Nicht der Autor, sondern die Schauplätze im Fokus

Der Nebel ist längst verschwunden, die Sonne scheint warm auf das herbstliche Zürich. Das Zürich-liest-Extratram steht am Bellevue bereit. Nach und nach werden die ersten Plätze belegt. Eine Frage beschäftigt alle Einsteigenden: Welches ist wohl der beste Platz? Nur wenige Plätze bieten freie Sicht auf Demian Lienhard, der ungefähr in der Mitte des Trams vor seinem Mikrophon steht. Die vielen Kurven der Tramführung, so hofft man, werden es wohl allen erlauben, ab und an einen kurzen Blick auf den Lesenden zu erhaschen.

Die Tramlesung führt an diesem Samstag vom Bellevue bis zum Bahnhof Altstetten und wieder zurück – vorbei an den Schauplätzen von Demian Lienhards Debütromans Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Eine Tramszene gebe es leider keine mehr in seinem Roman, bedauert Demian Lienhard gleich zu Beginn. Die Tramszene, welche ursprünglich geplant war, sei gestrichen worden. Lienhard beginnt zu lesen und nimmt die Zuhörenden mit in ein Zürich der 1980er und 1990er Jahre: Es ist dies die Geschichte der Protagonistin und Ich-Erzählerin Alba, eine Geschichte der Jugendunruhen und der Drogen.

Die Zuhörer*innen drehen und wenden ihre Köpfe zu Beginn der Fahrt angestrengt in Richtung des Autors. Es sei doch schon ungewöhnlich, den Autor bei einer Lesung nicht frontal vor sich zu haben, meint ein Zuhörer. Für einmal stehen also heute nicht der Autor und dessen Bühnenpräsenz im Zentrum des Interesses, sondern die Schauplätze seines Debütromans. Und so lassen die Zuhörenden ihre Blicke nach draussen schweifen. Man lauscht der Stimme Lienhards, nachdenklich aus den Tramfenstern schauend oder mit geschlossenen Augen sinnierend.

Demian Lienhard liest verschiedene Teile seines Buches vor und informiert das Publikum ab und an über die Handlung oder die Schauplätze des Romans. Das Publikum lauscht gespannt und erfährt etwa von Albas erster Heroinerfahrung während einer Party: Die Wirkung von Heroin sei wie «wenn dir jemand eine Ohrfeige aus dem Gesicht zieht und mit ihr die ganzen Schmerzen wegnimmt, und zurück bleibt nur viel zu viel Glück, um es zu fassen. So ungefähr.» Selbstredend bleibt es für Alba nicht bei diesem einen Mal. In einer weiteren Passage begleiten die Zuhörenden Alba an den Platzspitz: In den 1980ern ein Ort der Gewalt und des Elends. Beim Anblick des heutigen Platzspitz – der an diesem milden Herbsttag friedlich daliegt und zu einem Spaziergang einlädt – ist dies kaum vorstellbar.

Gegen Ende der Tramfahrt bleibt, wenn auch nur kurz, Zeit für Fragen. «Ich seh‘ allerdings die Leute nicht», lacht Lienhard und lässt seinen Blick hin und her schweifen. Eine Frau in den hinteren Teilen des Trams interessiert sich dafür, wie er den zu seinem «Stoff» (…) gekommen sei? Er habe sich seit 2012/13 intensiver mit dem Thema Platzspitz und Jugendunruhen beschäftigt, antwortet Lienhard. Er habe sich bei der Recherche historischer Fotos, Reportagen und Dokumentarfilme bedient. Auch in Gesprächen habe er sich dem Thema angenähert. Ein guter Freund seines Bruders etwa, der die Platzspitz-Zeit überlebt hat (im Gegensatz zu vielen Figuren aus dem Roman), habe ihm einiges als Zeitzeuge erzählen können.

Das Tram steht wieder still und noch beim Aussteigen ist das deprimierende Schicksal Albas beinahe wieder vergessen – zu bunt und sonnig ist dieser Herbsttag in Zürich.

So gar nicht «nicht schlecht»: Lesung von Thomas Meyer

Ich bin eigentlich 20 Minuten zu früh dran, muss mich jedoch, nachdem ich das Obergeschoss des Micasa Pop-up Stores erreicht habe, mit einem Blick auf die Uhr noch einmal absichern. Ich fühle mich, als wäre ich 20 Minuten zu spät. Der umfunktionierte Teil der Verkaufsfläche ist rappelvoll. Die 50 weissen Klappstühle sind längst besetzt und so wird die ungewöhnliche Location der Lesung am Samstagmorgen zu einem Glücksgriff. Wo sonst könnte man auf der Suche nach Sitzgelegenheiten besser fündig werden als in einem Möbelgeschäft? Kurzerhand schaffen die Organisierenden Sitzsäcke, Hocker, mehr Stühle heran, einige Zuhörende dürfen sogar auf einem Bett lümmeln. Vorne in der Ecke steht ein blaues Sofa – noch mit Preisschild versehen. Thomas Meyer nimmt, farblich passend zum Sofa gekleidet, pünktlich um 11 Uhr auf besagtem Sofa Platz. Vor lauter Menschenköpfen vor mir kann ich Meyer kaum noch sehen und muss den Hals recken, um doch noch einen Blick auf ihn zu erhaschen, was jedoch meinem Vergnügen keinesfalls einen Abbruch tun wird.

