Berge, Comics, Mittelmeer

Zum Buchort wird in diesen Tagen ganz Zürich, doch die literarischen Schauplätze verstecken sich zuweilen. Im Stadtkreis vier befinden sich auf wenigen Straßenzügen gleich eine ganze Menge von ihnen: Buchhandlungen, wie man sie nur in Büchern vermutet. Michael Guggenheimer und Heinz Egger haben es sich zur Aufgabe gemacht, in ihrem Blog buchort.ch besondere Buchhandlungen, Antiquariate, Bibliotheken und Lese-Cafés vorzustellen – in der Schweiz, Europa und darüber hinaus. Heute zeigen sie uns in einem Stadtspaziergang sechs der schönsten, speziellsten und geschichtsträchtigsten Buchläden direkt vor unserer Haustüre.

Gleich neben dem Stauffacher kann man zum Mittelmeer reisen. Die Buchhandlung mille et deux feuilles in der Glasmalergasse bietet Originale und Übersetzungen rund um dem mediterranen Raum. Sie birgt Schätze, die teilweise eigens über Kontakte und Importe hier landen. Die Artischocke im Logo ist nicht nur Motiv für den Namen, sondern steht auch sinnbildlich für die Mission des Ladens: Einladen zum Blättern rund um eine vielseitige Geografie, deren Herz in den letzten Jahren zum Schauplatz vieler Kriege und Schiffbrüche geworden ist.

Im Piz gibt’s alles rund um die Berge. Ihr 22-jähriges Bestehen feiert die Buchhandlung an diesem Tag. Der Inhaber Lieni Roffler ist ehemaliger Bergführer und Architekt und versammelt in seinem kleinen Laden Wanderkarten, Romane, Postkarten, Bildbände und Berglyrik. Auch er bemüht sich redlich um Importe aus aller Welt. Geschenke verpackt er in alte Landkarten und so bekommen auch wir zur Feier des Tages einen geografischen Umschlag mit einer Reliefkarte des Alpenraums.

Dass es solche monothematischen Buchhandlungen besonders heute nicht leicht haben, liegt auf der Hand. Geplant war auch ein Abstecher zu ZentRus, der russischen Buchhandlung, die mit Zürich eine lange Geschichten verbindet. Doch sie musste Ende August aus finanziellen Gründen schließen. Und so bleibt uns nur die Einsicht in das noch bestückte Schaufenster.

Im Piz gibt’s alles rund um den Berg.

In direkter Nachbarschaft besuchen wir das Haus der Bibel und die Comicbuchhandlung Analph, die neben deutschen und englischen Comics und Graphic Novels alles bietet, was Fans haben wollen: Figuren, Plakate und antiquarische Ausgaben. Ihr Name spielt mit dem Vorurteil, mit denen der Comic und seine Leser*innen konfrontiert sind, nämlich Analphabeten zu sein. Und dass der Comic mehr kann, zeigt diese breite Auswahl in der Tat.

Die Comicbuchhandlung Analph

Nicht fehlen darf schließlich die Buchhandlung im Volkshaus, in deren „Katakombe“ viele geschichtsträchtige Lesungen stattgefunden haben. 1927 als Genossenschaft gegründet, hat sie ein besonderes linkspolitisches Profil. Neben Literatur und Politik findet sich hier alles zur Psychoanalyse – und auch dem Fußball ist ein eigenes Regal gewidmet. 1948 las Bert Brecht zu seinem 50. Geburtstag drei Gedichte vor, und auch Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Mascha Kaléko sind nur einige Stimmen, die hier hörbar geworden sind.

Zum Stöbern bleibt am heutigen Abend nur wenig Zeit. Also kommen wir ein andermal wieder. Und wer Lust hat auf mehr: Der buchort.ch bietet über 200 weitere Porträts spannender Literaturorte an, die es noch zu entdecken gilt.

Für uns bei «Zürich liest»: Laura Hertel

An den diesjährigen Solothurner Literaturtagen bloggte Laura zum ersten Mal fürs Schweizer Buchjahr. In der Welt des Lesens und Schreibens hat es ihr sehr gut gefallen. So gut, dass sie sich spontan entschied, ihr Germanistik- und Anglistikstudium für ein Semester auf Eis zu legen und ein Redaktionspraktikum zu absolvieren. Deshalb arbeitet sie zurzeit im Regionaljournalismus.

