Von Sinnen

Am Schluss dieses Abends werde ich mit einer Islamwissenschaftlerin, einer Mäzenin, einem Physikdoktoranden, zwei Bibliothekarinnen und einer Germanistikstudentin über Sexualität, den Kosmos, Frauen in der Politik, Mammutjäger, Greta Thunberg und den Schweizer Buchpreis gesprochen gehaben. Wie es genau dazu kam, bleibt mir selbst ein wenig rätselhaft. Aber gehen wir erstmal zum Anfang.

Die Lesung drehte sich um die westliche und östliche Sicht auf die Weiblichkeit und fand im Hammam Basar + Salon Zürich statt. Der Abend ist eine Hommage an die 2015 in Rabat verstorbene Fatima Mernissi, die sich zeitlebens mit der Stellung der Frau in der arabischen Welt befasste. Die deutsche Schauspielerin Susanne-Marie Wrage las ausgewählte Textausschnitte aus ihrem vergriffenen Buch «Harem. Westliche Phantasien, östliche Wirklichkeit». Die Besucherinnen, mit denen ich im Vorfeld der Lesung sprach, haben den Osten oftmals selbst bereist und erzählen von einprägsamen Eindrücken: Den Verschleierungen an einem iranischen Markt oder dem unangenehmen Ausweichen von Blicken im Tibet, weil man nicht dazu gehört. Noch bevor die Lesung überhaupt angefangen hat, liess sich an den Sprechweisen ablesen, wie stark die Wahrnehmung visuell sowohl über das Gesehene als auch über die geernteten Blicke läuft und dass sie ein gewisses Stimmungsbild prägen. Anwesend waren vierzehn Besucherinnen und ein Besucher – ein Physikstudent, der mit seiner Freundin da war.

Der Lesesaal im «Hammam Basar + Salon» ist gleichzeitig Foyer und Ladenraum.

Die Texte Mernissis setzen keinen intellektuellen Überbau voraus, sondern blicken unverfroren auf die Selbstwahrnehmung der Frau in unterschiedlichen Kulturen. Es geht um Schönheitsideale, Harems, die islamischen Erklärungsmodelle sexueller Ungleichheit, männliche Psychen und die Geschichten aus «1001 Nacht». Scheherazade, die mit erotischen Geschichten jede Nacht von Neuem um ihr Leben liest, wird zur Ursprungsfigur der Verstrickung von Sexualität und politischem Kalkül und erscheint wiederholt als Fluchtpunkt, auf den die vorgelesenen Textstellen hinströmen. Als Susanne-Marie Wrage vorlas, dass «das Hirn die mächtigste erotische Waffe der Frau ist», nickte das vorwiegend weibliche Publikum gedankenverloren. Mit der pointierten Textstelle «Gedankenloser Sex hilft niemandem weiter» beschloss Mernissis ihre Lesung. Immer wieder fragen die Texte, wie Phänomene des Ostens aus der Perspektive des Westens wahrgenommen werden. Wer ist Scheherazade aus dem Blickwinkel westlicher Künstler? Wieso sind ihre Körperproportionen hier so viel schlanker als in der bildenden Kunst des Ostens, die sie so viel üppiger zeigt? Die Texte von Mernissi befragen den paradoxen Sachverhalt, dass verschiedene Kulturen dieselben Phänomene so unterschiedlich und dann wiederum sehr ähnlich darstellen. Die Antwort darauf verortet Mernissi in den defizitären Sinnesinstrumentarien des Blickes. Damit verweist sie uns auf das aufklärerische Dilemma schlechthin und hält uns vor Augen, dass wir nicht verstehen können, weil die Differenz bereits in die Wahrnehmung eingeschrieben ist.

Das Nicht-Verstehen liegt aber immer auch in der prinzipiellen Unübersetzbarkeit von Sprachen begründet. Im Türkischen gibt es beispielsweise ein Wort für Sex, das sowohl Beischlaf als auch Verhandlung bedeuten kann oder einen Ausdruck für das Reden in der Nacht, der gleichzeitig «Schatten des Mondes» bedeutet. Es ging an diesem Abend nicht nur um den westlichen Blick auf die östliche Weiblichkeit, sondern auch um den Blick auf die eigene. Wann war die Besucherin das letzte Mal selbst die Scheherazade im Kleinen? Wann hat sie das letzte Mal über ihre Wünsche und Erwartungen in Bezug auf den Beischlaf verhandelt? Wann hat das Reden das letzte Mal erst funktioniert, als die Nacht die Abläufe des Alltags verdunkelt hat?

Die Lesung bot keine Antworten, sondern stellte vor allem Fragen, die Frau sich im Stillen schon oft gestellt hat. Im Anschluss an die Lesung folgte ein Tajine-Dîner im hauseigenen Salon. Die Diskussionen beim feinen Dîner waren rege und erfreulich weit weg von stumpfem Smalltalk. Ein Mitakteur war definitiv auch der Raum, der mit seinem geschmackvollen Interieur Hemmschwellen senkte und die Voraussetzungen dafür schuf, dass ich weltvergessen in diesen Abend eintauchen konnte. Als ich mich endlich losriss, um diesen Artikel zu schreiben, begleitete mich die Inhaberin des Hammams noch bis vor die Tür: «Die Kultur ist der Spiegel der Freiheit der Frauen», raunte sie mir durch die Türpforte zu, als es draussen schon dunkel war. Das ist ein Reden in der Nacht, das wir an diesem Abend beide verstehen.