Über die Herausforderung, hemmungslose Sexszenen zu übersetzen

Ursula Giger – Übersetzerin im Porträt

Zuerst wollte Ursula Giger ablehnen. Da lag dieses 2010 erschienene schwedische Buch vor ihr, dass sie ins Deutsch übersetzen sollte. Gib ihnen, wovon sie träumen des schwedischen Schriftstellers Eli Levén ist ein hartes, grelles, aber auch wichtiges Buch. Es handelt von einem jungen Mann in einem Stockholmer Vorort der 90er Jahre, der sich zwischen den Geschlechtern fühlt. Um zu überleben, verkauft er seinen Körper und nimmt sich, was er kann. Dennoch ist er auf der Suche nach Liebe und sich selbst.

Gerade die expliziten Sexszenen empfindet Giger zunächst als abschreckende Übersetzungshürde. Sie gibt auch zu, dass sie vor der ihr fremden Transgender-Thematik Respekt hat. Gleichzeitig kann sie sich aber nicht vor der Komplexität und Lyrizität des Buches verschliessen. Die bildstarken, wenn auch teils kitschigen Szenen sprechen alle Sinne an. Giger nennt diese Stellen «Blumen, die aufgehen». Sie muss sich selbst verdeutlichen, dass «Übersetzen» nicht «Verstehen» bedeutet, denn es geht um die Sprache. Übersetzer von Krimis müssen schliesslich auch nicht die Mörder im Buch verstehen. So sieht sie das Projekt als eine Herausforderung, der sie sich schliesslich gerne stellt. Ihr kommt dabei zugute, dass sie selbst in den 90er Jahren in Stockholm gelebt hat und so zu gewissen Szenen Berührungspunkte finden kann.

Giger, die auch viele isländische Bücher übersetzt, will jeweils die Orte und Szenen kennen, die in den zu übersetzenden Texten vorkommen. So ist sie neben ihrem Lehrauftrag für Isländisch an den Universitäten Zürich und Basel auch als Trekking-Guide in Island und Grönland unterwegs. Die Übersetzungstätigkeit ist ihrer Meinung nach kein Hobby, sondern nimmt Zeit in Anspruch. Jeder Text benötigt intensive Recherche und Nachfragen. Giger muss den Text zur Seite legen, überlegen und alles sacken lassen. Gerne nimmt sie dann auch die Hilfe ihres Nachbarn, eines Schweden, in Anspruch, mit dem sie Levéns Wortschöpfungen, die im Buch immer wieder vorkommen, diskutiert und allfällige zweite Ebenen der Wörter erforscht. Schnell ist ihr deshalb klar, dass der schwedische Titel (auf Deutsch etwa: «Du bist die Wurzel zu meinen Füssen, die die Welt an ihrem Platz hält») nicht passt. Zu unsexy, zu lang, das funktioniert in der Schweiz nicht. Der deutsche Titel Gib ihnen, wovon sie träumen wurde schliesslich von Levén selbst ausgesucht.

Obwohl das Buch schon etwas älter ist, scheint das Thema aktueller denn je. Die Sprachlosigkeit der Hauptfigur zeigt sich dabei auch in deren Beschreibungsnot und Überforderung im Changieren zwischen Mann und Frau. Ein innerer Kampf um Identität, den jede:r anders führt und der «ins Fleisch hinein geht».

Récits teintés d’absurdes et soleil de plomb

« Nein ! », répond sarcastiquement Michael Fehr lorsqu’on lui demande s’il a un livre préféré. Rire général puis silence du vaste public venu prendre place sur les rangs de l’escalier Saint-Ours, Fehr lance sa première histoire. Les deux fontaines aux abords de l’estrade constituent la toile de fond. Un écouteur à l’oreille, il joue ses textes avec vivacité, l’articulation est méticuleuse, ce qui, en tant que francophone, me facilite la compréhension.

