Auf der Strasse lauert Gefahr

Bisher haben wir ausschliesslich über die literarischen Veranstaltungen der Solothurner Literaturtage berichtet. Das liegt selbstverständlich nahe. Aber so viel, wie man im deutschen Sprachraum davon redet, dass «der Weg das Ziel» sei, wäre es nur konsequent, den Blick auch mal dem Weg zwischen den Veranstaltungen zuzuwenden.

Auf den schmalen Gassen, die die einzelnen Schauplätze der Solothurner Literaturtage miteinander verbinden, bewegen sich je nach Tageszeit wogende Massen von Fussgänger:innen. Umso mehr erstaunt es, dass sich eine grosse Anzahl von Velofahrer:innen dagegen entscheidet, von ihrem Transportmittel zu steigen und sich in den Strom der Fussgänger:innen einzugliedern. Liegt es daran, dass sie ihr Velo so sehr lieben, dass sie keinen Moment vom Sattel getrennt sein wollen? Wenn ja, so stellt sich die Folgefrage: Radeln sie auch in ihrer Wohnung umher? Nehmen sie das Velo mit unter die Dusche und abends ins Bett? 

Oder ist der Grund fürs unterlassene Absteigen inmitten der Fussgänger:innen, dass sie die mühsame Radfahrer-Mentalität einverleibt haben? Diese Einstellung, die ihnen eingibt, die Könige der Strassen zu sein? Eine Hegemonie zu errichten über Wege, die eigentlich einem anderen Transportmittel zugedacht wären, und das mit einem ebenso bewunderswerten wie verabscheuungswürdigen Selbstbewusstsein? 

Was auch immer es sei: Die Velofahrer:innen sorgen jedenfalls für die sportliche Betätigung, die dem einen oder anderen Literaturfan in den Gassen mit Sicherheit fehlt. Sie zwingen die Fussgänger:innen alle fünf Meter zu athletischen Ausweichmanövern und Sprüngen, sodass bei der nächsten Literaturveranstaltung mindestens ein:e Fussgänger:in von sieben (dies eine grobe nicht-empirische Schätzung) im eigenen Schweiss badet und während der Veranstaltung mehr auf die brennende Wadenmuskulatur fokussiert ist als auf die Literaturschaffenden auf der Bühne.

«Mängisch hani Iifäll»

Wenn man mit zwei Minuten Verspätung die vielen Treppen zum Gespräch «Im Bett mit Michael Fehr» erklimmt, muss sich die Orientierung lediglich am Klang der Stimmen ausrichten. Und auch wenn man dann in einer Ecke ohne Blick aufs Geschehen auf dem Fussboden sitzt, wird die Wahrnehmung hauptsächlich aufs Gehör beschränkt. Was erst unerfreulich scheint, stellt sich schnell als bereichernd heraus: Denn wie könnte man besser in Michael Fehrs Alltagswahrnehmung eintauchen und seinen nahezu spirituellen Ausführungen zur Literatur und Bildern folgen, als mit dem reduzierten Sehsinn, der auch ihn zeichnet?

Wenn er erwache, sagt Michael Fehr, bleibe er häufig noch für einen Moment liegen, um sich zu sammeln. In der Senkrechte fallen nämlich die Erinnerungen an seine Träume sofort ab, und weil er sie gerne in seinem Schreiben verarbeitet, gilt es, sie festzuhalten, solange sie noch da sind. Auch gestört will er nicht werden, wenn er dann aufgestanden ist. Sonst wird nämlich ins Unbefleckte, das ihm nach dem Schlafen anhaftet und beim Kreieren von Geschichten sehr hilfreich ist, «einfach reingeregnet».

Das Bett ist im Gespräch steter Ausgangspunkt der literarischen Diskussionen – und das nicht ohne Grund: Auch in der Erzählung «Der hundertjährige Holzboden» aus Fehrs jüngstem Buch «Hotel der Zuversicht» wird dem Bett eine zentrale Stellung zugewiesen. Es ist der Ort, an dem man die Ruhe geniessen kann, geschützt vor dem turbulenten Leben fernab der Bettkante. Michael Fehr kennt sie selbst, diese beiden Welten. Und er geniesst beide, braucht zum Kreieren aber vor allem die Ruhe. Bei der Ruhe höre man auch den Sound besser, aus dem sich Geschichten ergäben, sagt Fehr. Es gäbe nämlich, zitiert er den Meister eines nepalesischen oder indischen Klosters, einen Sound auf der Welt, der für sich selbst existiert und nicht gemachter Natur sei. Wenn man ihm zuhört, diesem Sound, findet man zur Manifestation, die der Mensch dann mit seinen feinen Werkzeugen in Artikulation verwandeln kann.