Dort füttert sie am liebsten das Ressort Kultur, denn sie hat ihre Begeisterung für Literatur und Sprache nicht verloren. Besonders interessiert ist sie an aktuellen Themen. So wird sie sich am «Zürich liest» beispielsweise bei Steven Schneiders Lesung aus «Wir Superhelden» mit der Frage beschäftigen, wie sich die Spezies des Mannes in der heutigen Gesellschaft einfindet.

Für uns bei «Zürich liest»: Livia Sutter

Livia hat geglaubt, dem Landleben endlich entkommen zu sein. Und jetzt gibt ihr Franz Hohler Anlass zur Sorge, dass Flora und Fauna sie bis in die Stadt verfolgen könnten und man Zürich 40 Jahre nach der „Rückeroberung“ wieder mit der wilden Natur teilen muss.

Darum wird sie sich zu Isabel Morf ins Krimitram retten, und sollten auch dort Wölfe und andere finstere Gesellen lauern, wird sie sich einfach eine VR Brille aufsetzen und fortan nur noch in virtuellen Räumen leben – zumindest für die Dauer von „Zürich liest“.

Zwischen Begeisterung und Überforderung: Eindrücke einer virtuellen Lesung

Die Erwartungen sind gross: Die Vorpremiere von LOS 360°VR (RC) wird angekündigt als die „weltweit erste virtuelle Lesung“. Roman Vital und Sandro Zollinger, die Macher dieser VR-Lesung, verbinden eine erzählte Geschichte mit der neuesten Virtual-Reality-Technologie. Ihre gefilmten und bearbeiteten 360°-Szenen werden kombiniert mit der Stimme von Klaus Merz, der aus seiner Erzählung LOS vorliest. Ich setze mich auf einen freien Stuhl zu den anderen Wartenden im Karl der Grosse und blicke mich um. Ich bin, wie schon bei der Eröffnung, bei Weitem die Jüngste im Publikum. Die Frage einer Dame, weshalb die Stühle so weit voneinander entfernt stehen, beantwortet Zollinger mit: „Sie müssen während der Lesung genügend Platz haben, um sich im 360°-Raum umzuschauen.“ Ich muss ein Lachen unterdrücken und erinnere mich an meine ersten Erfahrungen mit VR-Games bei Freunden. Im Eifer des Spiels konnten Verletzungen oder Scherben oft nur knapp vermieden werden. So wild wird diese Lesung wohl nicht werden.

Sandro Zollinger gibt zu, etwas nervös zu sein. Denn an diesem Mittwoch handelt es sich gewissermassen um die Premiere der Vorpremiere dieser virtuellen Lesung. Auch einige Zuschauer*innen sitzen etwas angespannt auf ihren Stühlen und blicken neugierig zu den VR-Brillen, die auf einem Tisch liegen. Die Brillen und Kopfhörer werden verteilt, es dauert einen kurzen Moment, bis alle bereit sind und sich wohlfühlen. Und dann heisst es: LOS!

Die virtuelle Lesung beginnt in einem Café. Umgeben von anderen virtuellen Zuschauenden blicke ich auf die Bühne vor mir. Ich drehe den Kopf nach oben und unten, nach links und rechts – und staune über die vielen Details dieser Aufnahme. Als die Stimme von Klaus Merz ertönt, blicke ich wieder geradeaus. Auf einem Sofa sitzend, von einer Stehlampe beleuchtet, beginnt er zu lesen. Das virtuelle Publikum verschwindet allmählich, es bleiben der Lesende und ich zurück, alleine in diesem virtuellen Raum. Das Bild verändert sich wieder, Klaus Merz verschwindet ebenso, die 360°-Bilder beginnen sich zu bewegen. Auf meinen Augen die VR-Brille, auf meinen Ohren die Kopfhörer, tauche ich ein in diese unterschiedlichen virtuellen Räume: Ob in einem Schreibzimmer, im Zug, unter Wasser oder in einer tiefverschneiten Landschaft – mit Brille und Kopfhörer erlebt jede*r Zuschauende im Karl der Grosse individuell die jeweilige Atmosphäre.

Da die Schreibende während der Lesung zu sehr in ihrer eigenen (virtuellen) Welt versunken war, muss dieser Flyer behelfsmässig als Eindruck genügen.