Les performances de Michael Fehr invitent à réfléchir quant à la notion de « texte ». Ses problèmes de vue l’ont contraint à innover, Michael crée ses textes au dictaphone, et ce sont probablement ces mêmes textes que l’oreillette lui chuchote cet après-midi. C’est tout d’abord en ce sens qu’il faut parler de performance plus que de lecture.

« Das ist so eine Geschichte », ainsi conclut-il sa première histoire sous les rires de l’assistance. La seconde histoire est elle aussi pleine d’humour. On y parle de recette de soupe à l’herbe, celle des pâturages. C’est simple et on en trouve partout. Par contre, attention de ne pas oublier le fromage. Ne surtout pas oublier le fromage, car sinon, ce n’est juste pas bon et les gens font de drôles de grimaces.

La troisième histoire, aussi courte que les autres (l’intervention dure quinze minutes) is in english. Le titre en est Blues predator, ce qui me rappelle que Michael Fehr est également musicien. Et ça ne manque pas, voilà que son histoire tourne en un chant blues a capella. La performance se conclut sur les claquements de mains rythmiques des spectateurs.

Glauser und Simenon am Strand

Die Ausgangslage von Ursula Haslers neuem Roman Die schiere Wahrheit ist faszinierend: Es treffen an einem warmen Sommertag an der französischen Atlantikküste die beiden bekannten Krimiautoren Georges Simenon und Friedrich Glauser aufeinander. Sie kommen ins Gespräch, reden darüber, was es für einen guten Krimi alles braucht und erzählen dann gleich gemeinsam einen solchen innerhalb von Haslers Buch. Die Besucher*innen ihrer Lesung durften durch einige vorgetragene Passagen sowie historische Stimmungsbilder auf der Leinwand Einblick in die Romanwelt bekommen.

Zwar fand ein solches Treffen der beiden Schriftsteller nie statt, es wäre im Jahr 1937 aber tatsächlich möglich gewesen. Über diese historische Möglichkeit stolperte Hasler wegen gleich mehrere glücklicher Zufälle. Sie selbst besucht den Badeort, in dem die Handlung ihres Romans spielt, selbst jedes Jahr. Dabei fand sie heraus, dass Glauser ebenfalls einmal in der Region war. «Wunderbar. Ich konnte mir vorstellen, wie glücklich Glauser über seine Freiheit hier gewesen sein musste und dachte mir: Dazu mache ich was.» Anschliessend fand sie an einer Ausstellung heraus, dass auch Simenon im selben Jahr an eben diesem Ort hätte sein können und so war das Ausgangsszenario geboren.

Hasler erzählt, dass sie sich noch nie darüber Gedanken gemacht habe einen Kriminalroman zu schreiben, aber das Zusammentreffen der beiden Autoren forderte dies. Dabei stellte sie fest, dass es gar nicht so einfach ist, einen Krimi zu schreiben, da in einem solchen gleich zwei Geschichten verknüpft werden: Einerseits der Tatvorgang des Verbrechens und was dazu führte; andererseits die Handlung der Verbrechensaufklärung. Als Autor müsse man sich auch während des Schreibprozesses entscheiden, wann man welche Indizien der Leserschaft geben will. Die Autorin stellte während des Schreibens fest, wie froh sie darüber war, mit dem Computer schreiben zu können, was andere Krimiautoren in der Vergangenheit nicht konnten. Ausserdem stellte sich eine weitere Hürde in den Publikationsweg ihres Romans. Ursprünglich sollten darin nämlich (in leichter Konkurrenz) Wachtmeister Studer und Maigret ermitteln. Jedoch stellte sie nach Fertigstellung des Buches fest, dass Simenons Figuren markenrechtlich geschützt sind. Deshalb musste sie den gesamten Roman umschreiben. Nun ermittelt eine völlig neue Frauenfigur, welche Hasler für Simenon erfindet.