Er habe etwas getan, was seinem Autorenego nicht gut tue, meint Meyer zu Beginn. Er habe nämlich auf Amazon Rezensionen zu seinem neuen Buch «Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin» gelesen und liest sogleich ein – natürlich nicht positiv ausfallendes – Exemplar vor.

Darauf rekapituliert er kurz den Ausgang des ersten «Motti-Romans». Er hole «Motti nun nach sieben Jahren (Meyer veröffentlichte den ersten Wolkenbruch-Roman 2012) wieder aus seinem Hotelzimmer», in welches Motti sich am Ende des ersten Buches geflüchtet hatte.* Nun beginnt Meyer die Lesung. Von dem Motti, der zu Beginn des ersten Buches illustriert wurde, ist gewiss nicht mehr viel übrig. So wenig nämlich, dass sich dieser kaum mehr im Spiegel wiederzuerkennen vermag. Nach dem Bruch mit seiner jüdischen Familie (in einer jüdischen Zeitung entdeckt Motti sogar seine eigene Todesanzeige), stellt sich ihm nun ein Herr Namens Gideon Hirsch vor, welcher ihn in die Gruppe der «verlorenen Söhne Israels» aufnehmen möchte. Obwohl Motti überrumpelt und skeptisch ist, wird er, ehe er sich versieht, Orangenfarmer in Tel Aviv. Und das ist erst der Anfang…

Thomas Meyer liest jeweils mehrere Seiten am Stück, erzählt dazwischen zusammenfassend, was passiert und setzt an einem späteren Zeitpunkt im Buch wieder an. Anders als beim ersten Buch verfügt der neue Roman über zwei, zu verschiedenen Zeiten angesiedelte Erzählstränge. Einer davon schildert natürlich Mottis Weg, in dem seine Mame nicht fehlen darf, auch wenn er mit seiner Familie zuvor gebrochen hat. Eine nach wie vor streitlustige Dame, die am besten weiss, wie Matzenknödel zubereitet werden und sich darüber lautstark mit «Schoschanna», dem jüdischen Pendant zu Alexa, streiten kann.

Das Publikum ist an diesem Samstag hervorragend aufgelegt, lacht durch die gesamte Lesung hindurch viel und auch ich muss immer wieder schmunzeln. Dazu kommt, dass Meyers Lese- und Erzählstil schlicht fabelhaft sind. Seine Stimme ist kräftig, erfüllt das gesamte Obergeschoss, Intonation und Stimmfarbe sind ruhig und mitreissend zugleich. Und so gelingt es ihm, sowohl Motti als auch dessen Mame (mit ihren nicht selten geäusserten Kraftausdrücken) so authentisch zu illustrieren, dass ich mich keineswegs darüber wundere, dass er das zum Roman dazugehörige Hörbuch ebenfalls selbst liest.

Nachdem Meyer nach 45 Minuten die letzte Passage liest – wobei er den Ausgang selbstverständlich nicht verrät – fühle ich bereits so sehr mit Motti mit, dass ich sofort das Ende erfahren will. Zum Abschluss hat Thomas Meyer sich etwas besonderes überlegt: Er liest einige Begriffe aus Meyers kleinem Taschenlexikon (seinem eigenen Taschenlexikon) vor. Darin hat er über 150 verschiedene Begriffe neu und scharfsinnig pointiert definiert. «Nicht schlecht» definiert er so beispielsweise als «schlecht».

Ich werde die Lesung definitiv weder als «nicht schlecht» noch «schlecht» (wobei dies ja das Gleiche zu sein scheint) in Erinnerung behalten und bin nach diesem Morgen definitiv bekennender Thomas-Meyer-Fan.

*Die erzählte Zeit im Roman umfasst jedoch keinen Unterbruch von sieben Jahren. Der Übergang ist nahezu nahtlos.

Der Vorleser stiehlt die Show

Das Café Odeon ist an diesem Samstagmorgen bis auf den letzten Platz ausgebucht. 60 Besucherinnen und Besucher sitzen eng nebeneinander, nippen konzentriert an ihren Cappuccinos und frischen Orangensäften und bemühen sich sichtlich, das Frühstücks-Dickicht aus Gläsern, Tassen und Tellern auf den kleinen Bistro-Tischchen nicht umzustossen. Als Hauptakteure der Frühstücks-Matinee fungieren jedoch nicht die Frühstücksspeisen, sondern die neuentdeckten Romane von Ulrich Alexander Boschwitz «Der Reisende» und «Menschen nebem dem Leben», aus denen Schauspieler Thomas Sarbacher Textstellen vorlesen wird, und der Berliner Verleger Peter Graf.

