Wie aus Frustration ein Supergerhard entstand

Obwohl die Literaturtage bald zu Ende gehen, finden sich zahlreiche Besucher im Theatersaal ein. Anaïs Meier liest aus ihrem ersten Roman Mit einem Fuss draussen vor. Die Erwartungen sind hoch.

Meier setzt sich und nimmt mit ihrer Präsenz sofort den ganzen Saal für sich ein. Als sie zu sprechen beginnt, unterlegt plötzlich ein Brummen über den Lautsprecher ihre Worte. Das wirkt dramatisch. Im Nachhinein kann man dieses Brummen durchaus als Vorankündigung zu einer göttlichen Unterhaltung deuten. Die Autorin lebt bei der Lesung den Charakter ihrer Hauptfigur Gerhard. Supergerhard, wie er sich auch gerne selbst nennt, ist wie sie im besten Alter, wie Meier mehrfach betont. Ihre Mimik und Tonfall machen den schrulligen Protagonisten auf der Bühne lebendig. Die Zuschauer:innen lachen immer wieder über die Aussagen oder Beobachtungen von Gerhard, der eben nicht so spricht, wie man es aus Romanen gewöhnt ist. Und deshalb hat Meier dieses Jahr auch den Förderpreis Komische Literatur erhalten.

Wie ist Meier überhaupt auf die Idee zu diesem Roman gekommen? «Meine besten Jahre habe ich an Ludwigsburg verschwendet», meint sie trocken. Ihr wurde während dem Studium gesagt, dass sich niemand für die «Asozialen» (ein Wort, mit dem sie absolut nicht einverstanden ist) interessiere. Da fehle die Fallhöhe. Ihr Kommentar dazu: «Fallhöhe? Who cares! Mir geht es am A*** vorbei, wie es einem Professor in seiner Lebenskrise geht.» Probleme sind bei Menschen wie Gerhard, die am Rande der Gesellschaft stehen, viel existenzieller.

Darum hat Meier auch Gerhard erschaffen: «Gerhard war schon immer ein bisschen ein Spezieller. Auch in der Schule.» Obwohl er als weisser, heterosexueller Mann zu den Privilegierten gehören würde, steht er dennoch am Rande der Gesellschaft. Diese Zusammensetzung lenkt weniger vom Grundprinzip Ausgrenzung ab, als wenn die Hauptfigur auch noch eine Frau, people of color oder homosexuell gewesen wäre. Denn wäre es bei Gerhard besser gelaufen, könnte er jetzt auch Banker sein. Meier ist der Ansicht, dass das Phänomen der Ausgrenzung im menschlichen Wesen verankert ist. Eine Art Herdendenken bei Menschen, welches Andersartige ausschliesst: «Menschen benehmen sich daneben.» Es ist ihr darum wichtig, dass Gerhard nicht angestarrt wird, seine Würde verliert oder man über ihn lacht. Humor hilft aber dabei, aufzustehen und weiterzumachen.

«Das steht mir nicht zu»

Zwanzig Minuten vor Beginn der Lesung reicht die Schlange bis weit die Treppe zum Landhaussaal hinunter. Und das, obwohl draussen die Sonne scheint. Julia Franck liest aus ihrem neuesten Werk Welten auseinander vor, bei dem absichtlich das Label «Roman» fehlt.

Denn es handelt sich um Autofiktion. Autofiktionale und reale Erlebnisse werden umkreist, die Dramaturgie ist durch Motive geprägt. Die Autorin selbst findet Autobiografien nämlich langweilig. Wer will denn schon alles nochmals in geschriebener Form erleben? Bereits als Kind braucht Franck die Flucht in die Literatur als einen schnellen Weg, um Figuren aus sich selbst zu erschaffen. Im Buch vermischen sich also wahre Erlebnisse von Franck mit den erfundenen der Erzählerfigur Julia.

Zwei Themen beherrschen das Gespräch und die Lesung. Einerseits geht es um die starken Frauenfiguren, die sich den Erwartungen der Gesellschaft ihrer Zeit widersetzen. Die Grossmutter beispielsweise ist in den 1930er Jahren als Steinmetzin tätig und studiert an der Kunsthochschule, bis sie aufgrund ihrer jüdischen Abstammung ins Exil nach Italien muss. Dort verliebt sie sich und bringt zwei uneheliche Kinder auf die Welt. Als ihr Liebster im Krieg fällt, muss sie sich mit den Kindern alleine durchschlagen. Die Grossmutter legt auch später noch grossen Wert darauf, dass man sich nützlich macht. Das prägt die Enkelin. Aber erst als Julia selbst früh ihre grosse Liebe verliert, finden Grossmutter und Enkelin wieder zueinander. Verlust gehört quasi zur Familiengeschichte und macht Grossmutter, Mutter und Enkelin zu «Schwestern im Geiste».