Obwohl zu Beginn der Lesung von der Moderation betont wurde, dass Hasler wegen des grossen Lobes für ihr Buch an die Solothurner Literaturtage eingeladen wurde, verhafteten die Fragen der Moderation zum Roman auf den beiden bekannten Autorenfiguren und das Gespräch drehte sich folglich vor allem um Glauser und Simenon. Deshalb ging der literarische Wert von Haslers Roman unter – obwohl er durchaus da gewesen wäre.

Das «vocabulaire incroyable» auf den Verpackungen von Tiernahrung

Eric Facon beginnt das Gespräch mit Rebecca Gisler auf Französisch. Dann fragt er in die Runde, wer in der Säulenhalle überhaupt mit dem fliegenden Wechsel zwischen Deutsch und Französisch klarkommt. Im Publikum breitet sich ein zustimmendes Nicken aus. Es geht also weiter, oder besser gesagt, erst richtig los. Und zwar mit der ersten, bei diesem Buch wohl zentralsten Frage: «Pourquoi l’oncle?»

Rebecca Gisler ist in Zürich geboren und aufgewachsen, ihre Muttersprache ist aber eigentlich Französisch. Sie studierte literarisches Schreiben gleich doppelt. Einmal auf Deutsch in Biel und einmal auf Französisch in Paris. Die Zweisprachigkeit von Rebecca Gisler hat denn auch zur Folge, dass es zwei Romane von ihr gibt, die beide vom Onkel handeln.

Eine Parallel-Lesung, die funktioniert

Sie hat sich, so Gisler als Antwort auf Facons Frage, mit dem Onkel befasst, weil es über diese Figur viel weniger Literatur gibt, als über andere Familienmitglieder: Mütter, Väter, Grosseltern, Geschwister, Kinder. Der Onkel als Figur hat sie interessiert und sich aus ihrem Schreiben quasi herauskristallisiert. Die Figuren machen das Schreiben und das Schreiben macht die Figuren. Der Onkel lebt in einem grossen Haus in der Bretagne. Seine Nichte, die dort mit ihm lebt, beschreibt ihn und seine kuriosen Gewohnheiten bis ins kleinste Detail.

Nach den ersten Fragen liest Rebecca Gisler aus ihren Büchern, parallel eine Stelle aus «D’oncle» und eine aus «Vom Onkel». Bereits lässt sich erahnen, was am Wechselspiel zwischen diesen beiden Sprachen interessant und anregend sein kann.

Das eigene Buch nochmal neu schreiben

Es ist tatsächlich ungewöhnlich, dass die deutsche Fassung, die nach der französischen erschienen ist, nicht einfach übersetzt, sondern von der Autorin selbst neu geschrieben wurde. Es ist ein Wiederlernen des Deutschen gewesen, ein Spiel aus Hin- & Her-Übersetzen, in dem eine Sprache jeweils als Kontrollinstanz der anderen funktionierte. Am spannendsten wurde es, wenn es zwischen den beiden Sprachen Zweifelsfälle gab. Es ist schon fast ein offenes Geheimnis der Literatur: Das Poetische findet sich im Dazwischen.

Rebecca Gislers Art, auf die Fragen von Facon zu antworten, macht es deutlich: Literatur, wie Gisler sie schreibt, macht Spass. Sie lebt vom Witz und von kuriosen Figuren, wie Eric Facon anfügt. Dass die Chemie zwischen Moderator und Autorin so gut passt, überträgt sich auf die Besucher:innen der Lesung. Voller Energie, Elan und Esprit unterhalten sich die beiden angeregt.

