück der anderen, wie man wissen will», liest Thomas Sarbacher mit seinem charakterstarken Timbre. Sowohl für die Erzähl- als auch die Figurenreden entwirft Sarbacher jeweils eigene Tonlagen, die von keck bis träumerisch reichen, und lässt die zahlreichen Dialoge des Romans so lebendig wie ein Theaterstück erschallen.

Die Bistrot-Tische im Café Odeon sind an diesem Morgen am Rande ihrer Kapazität.

Auch wenn man noch keinen der Boschwitzen Romane selbst gelesen hat, ist man nach wenigen Minuten mitgerissen und findet sich in der urkomischen, zuweilen lakonischen und immer tief menschlich erzählten Figurenwelt versunken. Wer ab und zu den Literaturclub des Schweizer Fernsehens schaut, kennt die fesselnde Kraft von Thomas Sarbachers Sprechstimme bereits. Beim Lesen live anwesend zu sein, verstärkt die Erfahrung jedoch um ein vielfaches. In seinen Sprechpausen hätte man im Café Odeon eine Nadel fallen hören können, so gebannt waren die Zuhörenden. Es ist ein unfairer Glücksfall, eine Stimme zu besitzen, die selbst das Vorlesen eines Telefonbuchs zum Plausch machen würde. So schleicht sich nach der Veranstaltung sogleich ein Bedauern darüber ein, dass man sich Thomas Sarbacher nicht einfach ausborgen kann, damit er einem den Rest des Buches auch noch vorliest. Dass das Hörbuch ein anderer spricht, ist dann einfach nur gemein. Vielleicht tröstet ja das Selbstlesen von Boschwitz‘ Roman darüber hinweg. Ich rate auf jeden Fall, es zu versuchen.

Schlickerfürzchen

Eine kleine Reise durch die «alphabetischen Prozessionen» (Mark Twain) des Grimm’schen Wörterbuchs. Abgelauscht von Peter Graf und Thomas Sarbacher. Nachzulesen in der UNGEMEIN EIGENSINNIGEN AUSWAHL UNBEKANNTER WORTSCHÖNHEITEN AUS DEM GRIMMSCHEN WÖRTERBUCH (Verlag Das Kulturelle Gedächtnis 2018).

Berufsameise

blitzzwiebelblau

Entschuldigungsschwamm

Fegefeuerlebensminute

fotzdudeln

Frühstücksfehler

Furzauflese

geilreizig

Gelehrtenschlendrian

Genieunwesen

Glückseligkeitschimäre

Halbverdeutschung

Haufenmacherin

Heiligenfresser

Hummelhirn

Idealheld

Jetztberührt

kitzelgierig

Krokodilist

Kummerverlächelung

Muttersprachverächter

Nichtigkeitsbeschwerde

Ohrfeigenkommando

Pisssteuerzahler

Prachtlustgezelt

Probegeliebte

Quälodram

Ranzenreiter

Sausödel

Schlickerfürzchen

Sprachmenschwerdung

Tollhausbibliothekar

Unabkömmlichkeitsbescheinigung

Verführschamlehre

Verhässlichungskunst