Lesen mit allen Sinnen

Dem verheissungsvollen Ruf „Starke Bücher für schwache Augen“ folgend, mache ich mich auf zur Schweizerischen Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte (SBS). Mit meiner Kurzsichtigkeit bin ich zwar nicht ganz direkte Zielgruppe der Bibliothek, zur Führung, die im Rahmen von „Zürich liest“ angeboten wird, werde ich aber trotzdem freundlich begrüsst. Nach und nach trudeln die übrigen Interessierten ein. Ein bunt durchmischtes Grüppchen tummelt sich bald im kleinen Eingangsbereich.

Eine Bibliothek ohne Leser*innen?

Unser Rundgang startet im Herzstück, der Bibliothek. Doch irgendwas fehlt. Die Bücher? Nein, die sind – wenn auch in etwas ungewohnter Form – vorhanden. Was fehlt, sind die in Bücher schmökernden Bibliotheksbesucher*innen. „Die SBS ist eine Versandbibliothek“, klärt Henrike Strehler, die uns begleitet, auf. Die Bücher gelangen per Blindenpost zu den Kunden. Die Kunden, das sind Menschen mit einer Sehbehinderung oder ganz einfach alle, denen der Lesegenuss durch gesundheitliche Einschränkungen verwehrt bleibt. Warum die SBS als Versandbibliothek organisiert ist, wird schnell veranschaulicht. Milena Mosers „Hinter diesen blauen Bergen“ liegt drei Mal vor uns auf dem Tisch. Als Original – ein schmales Buch, das in jede Handtasche passt. Im Grossdruck-Format, für das man wohl eher einen geräumigen Rucksack braucht. Und schliesslich in drei dicken Bänden, voll mit Braille-Schrift bedruckten Seiten, die wohl niemand hin und her schleppen will.

Ich höre, also lese ich

Nach diesem aufschlussreichen Einstieg wandern wir einen Stock höher ins Hörbuch-Studio. Die SDS bietet nämlich nicht nur Bücher und Musiknoten in Braille-Schrift, Grossdruckbücher, Spiele und E-Books an, sondern produziert auch eigene Hörbücher. Sechs Aufnahmeleiter kümmern sich um rund 100 Sprecher*innen, die das geschriebene Wort vertonen. Einige von ihnen können wir live bei ihrer Arbeit beobachten. In kleinen Studios sitzen sie hinter ihren Mikrofonen und lesen fleissig vor. Die kurzen Hörproben, die wir erhaschen, klingen vielversprechend.

Braille für Dummies

Als Abschluss dürfen wir einen Blick in die hausinterne Druckerei werfen. Wir erfahren, wie die Braille-Schrift funktioniert, sehen, wie man eine geografische Karte für Blinde lesbar machen kann und betrachten Beispiele, wie mit passendem Material Blinde und Sehende gemeinsam lesen können. Wir schauen einer Braille-Druckmaschine bei der Arbeit zu und dürfen schliesslich selbst in die Tasten hauen und unseren Namen in der berühmten Punkte-Schrift auf Papier verewigen.

Mit einem Goodie-Bag der SBS ausgerüstet und voll von neuen Eindrücken aus einer mir sonst fernen Welt gehts zurück in die Innenstadt. Zürich wird sicher bis Sonntag und (hoffentlich) noch lange Zeit lesen. Dass man dies nicht nur mit den Augen tun kann, hat der heutige Nachmittag eindrucksvoll bewiesen.

 

 

Für uns bei «Zürich liest »:
Leonie Walder

Wo Zürich liest, schaut sich Leonie dieses Jahr zum ersten Mal als Bloggerin einmal um.
Als Einstieg freut sie sich darauf Wolkenbruchs frisch verfilmte – wunderliche und schicksenhafte – Reise auf der Leinwand zu sehen. Und mindestens so fest auf Meyers anschliessende Lesung.

Bei Arno Camenisch wird am Donnerstag mit einer mündlichen Kostprobe aus seinem neusten Roman der Winter vorgezogen, mit der grossen Hoffnung, dass die Lesung hält, was die Lektüre versprochen hat.

Leonie studiert Germanistik und Philosophie in Zürich – und auch immer wieder gerne die neusten literarischen Erscheinungen der Schweiz.