Irgendwie sind doch alle Famililen merkwürdig

Die Absurdität des Textes und die merkwürdigen Figuren entstanden also aus dem ewigen Phantasie-Spiel zwischen Deutsch und Französisch. Ab und an schlummert im Buch aber auch ein Funke Wahrheit. Genau wie die Nichte und der Neffe vom Onkel hat auch die Autorin selbst schon Verpackungstexte von Tiernahrungsprodukten vom Französischen ins Deutsche übertragen. Sie bieten, so Gisler, einen unglaublichen Wortschatz, ein «vocabulaire uncroyable». Als Eric Facon von der Autorin wissen möchte, warum die Familie des Onkels so merkwürdig ist, muss sie lachen. Irgendwie sind doch alle Familien komisch: aus dem Publikum zustimmendes Nicken oder verhaltenes Grinsen.

Zu den Schilderungen der Toilettengänge des Onkels und zu seiner vernachlässigten Hygiene passt auch, was Gisler über ihren Schreibstil erzählt: Jemand hat ihn schon mal als «chasse d’eau» (WC-Spülkasten) beschrieben. Er fliesst beständig, manchmal entsteht ein merkwürdiges Blubbern und der Text ist nie ganz leer, sondern füllt sich immer wieder von neuem.

Ein in allen Belangen passendes Bild und ein erfrischendes, kurzweiliges Gespräch, bei dem ich, fast ohne es zu merken, mein verstaubtes Französisch reaktivieren konnte.

Die Heldinnen der Sowjetunion

Der Landhaussaal ist bis zum Platzen gefüllt, als Sasha Marianna Salzmann am Samstagnachmittag zum Gespräch über ihren* neusten Roman Im Menschen muss alles herrlich sein zu Gast ist. Salzmann, die sich selbst als nicht-binär definiert, ist Theaterautor*in, Essayist*in und Dramaturg*in und hat nach ihrem* Debüt Ausser sich (2017) nun ihr* zweites Buch veröffentlicht.

«Kennen Sie das, wenn Ihnen jemand eine Anekdote erzählt und Sie denken, dass Sie sie verstehen aber irgendwie doch nicht?» Auf einer Geburtstagsparty ihrer* Mutter, kam Salzmann die Idee zu Im Menschen muss alles herrlich sein. Der Roman schildert die Schicksale von vier Frauen während und nach dem Zerfall der Sowjetunion. Der Fokus liegt dabei auf der Spannung zwischen Generationen und der Frage danach, was man über seine Familie wissen kann und möchte. Für ihren* Roman hat Salzmann die Freundinnen der Mutter interviewt, um Stoff für die Anlage ihrer Figuren und die geschichtlichen Hintergründe einer Zeit, die sie selbst nicht so genau kennt, zu recherchieren. «Schlussendlich ist es ein Mutter-Tochter Roman geworden.» Dabei stellen die Figuren fragen, die Salzmann selbst auch beschäftigten, etwa, wieso man in der Ukraine eigentlich Russisch spricht.

Dass Salzmanns Roman auch aktuelle Konflikte tangiert, steht dabei jedoch nicht im Zentrum der Erzählung. «Alle Frauen die ich interviewt habe, kommen aus Orten, die heute Kriegsgebiet sind und damals schon Kriegsgebiet waren. Die Frauen wollten aber in erster Linie gar nicht über den Krieg sprechen. Sie sind alle Superheldinnen für mich, ihre Lebensgeschichten sind Heldengeschichten.» Salzmann stellt die Lebensgeschichten ihrer* Protagonistinnen den klassischen, männlichen Helden der Sowjetunion entgegen und schreibt so eine Geschichte für die «wahren Heldinnen der Sowjetunion».

Besonders spannend ist der Aspekt mythischer Motive und Figuren in Salzmanns Roman, wie etwa der des Ciguapa, einer dominikanischen Mythengestalt. Um dem heteronormativen Denken der Sowjetunion im Roman entgegenwirken zu können, baute Salzmann mythische Gestalten in ihren Text ein. «Mythen, das ist mein queerer Moment im Buch. Sie zeigen, dass man eine Situation immer verlassen kann, dass man nirgends sein muss. Sie sind das queere Element, das ich unbedingt einbauen wollte.» Wichtige Themen anzusprechen, starken Frauen zuzuhören, die selbst nichts von ihrer Stärke wissen, überhaupt zu fragen: das ist es, was Sasha Marianna Salzmann zu einer wichtigen Stimme der Literatur macht.