Die zwölf Passagen aus der Erzählung LOS handeln von Peter Thaler, einem Mann, der zu einer Bergwanderung aufbricht und nie mehr zurückkehrt. Es ist eine Geschichte vom Abschiednehmen. Die Erzählweise vom Verschwinden dieses Mannes ist eindringlich, berührend. Und doch will es mir nicht gelingen, mich ganz auf die Erzählung zu konzentrieren. Zu sehr bin ich abgelenkt von den schönen visuellen Eindrücken. Einmal mehr fällt mir auf, wie bedeutsam doch unser Sehsinn ist und wie sehr wir uns auf visuelle Eindrücke fokussieren. Obschon es sich nicht um einen Film, sondern um Bildwelten handelt, die sich bisweilen kaum verändern, gibt es in den Aufnahmen dennoch unzählige Details zu entdecken. Immer wieder drehe ich meinen Kopf von rechts nach links, von oben nach unten, um ja kein Detail zu übersehen. Und ab und an konzentriere ich mich wieder auf die Stimme von Klaus Merz.

Die Lesung ist – trotz Konzentrationsschwierigkeiten – ein inspirierendes Erlebnis. Das Ziel der virtuellen Lesung sei es auch, so erklärt Sandro Zollinger nach der Lesung, sich „von einer konkreten filmsprachlichen Narration zu lösen“ und sich auf die „gefühlstragende Wirkung“ des Mediums zu fokussieren. Das sei ein „bleibendes und einmaliges Erlebnis“, ist sich das Publikum am Ende einig.

Sehen die Lesungen der Zukunft so aus? Sieht vielleicht sogar das eigene Leseerlebnis zukünftig so aus? Beinahe stimmt mich diese Vorstellung etwas melancholisch. Denn obgleich ich gerne in die Räume der neuesten VR-Technologien eintauche und alles um mich herum vergesse, liebe ich die Momente genauso, in denen es nur mich und mein Buch gibt. Die Momente, in denen – auch ohne VR-Brille – alles um mich herum verschwindet: ob Schreibzimmer, Zug oder Berglandschaft. Den Imaginationsraum, den das Lesen von Literatur bei mir auslöst, will ich, zumindest vorerst, nicht mit den detailtreuen Bildwelten der VR-Technologie eintauschen.

Und doch: Ein Eintauchen in diese virtuelle Lesung und die neuste Technologie lohnt sich allemal. Vielleicht sollte auch ich mich noch einmal auf die Lesung einlassen, um mich dieses Mal ganz auf die Stimme von Klaus Merz konzentrieren zu können.

Mit freiem Geist und einer Portion Stille

… starteten Michelle und ich am Mittwochabend mit einer Runde Yoga ins diesjährige Zürich liest.

Ein Literaturfestival gerade nicht mit Literatur zu starten – ein Widerspruch? Wenn es nach Ben Rakidzija geht, nicht. Durch 30 Minuten Silent Flow, einen freien Yoga-Stil, haben wir nun einen freien Kopf und sind perfekt auf die vielen neuen Eindrücke und Informationen der nächsten Tage vorbereitet.

Bleibt nur noch zu hoffen, dass wir auch selbst das ein oder andere Mal daran denken, eine gerade Körperhaltung einzunehmen und kurz tief einzuatmen, um dem Kopf eine kleine Pause zu gönnen. Besonders in der Welt des Denkens und des Bücherwälzens ist es wichtig, die umherirrenden Gedanken auch einmal fortzuschieben.

Den Abend beendet Ben Rakidzija mit wenigen Worten, die uns zum Nachdenken anregen sollen. Bei «Zürich liest» steht dieses Jahr das Thema Sein und Schein im Zentrum. Beim Yoga gehe es jedoch vielmehr um das Gegensatzpaar Sein und Haben. Es gehe für einmal nicht darum etwas zu haben oder mit einer Yoga-Position etwas zu erreichen. Man möge einfach sein.

Michelle Holz und Laura Barberio

Für uns bei «Zürich liest»: Steffi Caminada

Steffi liest viel. Am liebsten in Zürich. Und gern auch mit anderen, wenn in der Stadt das jährliche Lesefieber ausbricht. An «Zürich liest» ist sie zum ersten Mal für das «Schweizer Buchjahr» unterwegs.

Mehrsprachigkeit und Übersetzung sind Themen, die sie besonders interessieren. Das Übersetzungsprojekt «Lyrischer Wille» verspricht einen multilingualen Abend und will Brücken zwischen Sprachen, Dichtern und Dichterinnen schlagen.

Als Anglistik-Studentin freut sie sich aber besonders auf die Ausstellung «Thomas Mann in Amerika» im Strauhof. Und trifft gleich noch einen weiteren Mann aus den Staaten, Andrew Ridker, der als US-Shootingstar angekündigt wird. Zu einem Trio gehören drei: Mit Alex Capus will sie zum Schluss einen Blick auf die heimische Literatur werfen.