Menschen neben dem Leben von Ulrich Alexander Boschwitz, Klett Cotta 2019

Im Grunde kennt man das Café Odeon ja eigentlich in keinem anderen Zustand als «gut besucht» und weiss um die lärmende Geräuschkulisse und die heikle Mission, nur schon einen Platz für zwei finden zu können. Die Idee, in dieser Kulisse eine Lesung abzuhalten, wirkt akustisch daher durchaus ambitioniert. Während Peter Graf einleitende Worte zum Autor verliert und die Hintergründe seiner literarischen Wiederentdeckung erklärt, ist das Publikum erstaunlich ruhig. Nur manchmal hört man das leise Scheppern einer etwas zu achtlos hingestellten Kaffeetasse oder ein Verschlucken, das sich in nonchalanten Räuspern tarnt. Die zwei Romane Ulrich Alexander Boschwitz‘ erschienen, als Deutschland unter dem NS-Regime stand. Er schrieb im Exil, wurde immer wieder ausgewiesen und schliesslich nach Australien in ein Internierungslager abgeschoben. Auf der Hinfahrt 1940 verscholl das Skript eines noch unveröffentlichten Romans. Auf der Rückfahrt nach England im Jahr 1942 wurde der Dampfer, auf dem sich Boschwitz und das Skript seines vierten und ebenfalls unveröffentlichten Romans befanden, torpediert und die beiden versanken tragischerweise in den Untiefen des Meeres. Dem frühen Tod des jungen Autors ist es geschuldet, dass die beiden im Exil erschienenen Romane und in Übersetzungen erstpublizierten „Menschen nebem dem Leben“ auf Schwedisch (Människor utanför, 1937) und „Der Reisende“ auf Englisch (The man who took trains, 1939) fast den ganzen Umfang seines literarischen Nachlasses ausmachen.

«Menschen nebem dem Leben» ist ein Berlinroman, der Ähnlichkeiten mit Alfred Döblins «Berlin Alexanderplatz«, Hans Falladas «Kleiner Mann – was nun?« und Irmgard Keuns «Das kunstseidene Mädchen» aufweist. Im Resonanzraum der Neuen Sachlichkeit trifft Boschwitz jedoch seinen eigenen Ton und einen lakonischen Humor, der einen sowohl zum Lachen bringt als auch immer ein wenig zerreisst. Es geht um Menschen, die aus der Gesellschaft herausgefallen sind und denen als einziger Lebensinhalt das Überleben bleibt. Der blinde Kriegsveteran Sonnenberg handelt mit Streichhölzern um seine Existenzsicherung, seine Frau ergötzt sich an Schaufenstern und tanzt im Lokal Freudenberg fremd, Kleinkriminelle träumen vom ganz grossen Coup und haben dann doch zu viel Angst, um ihn zu verwirklichen, das organisierte Verbrechen tarnt sich als Liederkranz und gutbetuchte Bibliotheksgänger investieren mit ihren Spenden nicht in die Armen, sondern in den Aushang ihres eigenen Edelmuts. «Man weiss so viel vom Unglück der anderen, wie man wissen will», liest Thomas Sarbacher mit seinem charakterstarken Timbre. Sowohl für die Erzähl- als auch die Figurenreden entwirft Sarbacher jeweils eigene Tonlagen, die von keck bis träumerisch reichen, und lässt die zahlreichen Dialoge des Romans so lebendig wie ein Theaterstück erschallen.

Die Bistrot-Tische im Café Odeon sind an diesem Morgen am Rande ihrer Kapazität.

Auch wenn man noch keinen der Boschwitzen Romane selbst gelesen hat, ist man nach wenigen Minuten mitgerissen und findet sich in der urkomischen, zuweilen lakonischen und immer tief menschlich erzählten Figurenwelt versunken. Wer ab und zu den Literaturclub des Schweizer Fernsehens schaut, kennt die fesselnde Kraft von Thomas Sarbachers Sprechstimme bereits. Beim Lesen live anwesend zu sein, verstärkt die Erfahrung jedoch um ein vielfaches. In seinen Sprechpausen hätte man im Café Odeon eine Nadel fallen hören können, so gebannt waren die Zuhörenden. Es ist ein unfairer Glücksfall, eine Stimme zu besitzen, die selbst das Vorlesen eines Telefonbuchs zum Plausch machen würde. So schleicht sich nach der Veranstaltung sogleich ein Bedauern darüber ein, dass man sich Thomas Sarbacher nicht einfach ausborgen kann, damit er einem den Rest des Buches auch noch vorliest. Dass das Hörbuch ein anderer spricht, ist dann einfach nur gemein. Vielleicht tröstet ja das Selbstlesen von Boschwitz‘ Roman darüber hinweg. Ich rate auf jeden Fall, es zu versuchen.