«Mängisch hani Iifäll»

Wenn man mit zwei Minuten Verspätung die vielen Treppen zum Gespräch «Im Bett mit Michael Fehr» erklimmt, muss sich die Orientierung lediglich am Klang der Stimmen ausrichten. Und auch wenn man dann in einer Ecke ohne Blick aufs Geschehen auf dem Fussboden sitzt, wird die Wahrnehmung hauptsächlich aufs Gehör beschränkt. Was erst unerfreulich scheint, stellt sich schnell als bereichernd heraus: Denn wie könnte man besser in Michael Fehrs Alltagswahrnehmung eintauchen und seinen nahezu spirituellen Ausführungen zur Literatur und Bildern folgen, als mit dem reduzierten Sehsinn, der auch ihn zeichnet?

Wenn er erwache, sagt Michael Fehr, bleibe er häufig noch für einen Moment liegen, um sich zu sammeln. In der Senkrechte fallen nämlich die Erinnerungen an seine Träume sofort ab, und weil er sie gerne in seinem Schreiben verarbeitet, gilt es, sie festzuhalten, solange sie noch da sind. Auch gestört will er nicht werden, wenn er dann aufgestanden ist. Sonst wird nämlich ins Unbefleckte, das ihm nach dem Schlafen anhaftet und beim Kreieren von Geschichten sehr hilfreich ist, «einfach reingeregnet».

Das Bett ist im Gespräch steter Ausgangspunkt der literarischen Diskussionen – und das nicht ohne Grund: Auch in der Erzählung «Der hundertjährige Holzboden» aus Fehrs jüngstem Buch «Hotel der Zuversicht» wird dem Bett eine zentrale Stellung zugewiesen. Es ist der Ort, an dem man die Ruhe geniessen kann, geschützt vor dem turbulenten Leben fernab der Bettkante. Michael Fehr kennt sie selbst, diese beiden Welten. Und er geniesst beide, braucht zum Kreieren aber vor allem die Ruhe. Bei der Ruhe höre man auch den Sound besser, aus dem sich Geschichten ergäben, sagt Fehr. Es gäbe nämlich, zitiert er den Meister eines nepalesischen oder indischen Klosters, einen Sound auf der Welt, der für sich selbst existiert und nicht gemachter Natur sei. Wenn man ihm zuhört, diesem Sound, findet man zur Manifestation, die der Mensch dann mit seinen feinen Werkzeugen in Artikulation verwandeln kann.

Bei Fehr wirken die kurzen Geschichten, die sich aus der Artikulation ergeben, sehr visuell, obwohl er selbst nur eingeschränkt sieht. Das liege bis zu einem gewissen Grad daran, dass wir immer das begehren, was wir nicht haben, sagt er. Dort kann er hineinträumen, was er möchte, ohne stark von der Realität beeinflusst zu werden. Er setzt auch auf die Bildkraft, die er generiert, wenn die Enden seiner Geschichten vorschnell eintreten. Die kurzen Erzählungen sollen Anfänge sein, aus denen die Lesenden bei Bedarf eine fertige Geschichte imaginieren können.

Während Michael Fehr seine spannenden Sichtweisen ausführt, wird rege gekommen und gegangen. Dabei knarrt der Boden des Künstlerhauses, als wäre er mindestens hundert Jahre alt, und verschluckt die Sätze des Autors kurzzeitig. Auch die Stühle stöhnen, und spätestens als jemand aus den vorderen Reihen laut Fotos zu schiessen beginnt, sehnt man sich nach Ruhe und fühlt sich dem Ich-Erzähler aus «Der hundertjährige Holzboden» plötzlich sehr nahe.