Bei Fehr wirken die kurzen Geschichten, die sich aus der Artikulation ergeben, sehr visuell, obwohl er selbst nur eingeschränkt sieht. Das liege bis zu einem gewissen Grad daran, dass wir immer das begehren, was wir nicht haben, sagt er. Dort kann er hineinträumen, was er möchte, ohne stark von der Realität beeinflusst zu werden. Er setzt auch auf die Bildkraft, die er generiert, wenn die Enden seiner Geschichten vorschnell eintreten. Die kurzen Erzählungen sollen Anfänge sein, aus denen die Lesenden bei Bedarf eine fertige Geschichte imaginieren können.

Während Michael Fehr seine spannenden Sichtweisen ausführt, wird rege gekommen und gegangen. Dabei knarrt der Boden des Künstlerhauses, als wäre er mindestens hundert Jahre alt, und verschluckt die Sätze des Autors kurzzeitig. Auch die Stühle stöhnen, und spätestens als jemand aus den vorderen Reihen laut Fotos zu schiessen beginnt, sehnt man sich nach Ruhe und fühlt sich dem Ich-Erzähler aus «Der hundertjährige Holzboden» plötzlich sehr nahe.

Grenzwärtig

Ein Buch, das das Zeug zum Klassiker hat: So stellt Moderatorin Nadja Brügger Ariane Kochs Debütroman «Die Aufdrängung» vor. Die junge Baslerin schrieb bisher vor allem fürs Theater und im Kollektiv. Dieser erste Soloflug ist ein Theaterbesuch zwischen zwei Buchdeckeln. So ambig diese Beschreibung klingt, so vielseitig sind auch die Themen, die der Roman streift, und so dehnbar die Aussagen, die er macht.

In einer verstaubten Kleinstadt lebt die Ich-Erzählerin in einem riesigen Haus mit zehn Zimmern, von denen sie nur neun bewohnt. Sie scheint sich nichts mehr zu wünschen, als dieses statische Leben endlich zu verlassen. Dennoch hat sie für diesen Wunsch noch nie einen Finger gerührt, und so ist sie trotz ihres jungen Alters zu einem regelrechten Fossil geworden. Als sie einen geheimnisvollen Gast bei sich aufnimmt, der ebenso gut Mensch wie Tier sein könnte, beginnt sich das altbekannte Umfeld plötzlich zu wandeln. Nicht nur die Zitronen verlieren ihren Geschmack, auch Kälte und Krankheit halten Einzug. Der Gast bringt die langersehnte Veränderung in ihre Welt. Lang totgeglaubten Dingen haucht er mit seiner Präsenz pulsierendes Leben ein. Trotzdem entwickelt die Erzählerin eine wachsende Abneigung gegenüber dem Auswärtigen und versucht, ihn mit einem starren Regelwerk in seinem Aktionsradius einzuschränken. Und so stellt sich zunehmend die Frage, wer sich hier wirklich dem anderen aufdrängt: Gast oder Gastgeberin? Mit erstaunlich viel Witz wendet sich Ariane Koch der durchaus tragischen Thematik von Gastlichkeit und Ablehnung gegenüber dem Fremden zu. Damit greift sie einen Diskurs auf, der in unserer Gesellschaft den Status von ständiger Omnipräsenz innehat. Mit der gewählten Figurenkonstellation und Szenerie schafft Koch eine Bühne für Fragen nach Migration, Integration und Machtverhältnisse.