Bedauern tut sie, dass so viele Veranstaltungen gleichzeitig laufen, denn sonst hätte sie auch noch viele weitere, insbesondere von mehr Frauen, sehen wollen.

Für uns bei «Zürich liest»: Xenia Bojarski

Nachdem sie im Sommer das Solothurner Terrain erkundet hat, freut Xenia sich darauf, bei «Zürich liest» durch entfernte Räume und Zeiten zu reisen. Sie wird unter anderem Halt bei Thomas Meyer machen und ist gespannt auf Motti Wolkenbruchs neue Sperenzchen.

Ob Umwege gegangen werden müssen, wenn eine Übersetzerin die Nachricht an das Publikum überliefert, und was Muttermilch mit dem nachkriegszeitlichen Lettland zu tun? Diesen Fragen wird sie bei Nora Ikstena nachgehen. Und an welche Tür muss eigentlich geklopft werden, damit Virtual Reality einem Einlass gewährt? Zu guter Letzt bleibt hoffentlich noch etwas Zeit, um wieder aufzutauchen und Zürich zu lesen.

Für uns bei «Zürich liest»: David Sieber

Wer ist dieses Zürich, das da liest? Und darf da jede*r mitlesen? Wer über Sprache bestimmt, diese Frage stellt uns auch die Romanfigur Zoltán aus Melinda Nadj Abonjis «Der Schildkrötensoldat», die im sogar Theater auf die Bühne und uns vors Gewissen gestellt wird. Robust kann Sprache aber nur bleiben, weil sie Geschichte hat und sich in dieser wandelt. Einzelne Krümel davon hat Peter Graf im Grimmschen Wörterwald aufgelesen, die Thomas Sarbacher vorträgt. Moderner gibt sich die multimediale Leseinstallation im Kein Museum, das zusammen mit der Stereofeder junge Autor*innen zur momentanen Lage befragt hat. Sicher ist nicht alles wahr, was da so gelesen wird. Wie es überhaupt zu Fakes und Fiktionen kommt, das möchte ich gerne von Thomas Strässle hören.

Ich studiere Philosophie und Deutsche Literaturwissenschaft an der UZH und wenn immer möglich nur das, was auch etwas aussagt. Mal schauen, was Zürich so zu lesen gibt.

Für uns bei «Zürich liest»: Isabelle Balmer

«Zürich liest 2019» steht für Isabelle ganz im Zeichen der Liebe. Sie beginnt ihre Festivalreportage am Mittwoch mit einem lyrisch-erotischen Abend im Münsterhof, entgleitet am Freitag im Hamam in die Tiefen der westlichen und östlichen Sicht auf die Weiblichkeit und nähert sich am Samstag über Joana Osmans Debütroman «Am Boden des Himmels» der Liebe im Nahen Osten.

Isabelle studiert an der Uni Zürich im Master Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft und TAV (Theorie – Analyse – Vermittlung). Sie hat eine Schwäche für Minnesang, mittelalterliche Liebeslyrik und Gottfried von Strassburgs Tristan. In der Literatur der Neuzeit freut sie sich besonders über unzuverlässige Erzähler, innovative Formen und geistreiche Sprache. Seit ihrem Umzug nach Zürich 2015 war Isabelle bisher jedes Jahr als Besucherin an «Zürich liest». Dieses Jahr ist sie zum ersten Mal als Reporterin mit von der Partie. Ihren Zweitwohnsitz verlagert sie während des Festivals wohlweisslich ins Karl der Grosse und freut sich auf spontane Begegnungen und viel Musse.

Wenn sie nicht für «Zürich liest» im Einsatz ist, arbeitet Isabelle im Max Frisch-Archiv an der ETH-Bibliothek oder schreibt für den Winterthurer Landboten. Wenn sie frei hat, trifft man sie am ehesten mit Buch und gusseisernem Teekännchen im Café Schwarzenbach; auf einem langen Spaziergang durch Zürich oder beim Nachdenken über eines ihrer Lieblingsworte.