Man kann nicht fragen:
«Erzähl mal»

Draussen scheint die Sonne, drinnen sitzt Lika Nüssli beim Werkstattgespräch zur Jugend- und Kinderliteratur für Erwachsene zwischen Palmen. Das erinnert ein wenig an Ferien. Worüber sie in ihrem Buch Starkes Ding. Die Geschichte eines Verdingkindes, basierend auf den Erinnerungen meines Vaters spricht, ist aber das Gegenteil von unbeschwert.

Eigentlich trug Nüssli die Idee zum Buch schon eine Weile mit sich herum. Sie war jedoch der Meinung, dass sie zuerst selbst reifen musste um der Geschichte ihres Vaters gerecht zu werden. Zu Beginn der Corona-Pandemie war es schliesslich soweit. Nüssli hielt sich gerade in Belgrad auf. Während der Ausgangssperre fing sie an, ihren Vater anzurufen, der sich in der Schweiz in einem Altersheim ebenfalls im Lockdown befand. Durch diese Gespräche merkte sie, wie fragil das Leben ist und dass sie zu spät angefangen hat, ihrem Vater Fragen über seine Zeit als Verdingkind zu stellen. «Das Erlebte ist jedoch so gross, dass man jemanden nicht einfach so fragen kann: ‹Erzähl mal!'». Nüssli stellte deshalb ein Konzept mit Fragen zusammen, welche die Türe zu Erinnerungen öffnen sollten. Wieder zu Hause in der Schweiz führten die beiden die Gespräche fort.

«Es war so wie ein Schatz, den ich gehoben habe», meint Nüssli über die immer zahlreicheren Kindheitserinnerungen, die ihr Vater hervorholte. Ihr ist bewusst, dass sie Verantwortung für die Geschichte ihres Vaters trägt und will deshalb sorgfältig damit umgehen. Durch den Prozess hat sie viel über ihn erfahren und ist dankbar dafür, dass sie beide über eine – wie sie es nennt – «Sprachbrücke» wieder zusammengefunden haben. Aber auch mit anderen findet sie sich. Seit Erscheinen des Buches kommen immer wieder Menschen auf sie zu, deren Väter ebenfalls Verdingkinder waren oder die nun selbst etwas über den eigenen Vater erfahren möchten. So reichen die Diskussionen so über das Buch hinaus.

Die Bilder im Buch hat Nüssli selbst gezeichnet und sich dabei von Senntumsmalerei – Appenzeller und Toggenburger Bauernmalerei – inspiriert. Jedoch hat sie diese in Kinderzeichnungen umgewandelt. Gleichzeitig war es der Autorin wichtig, in den Bildern die Zeit der 1950er Jahre anklingen zu lassen. Die schwarz-weissen Zeichnungen, die auch skizzenhafte Elemente aufweisen, machen die Notlage der Verdingkinder deutlich. Dennoch ist sie der Meinung, dass Text eine Geschichte besser vermitteln kann als Bilder, die unterschiedlich interpretierbar sind.

Die Frage aus dem Publikum, ob sie auch Interviews zusammen mit ihrem Vater gegeben hat, bejaht Nüssli lachend. Ihr Vater habe es genossen und den Eindruck erweckt, als habe er schon immer Interviews gegeben. Zudem nütze er die Gelegenheiten jeweils, ihre Darstellungen im Buch zu korrigieren oder sogar noch weitere Geschichten zu erzählen. Ihre Zeichnungen fände er jedoch wild und er sei auch der Meinung, dass das Buch zum Preis von 35 Franken viel zu billig sei.