Das zweite grosse Thema ist die Armut und Unzulänglichkeit. Als Julia und ihre Zwillingsschwester acht Jahre alt sind, wendet sich die Mutter von der Grossmutter ab und flieht von Ostberlin in den Westen. Aufgrund ihrer Armut kann die Familie nur auf einem verlotterten Bauernhof leben, auf dem die Mutter alles wiederverwertet. Um ihre Kinder kann sie sich hingegen nicht kümmern. Die beiden Mädchen klettern barfuss auf Bäume und tragen kurze Hosen. Obwohl sie Deutsche sind, werden sie von den Anwohnern als Exotinnen wahrgenommen. Für Julia ist das eine schwierige Zeit, in der sie Schande, Armut und Ausgrenzung erlebt.

Franck reflektiert über den Unterschied zwischen Armut im Westen und Armut im Osten. Die Anonymität der Grossstadt Ostberlin fehlt und macht die Unzulänglichkeit und Scham der jungen Julia deutlich. «Das steht mir nicht zu», denkt Franck als Kind oft. Schon als Säugling kommt sie in verschiedene Pflegefamilien an verschiedenen Orten. Franck ist deshalb der Ansicht, dass sie schon vor dem ersten Bewusstsein ein Fremdheitsgefühl entwickelt hat. Dieses führe dazu, dass sie sich stets nützlich machen und nicht auffallen will. So ist sie auch dankbar, dass die Sozialhilfe ihr schliesslich ein Studium ermöglicht. Das ist es schliesslich, was Francks Werk ausmacht. Im Buch ist trotz allem keinerlei Bitterkeit zu finden. Franck tritt in die Fussstapfen ihrer Vorfahrinnen und ist selbst eine starke Frau.

Über die Herausforderung, hemmungslose Sexszenen zu übersetzen

Ursula Giger – Übersetzerin im Porträt

Zuerst wollte Ursula Giger ablehnen. Da lag dieses 2010 erschienene schwedische Buch vor ihr, dass sie ins Deutsch übersetzen sollte. Gib ihnen, wovon sie träumen des schwedischen Schriftstellers Eli Levén ist ein hartes, grelles, aber auch wichtiges Buch. Es handelt von einem jungen Mann in einem Stockholmer Vorort der 90er Jahre, der sich zwischen den Geschlechtern fühlt. Um zu überleben, verkauft er seinen Körper und nimmt sich, was er kann. Dennoch ist er auf der Suche nach Liebe und sich selbst.

Gerade die expliziten Sexszenen empfindet Giger zunächst als abschreckende Übersetzungshürde. Sie gibt auch zu, dass sie vor der ihr fremden Transgender-Thematik Respekt hat. Gleichzeitig kann sie sich aber nicht vor der Komplexität und Lyrizität des Buches verschliessen. Die bildstarken, wenn auch teils kitschigen Szenen sprechen alle Sinne an. Giger nennt diese Stellen «Blumen, die aufgehen». Sie muss sich selbst verdeutlichen, dass «Übersetzen» nicht «Verstehen» bedeutet, denn es geht um die Sprache. Übersetzer von Krimis müssen schliesslich auch nicht die Mörder im Buch verstehen. So sieht sie das Projekt als eine Herausforderung, der sie sich schliesslich gerne stellt. Ihr kommt dabei zugute, dass sie selbst in den 90er Jahren in Stockholm gelebt hat und so zu gewissen Szenen Berührungspunkte finden kann.

Giger, die auch viele isländische Bücher übersetzt, will jeweils die Orte und Szenen kennen, die in den zu übersetzenden Texten vorkommen. So ist sie neben ihrem Lehrauftrag für Isländisch an den Universitäten Zürich und Basel auch als Trekking-Guide in Island und Grönland unterwegs. Die Übersetzungstätigkeit ist ihrer Meinung nach kein Hobby, sondern nimmt Zeit in Anspruch. Jeder Text benötigt intensive Recherche und Nachfragen. Giger muss den Text zur Seite legen, überlegen und alles sacken lassen. Gerne nimmt sie dann auch die Hilfe ihres Nachbarn, eines Schweden, in Anspruch, mit dem sie Levéns Wortschöpfungen, die im Buch immer wieder vorkommen, diskutiert und allfällige zweite Ebenen der Wörter erforscht. Schnell ist ihr deshalb klar, dass der schwedische Titel (auf Deutsch etwa: «Du bist die Wurzel zu meinen Füssen, die die Welt an ihrem Platz hält») nicht passt. Zu unsexy, zu lang, das funktioniert in der Schweiz nicht. Der deutsche Titel Gib ihnen, wovon sie träumen wurde schliesslich von Levén selbst ausgesucht.