Als die Moderatorin den Bann des Zuhörens bricht, fällt auf, dass auch das Publikum gerade in einen begrenzten Raum der Vorstellung und Bedeutung geführt wurde. Denn durch die Macht, als einzige über eine Stimme zu verfügen, hat die Ich-Erzählerin die absolute Kontrolle darüber, wie Lesende die erzählte Welt wahrnehmen. Doch die Grenzen sind wie diejenigen im Buch flexibel und lassen sich überwinden. Sobald sich die Leser*innenschaft bewusst wird, dass sie die Kontrolle über den Deutungsraum hat, fallen die Schranken. Die Geschichte lässt sich in diverse Kontexte setzen und nimmt dadurch – wandelbar, wie sie ist – immer wieder neue Gestalten an.

Zoé Richardet, Julia Brunner

Zur Siestazeit

Einige lagern an diesem heissen Mittag an der Aare die Beine hoch, andere finden sich in der Säulenhalle ein, um mehr zu erfahren über Thomas Duarte und seinen Überflieger-Erstling «Was der Fall ist».

Thomas Duarte schreibt, als hätte er nie etwas anderes gemacht. «Was der Fall ist» ist spannend, verschachtelt und geprägt von viel Humor, der Lacher auslöst, die in der Säulenhalle hallen. Der Roman liest sich wie eine moderne Version von 1001 Nacht: Ein Mann erzählt eine Nacht lang seine Geschichte auf einem Polizeipräsidium in der Hoffnung auf mehrere Kaffees und ein Dach über dem Kopf, das er seit Kurzem nicht mehr hat. Der Protagonist, so stellt sich heraus, ist ein «sanfter Verweigerer», zu dem Lesende ein ambivalentes Verhältnis aufbauen. Einerseits mag man ihn intuitiv, andererseits unternimmt er Handlungen, die einem gegen den Strich gehen. Diese Ambivalenz sei ihm wichtig gewesen, sagt Duarte.

Thomas Duarte liest auch vor, als habe er nie etwas anderes gemacht. Ein Schmunzeln auf den Lippen und authentisch, als wäre er selbst die Hauptfigur, der er seine Stimme leiht, gewährt er Einblicke in seine Erzählung. Fürs Vorlesen hat er auch seinen Text noch einmal bearbeitet, Abschnitte gestrichen und Wörter verändert, damit sich daraus eine eine einzigartige Live-Version ergibt. Das schreie geradezu nach einem Hörbuch oder einer Radio-Lesung, spricht der Moderator aus, was das Publikum denkt.

Dabei war Duarte nach seinem Studium jahrzehntelang alles andere als ein Autor, hat als Tramchauffeur, kaufmännischer Angestellter und im Büro gearbeitet. Am Anfang des Romans sei ein Fördergesuch gestanden, das er erfunden und niedergeschrieben habe. Nachdem er sich zehn Jahre lang mit dem daraus entstehenden Romanmanuskript auseinandergesetzt hatte, schoss es noch vor seiner Veröffentlichung durch die Decke. 2020 gewann Duarte den Studer/Ganz-Preis fürs beste unveröffentlichte Buch, 2021 wurde er mit seinem Roman für den Schweizer Buchpreis nominiert. Ein neues Buch, gibt er Auskunft, stehe inzwischen in den Startlöchern. Zumindest habe er eine Idee und den Drang, etwas Weiteres zu schreiben. In freudiger Erwartung darauf bewegt sich das schwitzende Publikum auf die Ausgänge zu. Trotz der Hitze wäre es nirgendwo lieber gewesen als genau hier, in der Säulenhalle mit Thomas Duarte.

Unser Team in Solothurn:
Zoé Richardet

Zoé studiert im Master Kulturanalyse und TAV (Theorie – Analyse – Vermittlung) an der Universität Zürich. Gerne führt sie abendfüllende Diskussionen über Literatur und Film, über die Gesellschaft, in der wir leben, und über Vornamen, Klarsichtfolie und die Haptik von Vögeln.

In der Literatur begeistert sie sich insbesondere dafür, was Fantasie und Sprache aus dem Unscheinbaren und Kleinen schaffen können. Deshalb ist sie an den Solothurner Literaturtagen besonders gespannt auf Michael Fehrs skurrile Kurzgeschichten und auf die Debütromane von Thomas Duarte und Ariane Koch. Und natürlich freut sie sich auch auf abendfüllende Diskussionen. Am liebsten mit den Füssen in der Aare und einem Getränk in der Hand.