« Ma fille, la cigogne, s’écrase sur une vitre de train et reste étourdie sur la voie »

Cette discussion entre les poètes Eva Maria Leuenberger, Simone Lappert et Rolf Hermann m’hypnotise et me laisse sur la chaise du théâtre avec un grand étourdissement! Les questions se multiplient et je m’abandonne à cette atmosphère de vertige. L’événement intitulé «Achtung, Lyrik !», dédié à adoucir la peur de la poésie, a parlé de jardin, de liberté, de cigognes, des grand-mamans, de marais et un peu de poésie quand même.

«Von Reimen halte ich mich fern» («Je me tiens à distance des rimes»), affirme Simone Lappert et la grand-mère de Rolf s’étonne: «Das sind gar keine Gedichte, das reimt sich gar nicht» («Il n’y a pas de rimes, ce ne sont pas des poèmes !»).

Mais les trois auteurices ne se sentent pas trahir la poésie en abandonnant les formes métriques. La poésie ne se résume pas aux rimes, ni aux formes métriques. «Ich denke dass die Lyrik der grösste Freiraum in der Literatur ist» («Je pense que la poésie est le plus grand espace de liberté dans la littérature»), assume Simone Lappert. De son côté, elle écrit même avec les oreilles («Ich schreibe mit den Ohren») et Eva Maria Leuenberger entend des voix en lisant: «Ich höre ihre Stimme und ich brauche den Dialog mit ihr». Et au final, on a le droit d’être dépassée par la poésie (« Wir dürfen überfordert sein»).

Je pars de la salle en laissant résonner les mots cryptés de Rolf Hermann qui ont fait rire la salle entière: « Meine Tochter fliegt in ein Zugfenster und liegt benommen auf dem Gleis ».

Et la question qui étourdit mes pensées depuis toute à l’heure:

«Wie klingt Mond?» («Quelle musique fait la lune?»)

Längst fällige Entstaubung

Achtung, Lyrik! lautet der Titel der Veranstaltung, die am Samstagvormittag zahlreiche Besucher*innen in den Solothurner Theatersaal gelockt hat. Doch warum muss man vor Lyrik überhaupt gewarnt werden? Diese und viele weitere Fragen beantworteten Eva Maria Leuenberger, Rolf Hermann und Simone Lappert im Podiumsgespräch.

Dass Lyrik heutzutage bei vielen eher Angstzustände statt sehnsuchtsvolle Phantasien auslöst, ist eine traurige Tatsache. Nicht ganz unschuldig daran sind wohl jahrelange pädagogische Verfahren, die das Wissen von Metrik und das Auswendiglernen von schwierigen Gedichten voraussetzten. Diese Beobachtungen konnten die geladenen Podiumsgäste ebenfalls mit uns teilen. Nichtsdestotrotz konnten sie sich von Lyrik begeistern lassen und überraschten das Publikum mit lyrischen Neuerscheinungen, die bei den Leser*innen grosses Gefallen auslösten. Alle drei boten dem Publikum tiefe Einblicke in ihr lyrisches Schaffen, ihre Ideen und ihre Ausführungen. Obwohl ihre Gedichte inhaltlich und formell sehr unterschiedlich sind, haben doch alle drei mindestens etwas gemeinsam: Das Ziel, die lyrische Welt aus ihrer kleinen Blase ausbrechen zu lassen, sodass alle daran teilhaben können. Dadurch sollte die Angst vor Lyrik bei möglichst vielen genommen werden. 

Erreichen wollen sie dieses Ziel, indem sie uns eben nicht klassische Lyrik im traditionellen Sinne bieten, sondern experimentell und unvoreingenommen an die Sache herangehen. So entstehen beispielsweise sprachliche Mischungen bei Hermann, musikalische Exkurse bei Lappert oder sogar biographische Gedichtessays bei Leuenberger. Die Endergebnisse sind dann Simone Lapperts längst fällige verwilderung. gedichte und gespinste, Rolf Hermanns In der Nahaufnahme verwildern wir: Gedichte und Eva Maria Leuenbergers kyung. Sie alle tragen dazu bei, dass sich der Begriff der Lyrik heute in einem weiteren Sinne verstehen lässt und in der Schweizer Literaturlandschaft Akzeptanz findet. 