Ein Gedicht: Tucholsky mit Rindsentrecôte

Beim Dîner Littéraire speisen wir im Münsterhof ein Viergängemenü mit Weinauswahl und hören den Lieblingsgedichten von René Grüninger zu. Zehn Jahre lang war er Kurator des Literaturfestivals Leukerbad, weiß also die ein oder andere Anekdote zu berichten. Aber das nur am Rande. Ein wenig erinnert Grüninger an den Schauspieler Toni Servillo in der Rolle des Jep Gambardella im italienischen Film «La grande bellezza». Und sicherlich ist diese Assoziation bei der hiesigen Veranstaltung nicht ganz fehl am Platz. Denn bei aller Schönheit, bei allem Genuss geht es hier wie dort auch um die Ausmaße der mondänen Welt.

«Wir brauchen mehr Häppchen!», verlangt Grüninger und das Servicepersonal eilt. «es ist was es ist», sagt Erich Fried.

Und so ist es:

Erster Gang: Gebeizte Tranchen vom Schweizer Lachs an einem Ingwer-Sud und Kohlrabi. Dazu gereicht wird Pablo Neruda, Kurt Tucholsky und Robert Gernhardt.

Wer kommt hier hin? Etwa zwanzig Menschen an zwei Tafeln im ersten Stock des Münsterhofes, ein alteingesessenes Restaurant mit frischer Spitze: Karim Schumann und Emanuel Della Pietra schmeissen die Küche mit Fingerspitzengefühl. Zwanzig Menschen, das sind ungefähr so viele, wie man zu einer Lyriklesung erwarten würde. Ob sie allerdings des Essens oder der Gedichte wegen gekommen sind – und wer hier was bewirbt, bleibt erst mal offen. Eine geplante Kohärenz zwischen Menü und Gedichten gibt es jedenfalls nicht. Der Genuss steht im Mittelpunkt und das ist erst mal gut.

Zweiter Gang: Basilikumravioli mit Zucchini und Hummerbique. Dazu: Jaques Prévert und Sappho.

Es sind übrigens nur kleine Ausflüge in historische Gefilde. Grüningers Auswahl beschränkt sich vor allem auf das 20. Jahrhundert und wählt damit nicht nur altbackenes Brot aus. Keine Römischen Elegien, kein Minnesang (– leider, denn die Kulisse macht wenigstens einen Walther eigentlich unumgänglich: an der Wand ein Fresko von 1370, ein «Lustgarten» mit drei Liebespaaren). Stattdessen ein schönes Angebot auch an weiblichen Stimmen: Else Lasker-Schüler, Elisabeth Borchers, Sarah Kirsch und Ulla Hahn. Sonst eher viele Brüste. Natürlich ist die Sinnlichkeit das große verbindende Element.

Dritter Gang: Gegrilltes Rindsentrecôte mit Tomaten-Buttersauce und Fregola Sarda, Lauch und Parmesanschaum. Hansjörg Schertenleib meint dazu: «Fass mich an, Marie!»

Das geht runter wie Öl, die feinen Speisen sind ein Gedicht, optisch, olfaktorisch und geschmacklich. Und die Gedichte die gehen mit (hin)unter. Denn was passiert hier eigentlich? Wir bekommen Bestes serviert in bester Atmosphäre. Die Lyrik ist so was von genießbar und gemütlich. Aber diese Inszenierung zeugt auch von einer gewaltigen bürgerlichen Dekadenz, die nachdenklich stimmt. Lust auf Lyrik machen, keine Frage, das ist so wichtig wie eh und je. Aber so, auf dem Silbertablett, in Häppchen verliert sie, was sie eigentlich so unbedingt macht: das andere, ungemütliche und widerständige Sprechen, das wieder und wieder ins Ohr hinein und hinaus muss. Das sind keine zarten Filets auf neuen und neuen Gabeln und Löffeln, wie sie hier zu jedem Gang serviert werden. Natürlich kann man sie so konsumieren – aber über den gemütlichen Konsum kommen sie dann auch nicht hinaus.

Zum Nachtisch: Duett von der Felchlin Schokolade, Quitte und Chili. Und: Das Hohelied der Liebe.

Die große Schönheit des lyrischen Dinnierens im Münsterhof geht dieses Jahr in die vierte Runde. Und die 90 Franken lohnen sich wohl. Aber wer kommt hier rein? Ein Publikum, das sich zum Feierabend ein bisschen Genuss mit kulturellem Beigeschmack gönnt. Und das ist sein gutes Recht. Zu fragen wäre vielleicht noch am Rande: Welchen Grund diese Gedichte noch haben, fernab des guten Geschmacks. Einen grossen, würde ich behaupten. Nur wer trägt ihn dort hinaus? Wein, gutes Essen, erotische Gedichte – nie kam besser zusammen, was schon immer zusammen gedacht wurde. Und bleibt sich doch fremd.