Ein Gedicht: Tucholsky mit Rindsentrecôte

Beim Dîner Littéraire speisen wir im Münsterhof ein Viergängemenü mit Weinauswahl und hören den Lieblingsgedichten von René Grüninger zu. Zehn Jahre lang war er Kurator des Literaturfestivals Leukerbad, weiß also die ein oder andere Anekdote zu berichten. Aber das nur am Rande. Ein wenig erinnert Grüninger an den Schauspieler Toni Servillo in der Rolle des Jep Gambardella im italienischen Film «La grande bellezza». Und sicherlich ist diese Assoziation bei der hiesigen Veranstaltung nicht ganz fehl am Platz. Denn bei aller Schönheit, bei allem Genuss geht es hier wie dort auch um die Ausmaße der mondänen Welt.

«Wir brauchen mehr Häppchen!», verlangt Grüninger und das Servicepersonal eilt. «es ist was es ist», sagt Erich Fried.

Und so ist es:

Erster Gang: Gebeizte Tranchen vom Schweizer Lachs an einem Ingwer-Sud und Kohlrabi. Dazu gereicht wird Pablo Neruda, Kurt Tucholsky und Robert Gernhardt.

Wer kommt hier hin? Etwa zwanzig Menschen an zwei Tafeln im ersten Stock des Münsterhofes, ein alteingesessenes Restaurant mit frischer Spitze: Karim Schumann und Emanuel Della Pietra schmeissen die Küche mit Fingerspitzengefühl. Zwanzig Menschen, das sind ungefähr so viele, wie man zu einer Lyriklesung erwarten würde. Ob sie allerdings des Essens oder der Gedichte wegen gekommen sind – und wer hier was bewirbt, bleibt erst mal offen. Eine geplante Kohärenz zwischen Menü und Gedichten gibt es jedenfalls nicht. Der Genuss steht im Mittelpunkt und das ist erst mal gut.

Zweiter Gang: Basilikumravioli mit Zucchini und Hummerbique. Dazu: Jaques Prévert und Sappho.

Es sind übrigens nur kleine Ausflüge in historische Gefilde. Grüningers Auswahl beschränkt sich vor allem auf das 20. Jahrhundert und wählt damit nicht nur altbackenes Brot aus. Keine Römischen Elegien, kein Minnesang (– leider, denn die Kulisse macht wenigstens einen Walther eigentlich unumgänglich: an der Wand ein Fresko von 1370, ein «Lustgarten» mit drei Liebespaaren). Stattdessen ein schönes Angebot auch an weiblichen Stimmen: Else Lasker-Schüler, Elisabeth Borchers, Sarah Kirsch und Ulla Hahn. Sonst eher viele Brüste. Natürlich ist die Sinnlichkeit das große verbindende Element.

Dritter Gang: Gegrilltes Rindsentrecôte mit Tomaten-Buttersauce und Fregola Sarda, Lauch und Parmesanschaum. Hansjörg Schertenleib meint dazu: «Fass mich an, Marie!»

Das geht runter wie Öl, die feinen Speisen sind ein Gedicht, optisch, olfaktorisch und geschmacklich. Und die Gedichte die gehen mit (hin)unter. Denn was passiert hier eigentlich? Wir bekommen Bestes serviert in bester Atmosphäre. Die Lyrik ist so was von genießbar und gemütlich. Aber diese Inszenierung zeugt auch von einer gewaltigen bürgerlichen Dekadenz, die nachdenklich stimmt. Lust auf Lyrik machen, keine Frage, das ist so wichtig wie eh und je. Aber so, auf dem Silbertablett, in Häppchen verliert sie, was sie eigentlich so unbedingt macht: das andere, ungemütliche und widerständige Sprechen, das wieder und wieder ins Ohr hinein und hinaus muss. Das sind keine zarten Filets auf neuen und neuen Gabeln und Löffeln, wie sie hier zu jedem Gang serviert werden. Natürlich kann man sie so konsumieren – aber über den gemütlichen Konsum kommen sie dann auch nicht hinaus.

Zum Nachtisch: Duett von der Felchlin Schokolade, Quitte und Chili. Und: Das Hohelied der Liebe.

Die große Schönheit des lyrischen Dinnierens im Münsterhof geht dieses Jahr in die vierte Runde. Und die 90 Franken lohnen sich wohl. Aber wer kommt hier rein? Ein Publikum, das sich zum Feierabend ein bisschen Genuss mit kulturellem Beigeschmack gönnt. Und das ist sein gutes Recht. Zu fragen wäre vielleicht noch am Rande: Welchen Grund diese Gedichte noch haben, fernab des guten Geschmacks. Einen grossen, würde ich behaupten. Nur wer trägt ihn dort hinaus? Wein, gutes Essen, erotische Gedichte – nie kam besser zusammen, was schon immer zusammen gedacht wurde. Und bleibt sich doch fremd.