Eine klare Leserschaft adressieren alle drei Autor*innen beim Schreibprozess nicht. Vielmehr sehen sie ihre Aufgabe darin, ihre Gedichte so zu schreiben, dass jede*r sie auf die eigene Art und Weise verstehen kann. Denn, wie Simone Lappert festgehalten hat, bildet die Lyrik den grössten Freiraum der Literatur. 

Im Unklaren liessen uns jedoch alle drei darüber, ob wir uns auch künftig auf Gedichte von ihnen freuen dürfen. Sicher ist aber, dass sie mit ihren Neuerscheinungen frischen Wind in die Schweizer Literaturlandschaft gebracht haben. Es ist zu hoffen, dass sich in Zukunft auch noch viele weitere Autor*innen an Lyrik wagen.

Von Michelle Agatiello und Simona Savic

Kulturschaffen – «und, schaffsch es?»

«Morgenturnen unter dem Kronleuchter» nannte Sarah Elena Müller ihren Spoken Word Auftritt im neoklassischen Festsaal des Hotels La Couronne. Trotz der frühen Morgenstunde war jeder Platz besetzt und das durchmischte Publikum von Minute eins an wach. Sarah Elena Müller hat mit ihrer Performance der Texte aus ihrem akutellen Buch Culturestress. Endziit isch immer scho inbegriffe die Fassade des prunkvollen Saals zum Bröckeln gebracht.

Culturestress. Endziit isch immer scho inbegriffe setzt sich auch verschiedenen kurzen Texten zusammen, die ursprünglich als Zeitungskolumnen in Der Bund veröffentlicht wurden. Mit kritischem, dunkel gefärbtem Blick werden Alltagsszenen erzählt, die auf kurzweilige, aber ernsthafte Art zugleich Ambivalenzen in den gesellschafltichen Strukuren entlarven. Mit dem Titel Culturstress referiert Müller auf die Erzähltechnik des stream of consciousness (Bewusstseinsstrom), mit der sie regionale und globale Ereignisse perspektiviert.

Dass Sarah Elena Müller als Kunstschaffende nicht nur im literarischen Bereich, sondern auch interdisziplinär mit Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater arbeitet, spiegelt sich auch im Umgang mit den Texten. Die ausgewählten Texte wurden nicht nur vorgelesen, sondern mit elektornischen Beats, Gesang, Stimmenverzerrer und Körpereinsatz performt. Durch die Präsenz und Überlagerung der verschiedenen Medien auf der Bühne gewinnen die Texte eine bemerkenswerte Lebendigkeit, die Dynamik zieht das Publikum an den Abgrund der Endzeit. Mit langanhaltendem Applaus wird die herausfordernde Performance gewürdigt.

Sarah Elena Müller ist Gründungsmitglied des feministsichen Autorinnenkollektivs RAUF. Nächstes Jahr erscheint ihr erster Roman Die verlorene Tochter. Er handelt von «einem interfamiliären Drama, das kollektiv verdrängt wird» und man darf gespannt sein, was sie aus dieser Erzählgattung herausholt. Danach könne man sie jedenfalls nicht mehr als «witzig und frech» abtun.

In einem der aufgeführten Texte versucht die Enkelin der Grossmutter zu erklären, was «Kunstschaffen» heisst. Darauf fragt die Grossmutter: «Und, schaffsch es?» Die Enkelin nickt – und das Publikum ebenfalls. Sarah Elena hat den Weltuntergang besungen und gezeigt, was man bis dahin alles noch machen kann. Der Besuch ihrer Performance gehört definitiv dazu – daher hätte es sich auch gelohnt, ihren Auftritt von 10 Uhr morgens auf die Primetime zu verlegen.

Ein Beitrag von Lara Buchli & Rahel Staubli