Obwohl das Buch schon etwas älter ist, scheint das Thema aktueller denn je. Die Sprachlosigkeit der Hauptfigur zeigt sich dabei auch in deren Beschreibungsnot und Überforderung im Changieren zwischen Mann und Frau. Ein innerer Kampf um Identität, den jede:r anders führt und der «ins Fleisch hinein geht».

Man kann nicht fragen:
«Erzähl mal»

Draussen scheint die Sonne, drinnen sitzt Lika Nüssli beim Werkstattgespräch zur Jugend- und Kinderliteratur für Erwachsene zwischen Palmen. Das erinnert ein wenig an Ferien. Worüber sie in ihrem Buch Starkes Ding. Die Geschichte eines Verdingkindes, basierend auf den Erinnerungen meines Vaters spricht, ist aber das Gegenteil von unbeschwert.

Eigentlich trug Nüssli die Idee zum Buch schon eine Weile mit sich herum. Sie war jedoch der Meinung, dass sie zuerst selbst reifen musste um der Geschichte ihres Vaters gerecht zu werden. Zu Beginn der Corona-Pandemie war es schliesslich soweit. Nüssli hielt sich gerade in Belgrad auf. Während der Ausgangssperre fing sie an, ihren Vater anzurufen, der sich in der Schweiz in einem Altersheim ebenfalls im Lockdown befand. Durch diese Gespräche merkte sie, wie fragil das Leben ist und dass sie zu spät angefangen hat, ihrem Vater Fragen über seine Zeit als Verdingkind zu stellen. «Das Erlebte ist jedoch so gross, dass man jemanden nicht einfach so fragen kann: ‹Erzähl mal!'». Nüssli stellte deshalb ein Konzept mit Fragen zusammen, welche die Türe zu Erinnerungen öffnen sollten. Wieder zu Hause in der Schweiz führten die beiden die Gespräche fort.

«Es war so wie ein Schatz, den ich gehoben habe», meint Nüssli über die immer zahlreicheren Kindheitserinnerungen, die ihr Vater hervorholte. Ihr ist bewusst, dass sie Verantwortung für die Geschichte ihres Vaters trägt und will deshalb sorgfältig damit umgehen. Durch den Prozess hat sie viel über ihn erfahren und ist dankbar dafür, dass sie beide über eine – wie sie es nennt – «Sprachbrücke» wieder zusammengefunden haben. Aber auch mit anderen findet sie sich. Seit Erscheinen des Buches kommen immer wieder Menschen auf sie zu, deren Väter ebenfalls Verdingkinder waren oder die nun selbst etwas über den eigenen Vater erfahren möchten. So reichen die Diskussionen so über das Buch hinaus.

Die Bilder im Buch hat Nüssli selbst gezeichnet und sich dabei von Senntumsmalerei – Appenzeller und Toggenburger Bauernmalerei – inspiriert. Jedoch hat sie diese in Kinderzeichnungen umgewandelt. Gleichzeitig war es der Autorin wichtig, in den Bildern die Zeit der 1950er Jahre anklingen zu lassen. Die schwarz-weissen Zeichnungen, die auch skizzenhafte Elemente aufweisen, machen die Notlage der Verdingkinder deutlich. Dennoch ist sie der Meinung, dass Text eine Geschichte besser vermitteln kann als Bilder, die unterschiedlich interpretierbar sind.

Die Frage aus dem Publikum, ob sie auch Interviews zusammen mit ihrem Vater gegeben hat, bejaht Nüssli lachend. Ihr Vater habe es genossen und den Eindruck erweckt, als habe er schon immer Interviews gegeben. Zudem nütze er die Gelegenheiten jeweils, ihre Darstellungen im Buch zu korrigieren oder sogar noch weitere Geschichten zu erzählen. Ihre Zeichnungen fände er jedoch wild und er sei auch der Meinung, dass das Buch zum Preis von 35 Franken viel zu billig sei.

Unser Team in Solothurn:
Nathalie Fischer

Nathalie kommt zum ersten Mal an die Solothurner Literaturtage. Dabei war sie schon als Kind ein Bücherwurm und hat oft erst nachts um 02:00 die Leselampe ausgeschaltet. Ihr Herz schlägt seit damals für Fantasy, Science Fiction, historische Romane und Krimis. Einer guten Prise Humor und schrulligen Charakteren kann sie ebenfalls nicht widerstehen. Deshalb freut sie sich vor allem auf das Interview mit Anaïs Meier und hofft, mehr über die Ente und Supergerhard zu erfahren. In Solothurn will sie die Gegenwartsliteratur entdecken und in Gesprächen ihren Horizont erweitern.

Nathalie studiert Geschichte und Deutsche Literatur TAV (Theorie – Analyse – Vermittlung) im Master an der Universität Zürich.